Die Mitte flüchtet über die „Brandmauer“, hinter der eine mutlose CDU und eine anmaßende SPD kauern. Während erstere nicht einmal einen Imagefilm hinbekommt, beschimpft zweitere ehemalige Wähler per „Rechtsextremismus“-Studie – Wähler, die man selbst verprellt hat.
Den ehemaligen Volksparteien CDU und SPD wird zunehmend unwohl im eigenen Land und im dünnen Gewand der Selbstverortung. Beide Parteien verspüren ein deutliches Schwinden an Legitimation und suchen die Nähe (CDU) oder Distanz (SPD) zur „Mitte“ einer deutschen Befindlichkeit, die den Parteien aus unterschiedlichen Gründen unbequem und unheimlich erscheint. Allem, was in der Volksseele linksfremd brennt, misstraut die SPD zutiefst und belegt es mit Bannfluch. Die CDU, selbst vom Stigma bedroht, wünscht sich – zumindest an der Basis und in den Kommunen –, es ginge ganz ohne Fremdeln, traut sich aber nicht. Mit dem rechten Ohr verweilt die Partei direkt an der Brandmauer, jenseits derer Bürger „schamlos“ frei über Migration, Klima, Deutschland, Europa, Wohlstand, Gendern und Wokeness denken und reden (dürfen).
Man versucht halbherzig zu klären, woran es liegt, dass sich in weiten Teilen des Souveräns ein Vertrauensverlust gegenüber Parteien und ihrer Variante von Demokratie festgesetzt hat, vertauscht jedoch bei der Fehleranalyse Ursache und Wirkung. Erstarrte Politikposen, ausgestreckte Zeigefinger, arrogante Deutungshoheit und Dünkel, ideologische Seilschaften, Kumpanei, Freiheitsfeindlichkeit, dazu Versagen und Inkompetenz, aber eine unbändige Lust, gerade so weiterzumachen, wie man es die letzten Jahre ausbaldowert hat, sogar Verfehlungen und ihre Vertuschungen weiter zu betreiben – dies schadet der Demokratie in erster Linie, bevor der Wähler überhaupt anfängt zu verstehen oder sich der Nebenwirkungen diverser (gesinnungspolitischer) „Therapien“ und Einimpfungen bewusst zu werden, und sich deshalb abseits der ausgetretenen Pfade neu zu orientieren beginnt.
Da Politiker Meinungs- und Willensbildungsprozesse als Führungsanspruch der politischen und medialen Klasse beanspruchen und den „Souverän“ schlicht zum Erziehungsobjekt, zur politischen „Dumpfbacke“ degradiert haben, dem man die elaborierte Demokratie nicht einfach überlassen darf, kann es keinen Vertrauenszuwachs mehr geben. Das Milieu ist zu sauer für beide Seiten. Am Ende muss die Politik das Feld den gesinnungspolitischen „Dumpfbacken“ jedoch qua Verfassung überlassen, wenn nämlich Entscheidungen an der Wahlurne zu treffen sind.
Ist das alles Spiegelfechterei?
Man will es als demokratischen „Webfehler“ umdeuten, wenn den ehemaligen Volksparteien die Wählerschaft enteilt und ein Eigenverschulden der Parteien kaum in Betracht gezogen wird. Es ist natürlich enttäuschend für ein Establishment, das gewohnt ist, sich nicht besonders anstrengen zu müssen und nun – in nicht so rosigen Zeiten – überfordert hyperventiliert und das Eigenversagen nicht mehr bemänteln kann. Umso mehr lässt der eigene Umgang mit demokratischen Gepflogenheiten zu wünschen übrig, so dass der Vorwurf von Demokratiedefiziten der anderen oftmals wie eine Selbstbezichtigung erscheint.
Dennoch: Die Mittestudie der Friedrich-Ebert-Stiftung attestiert der gesellschaftlichen „Mitte“, zunehmend keine mehr sein zu wollen – böse, böse, diese Webfehler. Aber ist diese „Studie“ überhaupt eine ernst zu nehmende Analyse, die die Zustände der sogenannten „Mitte“ und ihre Wirksamkeit im politischen Raum treffend offenlegt? Ist es die Radikalisierung der Mitte oder das Versagen der Politik, von denen die Demokratie geschwächt wird? Oder ist das alles Spiegelfechterei?
Die CDU an der Brandmauer versucht mit ihrem neuen Erscheinungsbild, das am Dienstag dieser Woche von ihrem Generalsekretär Carsten Linnemann im Konrad-Adenauer-Haus präsentiert wurde, zumindest farblich mit der AfD zu konkurrieren. Die etablierten Parteien rüsten sich gern auf solch formaler Ebene auf und simulieren Kompetenz als autosuggestive Show. Für das Konkrete fehlt die Kompetenz, die Durchsetzungsmacht und der Mut. Man verhübscht seinen „Auftritt“, aber blamiert sich – wie der CDU widerfahren – schon im ersten Imagefilm. Es bleiben am Ende Stockbilder und Worthülsen und zwei gedämpfte Farben im Sinn.
„Mitte“ semantisch irreführend
Währenddessen ist die andere „Volkspartei“ alarmiert. In der ebenfalls diese Woche vorgestellten und von der SPD bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Auftrag gegebenen „Mittestudie 2022/23“ wird nämlich festgestellt, dass die „distanzierte Mitte“ der Gesellschaft sich rasant radikalisiert: Mittlerweile sollen acht Prozent dieser „Mitte“ ein rechtsextremes Weltbild teilen. Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und die Verharmlosung von Naziverbrechen sind solche rechtsextremen Einstellungen, die sich laut der Studie im Vergleich zu den Vorjahren verdreifacht haben.
Für die „Repräsentativbefragung“ der Friedrich-Ebert-Stiftung wurden Personen der „erwachsenen deutschen Wohnbevölkerung“ computergestützt telefonisch interviewt. Beteiligt waren 1.047 Frauen und 972 Männer, 8 Personen gaben ein nichtbinäres Geschlecht an. Das Durchschnittsalter lag bei knapp über 50 Jahren. Fast die Hälfte der Befragten ordnete sich „subjektiv der Mittelschicht“ zu, teilt die FES zur Methodik der Studie mit.
Kritisch ist jedoch anzumerken, dass die Studie den Begriff „Mitte“ semantisch irreführend im Titel führt. Die FES-Studie befasst sich nicht mit einer eingegrenzten Gruppe „bürgerlicher“ Personen, die in der landläufigen Interpretation als „Mitte“ oder „Mittelschicht“ betrachtet werden. Die Studie gibt methodisch klar vor, „repräsentativ“ vorgegangen zu sein, das bedeutet: Es wurde ein Querschnitt gebildet, der die volle Breite der deutschen Gesellschaft abbilden sollte (Bevölkerung, ab 18 Jahre). Wie viele der 2027 vollständig befragten Personen lediglich zur „bürgerlichen Mitte“ mit Wahlberechtigung gehören, ist aus der Darstellung zur Methodik der Studie nicht zu ersehen.
Wer will diesen Masochismus wählen?
Irgendwie muss die SPD jedoch am stärksten von dieser „Distanzierung der radikalisierten Mitte“ betroffen sein, denn der Partei kommen massenhaft Wähler abhanden, wenn man den Sonntagsumfragen folgt. Aber die Wählerschaft der SPD geht nicht einfach aufgrund einer „Verdreifachung von Radikalisierten“ von dannen. Dieser Zusammenhang wäre banal und ist aus der Studie nicht herauszulesen. Es ist eher ein Bruch mit parteipolitischen Traditionen und eine harte Abkehr von sozialdemokratischen Kernthemen, die die eigene Klientel nachhaltig verprellt: Der ehemaligen Arbeiterpartei fällt außer „Kampf gegen Rechts“, „Klima“ und „Gendergerechtigkeit“ kaum etwas Progressives und „Volksparteiliches“ mehr ein, das eine breite deutsche Wählerschaft mit einer weltanschaulichen Zukunft verbinden kann, die sich nicht explizit gegen sie selbst richtet. Wer will diesen Masochismus wählen?
Zudem gehört Vergesslichkeit bei den geschwächten, ehemaligen Volksparteien zum politischen Habitus, was neben dem parteipolitischen Abgrenzungs-Pessimismus und der Meckerei beim Wähler einfach nicht gut ankommt. In der Demokratie wählt das Volk heute eher das kleinste Übel, im Bewusstsein und in Erinnerung, welche körperlichen, finanziellen oder freiheitlichen Schäden ihm in jüngster Vergangenheit zugefügt worden sind. Die Wähler glauben, die Schuldigen zu kennen, und strafen sie entsprechend ab. Deshalb wendet sich die Mitte von der mutlosen CDU und der anmaßenden SPD, ihrem vergesslichen Kanzler, dem impfverliebten Gesundheitsminister und der mobbenden Innenministerin ab. Das ist eine real existierende Nebenwirkung von Post-Covid, könnte man sagen.
Wir haben es mit einer demokratische Misere auf Gegenseitigkeit zu tun, keine Hassliebe, sondern ein unterkühltes, stiefmütterliches Verhältnis, eine konstitutionelle Unverhältnismäßigkeit „a priori“, die nicht darüber hinwegkommt, dass im Stiefmütterlichen keine vererbten Eigenschaften anwesend sein können, eine bedingungslose Liebe zwischen den Kindern und ihren „Erziehern“ nicht besteht und sich die einst wohlwollende Hinwendung nun dauerhaft in maßregelnde, missgelaunte auf der einen und abwehrende, resignative Distanzierung auf der anderen Seite zu verwandeln droht. Anstatt stupide weiterzumachen, gehören die Verhältnisse zwischen Politik und Souverän, zwischen Medien und Rezipienten neu definiert. Das fürchten die Inhaber von über Jahrzehnte gepflegten Privilegien bei den Parteien und in den öffentlich-rechtlichen Medien am meisten.
Ein Erpresserbrief grüner und linker Strategen
Die SPD würde gern das einst hochgehaltene Ideal der antiautoritären Erziehung des „Packs“ endlich beenden, notfalls auch mit weiteren Maßnahmen, die man als Notstand deklariert. Die CDU hat hingegen gar keine Idee, wie man die „Rotzlöffel“ und „Freidreher“ im Volk noch in den Griff bekommt, die sich in der abtrünnig rechten Mitte der Gesellschaft tummeln. Die christliche Partei mit der Wortmarke, die jetzt nach rund 50 Jahren roter Färbung wieder schwarz sein darf, würde lieber alles laufenlassen und abwarten – wären da nicht die Aufpasser, Denunzianten und Blockwarte der Gesinnung, die die CDU seit geraumer Zeit mit Haltungsnoten in Zaum halten. Aber die CDU lässt es sich auch unter Friedrich Merz gefallen.
„Die Brandmauer“, die – soweit ich CDU-Generalsekretär Linnemann bei seiner Präsentation im Konrad-Adenauer-Haus verstanden habe –, nun auch in Rhöndorf bei Bad Honnef und in Cadenabbia am Comer See stehen muss, ist keine Erfindung von Friedrich Merz, sie ist ein Erpresserbrief grüner und linker Strategen, denen Angela Merkel beim Protokollieren geholfen hat. In dieser Funktion musste der weibliche Altkanzler unbedingt in den Imagefilm des neuen Erscheinungsbildes noch hineingeschnitten werden. Mutti, Raute, roter Blazer – einfach unvergesslich! Wirtschaftswunderkanzler, Wiedervereinigungskanzler, Wir-schaffen-das-Kanzler. Die drei Musketiere der CDU in einem schnell geschnittenen Filmchen.
Die Christlichen versuchen es also mit einer neuen „Identity“. Man startet mit einem Image-Trailer, in den das „stiefmütterliche Element“ im roten Blazer nachträglich hineingeschnitten werden musste, weil man es entweder vergessen hatte oder vergessen machen wollte. Das wäre noch verkraftbar. Jedoch ist diese Sache mit der falschen Reichstagskuppel unterlaufen. Carsten Linnemann wusste bei der Präsentation noch nichts von dieser „Petitesse“. Er versicherte am Dienstag dieser Woche auf der Präsentation des neuen Erscheinungsbildes, dass das neue Design der CDU und seine Farben für „Vitalität, Zuversicht, Freiheit“, sowie „Substanz, Kompetenz und Sicherheit“ stünden. Wer hatte da die Kompetenz für die Kuppelfrage und die Freigabe des Clips?
Design-Voodoo und Beschwörungsformeln
Im Video wurde die Kuppel des georgischen Präsidentenpalastes eingeblendet. Egal: Kuppel ist Kuppel, dachte man sich bei der Branding-Agentur, es sollte vermutlich nur ein Symbolbild sein, wie all die anderen Motive – die Adaption des Fingerspitzenmotivs aus der Sixtinischen Kapelle, oder der aufgehende Pflanzenkeim, der „Denker“ von Auguste Rodin, schwarze und weiße Menschen, Kinder, Elektronik-Krempel und Handy-People mit jugendlich glänzenden Gesichtern. Ein Gewusel der Belanglosigkeit vollkommener „Diversität“, die so glattgebügelt wirkt, dass es gleichgültig ist, ob man damit einen Deutsche-Bahn-Clip, eine Fitnessriegel-Werbung oder ein Empowerment-Bekenntnis für mehr Mittelmaß und Durchschnittlichkeit in Deutschland bebildern wollte. Das alles ist (leider) kreative Mutlosigkeit, die sich aus den stereotypen Bildwelten von Bildagenturen nährt. Insofern ist das schon passend für die CDU der 20er Jahre des 21. Jahrhunderts. Linnemann hätte statt „Kompetenz“ auch „Konformität“ sagen können, „Mittelmaß“ statt „Substanz“ und so weiter...
Diese zweimal drei Begriffe, die der Generalsekretär nannte, seien den zwei Leitfarben Cadenabbia-Blau und Rhöndorf-Blau zugeordnet. Das eine der Urlaubsort, das andere der Wohnort Konrad Adenauers. Man muss das nicht überbewerten, es ist gewissermaßen Design-Voodoo, was die Agentur „Guru“ der CDU da angehängt hat. Farben und Begriffe wie zeitgeistige Beschwörungsformeln... Adenauers segensreicher Geist huscht jedes Mal durchs Bild, wenn Cadenabbia und Rhöndorf-Blau eingeblendet werden – konservative Erleuchtungen durch farbentherapeutische Suggestionskraft. Der Generalsekretär hatte sichtlich Schwierigkeiten, den ganzen Schmu wie hohe Weihe wirken zu lassen.
Laut Linnemann steht die CDU ab jetzt für „Besonnenheit, Klarheit, und Konzentration auf das Wesentliche". Wenn das mal nicht Angelegenheiten sind, die die Wechselwähler zu Begeisterungsstürmen hinreißen... Zumindest eine markige Angelegenheit ließ Linnemann verlauten, die man beinahe ohne Ironie berichten kann: „Für die Marke, das Logo, ist das Deutschlandbild entscheidend.“ Deshalb hat man sich von einem deutschen Sportartikelhersteller drei Streifen „geliehen“, einen aufstrebenden „CDU-Bogen“ ausgeschnitten und die Deutschlandfahne integriert: kleiner Balken schwarz (könnte für die Adenauer/Kohl-Ära stehen), mittlerer Balken rot (könnte Merkels linke Deutschland-Tour symbolisieren) und größter Balken gelb (könnte für etwas stehen, was man in Zukunft für „echt krass“ hält: zum Beispiel „freiheitliches Denken“).
Viel Gedankenschmalz steckt also nicht in der Deutschland-Halfpipe, der Sprungschanze vor der nunmehr schwarzen Wortmarke der CDU. Es gibt zwar viele Menschen, die unser Land gern als Sprungschanze nutzen, aber Fahne und Bogen im Turnschuh-Look sind jetzt nicht unbedingt der „Burner“. Dazu Linnemann: „Wir sind die Deutschlandpartei“. Das würde die SPD von sich gottlob selbst nie sagen wollen. Aber auch „das mit Deutschland“ ist kein ausgefuchster Schachzug und USP (Unique Selling Point). Schließlich ist helles Blau, der Bogen und die Deutschlandfahne jenseits der Brandmauer schon seit Jahren in Verwendung. Aber vielleicht hat der „Guru“ irgendeine Marken-Idee darin versteckt, die uns Linnemann noch nicht mitteilen wollte.
Dieser Text erschien in gekürzter Fassung zuerst im wöchentlichen Newsletter von Achgut.com (jeweils am Freitag), den Sie hier kostenlos bestellen können.
Fabian Nicolay ist Gesellschafter und Herausgeber von Achgut.com.