Manfred Haferburg / 23.02.2017 / 11:15 / 13 / Seite ausdrucken

Berlin, Breitscheidplatz: Ein Trauerspiel in sechs Akten

Von Manfred Haferburg

Bundespräsident und Bundesinnenminister geben sich entsetzt, Berlins Bürgermeister muss ein bisschen schwindeln und beim nächsten Mal wird alles anders.

Exposition: Der politische und mediale Umgang mit den Opfern des islamistischen Terroranschlags auf einen Weihnachtsmarkt in Berlin und ihren Angehörigen ist ein Trauerspiel ohnegleichen. Was steckt wohl hinter dem verdrucksten Schwamm-drüber-Vorgehen der Politiker? Warum muss so schnell wie möglich zur Tagesordnung übergegangen werden? Weshalb darf es - jedenfalls "vorerst" - keinen parlamentarischen Untersuchungsausschuss des Bundestages zum Fall Amri geben? Fürchtet die Regierung, dass über die Ursachen des Attentats und das vielfache Staatsversagen intensiv gesprochen wird? Müssen deshalb sogar einfachste Regeln des Anstandes missachtet werden?

Erster Akt: Nach dem Anschlag erhielten die Angehörigen als Erstes von der Charité einen Kostenbescheid mit Strafandrohung bei Terminüberschreitung. Dem Krankenhaus waren die Adressen der Opfer-Verwandten bekannt. Der Direktor des Instituts für Rechtsmedizin hat die Rechnungen zwar unterschrieben, schiebt aber die Schuld auf seine unterbesetzte Verwaltung und entschuldigt sich.

Zweiter Akt: Die Polizei sammelt aussagekräftige DNA-Proben der Opfer bei den Angehörigen ein, die derweil seit Tagen auf der Suche nach ihren Lieben durch die Krankenhäuser irren, weil das Bundeskriminalamt auch für sie eine Nachrichtensperre verhängt hat. Auf die Frage nach dem Zweck erhalten die Angehörigen die Antwort: „Wer das noch nicht weiß, ist selber schuld."

Dritter Akt: Bei dem Trauergottesdienst für die Opfer wurde Angehörigen der Zutritt zur Kirche mit der Begründung verwehrt, drinnen seien „hochrangige Politiker“. Bundespräsident Joachim Gauck, der anwesend war, will davon nichts gewusst haben. Schuld sind - mal wieder - die unteren Chargen.

Vierter Akt: Der Bundestag „sah erst einmal davon ab“, eine Gedenkminute für die Opfer abzuhalten, da er sich in Weihnachtspause befand. Auf die Idee, einen Staatsakt zum Gedenken an die Opfer durchzuführen, wie es in anderen Ländern üblich ist, kamen die „Volksvertreter“ nicht. Angesichts von Protesten entschloss man sich vier Wochen später zu einem kleinen Gedenken mit markigen Reden, die das Staatsversagen im Falle Amri vertuschen sollten.

Fünfter Akt: Um die Hinterbliebenen des ermordeten polnischen Lkw-Fahrers kümmert sich statt der deutschen Regierung die Privatinitiative der Speditionsunternehmen. Ein Spendenkonto wird eingerichtet. Die polnische Regierung ehrt den Toten mit einem Staatsakt in Anwesenheit von Präsident Andrzej Duda. Die deutsche Regierung hält sich im Hinblick auf Lukas Urban (37) zurück. Dabei hatte Amri den Polen ermordet, um dessen Lkw für den Anschlag missbrauchen zu können.

Sechster Akt: Mehr als zwei Monate nach dem Attentat sieht sich auch Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) genötigt, den Angehörigen der Opfer zu kondolieren. Die Entschuldigung des Senats für die späte Anteilnahme: Es sei schwierig gewesen, die Adressaten der Schreiben zu ermitteln. Da stellt sich doch die Frage, woher denn die Charité die Rechnungsadressen hatte und warum die Landesregierung sich die Anschriften angeblich nicht früher besorgen konnte? Die Schuld wird auf den Generalstaatsanwalt geschoben: Der habe die Daten erst so spät herausgegeben.

Epilog: Der Bundespräsident setzt ein Zeichen und lädt die Hinterbliebenen zu einem Gespräch ein. Gauck sowie der ebenfalls anwesende Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) zeigten sich entsetzt und versprachen nach Angaben von Teilnehmern des Treffens, in Zukunft die Kommunikation bei ähnlichen Ereignissen zu verbessern.

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Hugo Bat / 24.02.2017

Ich sehe die Ursache für dieses Verhalten darin, dass die Politiker schlicht und einfach die Verhältnisse umgekehrt haben. Statt uns zu dienen, meinen sie in ihrer Hybris, dass sie uns beherrschen und dass wir ihnen zu dienen haben. Da sind dann unsere Opfer halt inklusive und nicht weiter von Belang. Unsere Politiker zelebrieren das schon fast tagtäglich wie ein gottgegebenes Recht und nur in Wahlkampfzeiten lassen sie sich zu etwas “Volksnähe” herab. Wie den römischen Cäsaren sollte man ihnen daher täglich ins Ohr flüstern: Gedenke, dass Du sterblich bist! Denn genau das werden sie erfahren, wenn sie so weiter machen. Sie vergessen nämlich: Wir sind die Vielen, sie sind die Wenigen.

Herbert Müller / 24.02.2017

Ganz anders die Anteilnahme des italienischen Staates. Der Leichnam des italienischen Opfers des Berliner Anschlags, einer jungen Frau aus den Abruzzen, wurde mit einer Militärmaschine nach Rom gepflogen. Der Sarg wurde von dem italienischen Staatspräsidenten Sergio Mattarella, der Verteidigungsministerin, dem Präsidenten der Region Abruzzo und der Bürgermeisterin der Heimatgemeinde des Opfers auf dem Militärpflughafen in Rom in Empfang genommen. Das nenne ich eine würdige Anteilnahme.

Martin Lahnstein / 23.02.2017

Das Totengedenken- leider gibt es kaum mehr eine Kultur, die das würdig leistet.  Die rührenden, aber kaum würdevollen Kerzen auf dem Pflaster. Wie ist es mit den Verletzten, den vielleicht lebenslang Verstümmelten? Bei allem Respekt vor den Toten - sollte es nicht vor allem um die Verletzten gehen? Ich hoffe sehr, dass im Stillen - warum nicht im Stillen - das Menschenmögliche getan wird.

Matthias Haus / 23.02.2017

Sehr geehrter Herr Haferburg! Danke für diesen aussagekräftigen Report über das skandalöse Verhalten unserer politischen Eliten gegenüber den Angehörigen der Opfer. Ich fühle mich immer mehr an die frühere DDR erinnert. Probleme totschweigen , lügen, andere Meinungen diffamieren, die Liste ließe sich noch verlängern. Dafür sind wir 1989 nicht auf die Straße gegangen.

Karsten Berg / 23.02.2017

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Regierung der Fall Amri einfach nur unangenehm ist und sie die Sache schnellstmöglich vergessen machen will. So viel Dilettantismus, Ignoranz und Desinteresse gegenüber den Opfern und Angehörigen ist einfach nur beschämend. Man stelle sich nur mal vor, ein Nazi hätte vor einer Flüchtlingsunterkunft ein ähnliches Massaker unter Migranten verursacht. Mit großer Sicherheit wären bundesweit Großdemonstrationen und Lichterketten von allen möglichen Netzwerken, Initiativen und “breiten Bündnissen” veranstaltet worden. Jeder Politiker, Kunstschaffende und gesellschaftlich Aktive hätte seine Bestürzung direkt in die Kameras gesprochen und ein öffentlicher Betroffenheitsorkan wäre über das Land gefegt. Warum nicht im Fall Amri ? Weil hier die große Angst seitens der Regierenden und der öffentlich-rechtlichen und “befreundeten” Medien besteht, dass dies den “Falschen” in die Hände spielt, den Populisten, den Ausländerfeinden, den Ewiggestrigen und Zurückgebliebenen. Lieber geht man schnellstmöglich zum business as usual über, in der Hoffnung dass so etwas nicht nochmal vor den Wahlen passiert. Es ekelt einen an.

Bärbel Schneider / 23.02.2017

Nur die Kommunikation verbessern? Wie wäre es denn , wenn man “ähnliche Ereignisse” lieber gleich verhindern würde? Das soll in anderen Ländern möglich sein.

M.Noetzel / 23.02.2017

Das erinnert mich an die Terroropfer aus Würzburg. Auch da hat kein deutscher Politiker in den vier Monaten seit dem Attentat bis zur stillen Rückreise der Touristen aus Hongkong die Zeit gefunden, die Familie zu besuchen und das Mitgefühl jenes Landes auszudrücken, in dem die Familie heimtückisch von einem Attentäter während einer Bahnfahrt überfallen wurde. Es gab keine Selfies und kein Bedauern, dass man sie nicht habe schützen können. Dieser Regierung und ihren Angehörigen sind die Kollateralschäden egal.

Rainer Seidel / 23.02.2017

Siebter Akt: Ich habe gestern gelesen, dass der polnische Spediteur sein Arbeitsgerät noch immer nicht zurückhat - mit den entsprechenden wirtschaftlichen Folgen. Außerdem soll es möglich sein, dass man seine Versicherung für Folgen des Anschlags in Anspruch nehmen will. Muss jetzt nicht alles stimmen, erscheint mir bei den bisherigen Abläufen aber nicht als unmöglich.

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