Niemand würde es Ihnen wünschen, aber stellen Sie sich mal Folgendes vor: Sie sind eine Frau und kommen im Morgengrauen nach Hause. Ihr Lebensgefährte reißt darob die Dreifachsteckdose samt Kabel aus der Wand und schlägt damit auf Sie ein. Und zwar lange. Dann zerrt er Sie zum Bett, kniet sich auf Ihre Oberschenkel und würgt Sie, bis Ihnen schwindelig wird. Da ihm das noch nicht reicht, würgt er Sie mit dem Kabel, bis Sie das Bewusstsein verlieren.
Daraufhin verpasst Ihnen Ihr Lebensgefährte solange Ohrfeigen, bis Sie wieder zu sich kommen. Um Sie dann erneut solange zu würgen, bis Sie das Bewusstsein verlieren. Er foltert sie auf diese Weise über Stunden weiter. Zwischendurch schreit er, dass er Sie umbringen wird. Oder er tritt Ihnen mit dem Fuß ins Gesicht. Nach einigen Stunden werden Sie ins Wohnzimmer geschleift und auf die Couch gesetzt, wo Ihnen Ihr Lebensgefährte in den Mund uriniert. Nachdem er Ihnen noch ein paarmal in die Rippen geboxt hat, lässt er von Ihnen ab.
Ihr Peiniger wird per Haftbefehl gesucht, und endlich nach zwei Jahren festgenommen. Der Grund für seine Wut war übrigens die Tatsache, dass Sie allein in die Disco gegangen sind. Die Staatsanwaltschaft vertritt die Ansicht, Sie hätten keine dauerhaften Schäden erlitten.
Vergewaltigte Frau – haben Sie Verständnis!
Stellen Sie sich vor – nicht, dass ich Ihnen dies wünschen würde – Sie seien eine Frau, diesmal minderjährig, und werden hinter dem Wartehäuschen einer Bushaltestelle zweimal vergewaltigt und dann einfach dort liegen gelassen wie Abfall. Stellen Sie sich ferner vor, sie seien später bei der Gerichtsverhandlung zugegen und könnten vor lauter Weinen nicht sprechen. Bei dieser Verhandlung ginge es vorrangig um die psychische Befindlichkeit des Täters, seine traurige Kindheit, seine sieben Voreinträge im Bundeszentralregister und die Tatsache, dass das Gericht Ihrem Peiniger trotz siebenfach verletzten Bewährungsauflagen eine günstige Sozialprognose erstellt und er wiederum mit einer Bewährungsstrafe belohnt wird. Stellen Sie sich vor, Sie dürfen sich anhören, dass Ihrem Vergewaltiger eine stationäre Traumatherapie verordnet wird und die Gerichtskosten erlassen werden. Die Forderungen Ihrer Verteidigung, wenigstens nach finanziellem Ausgleich, werden komplett ignoriert. Und stellen Sie sich vor, der Richter bäte Sie anschließend, für das Urteil Verständnis zu haben.
Nicht, dass Ihnen das irgendwer wünschen würde, aber stellen Sie sich vor, Sie seien eine Frau und ein Mann wirft Sie aufs Bett, zwängt Ihren Kopf zwischen die Gitterstäbe und vergewaltigt Sie. Sie wehren sich, sich schreien, dass er aufhören soll. Er ignoriert das. Vier Stunden lang. Sie erleiden dabei im Vaginalbereich so starke Verletzungen, dass Sie zwei Wochen lang nicht richtig laufen können.
Ihr Peiniger wird vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen. Das Gericht attestiert ihm, er habe „nicht gewusst, was er tat.“ Da er aus dem türkischen Kulturkreis stamme, sei es naheliegend, dass er das Verbrechen versehentlich für etwas wilderen Sex gehalten habe.
Anzeige? Was soll das bringen?
Kulturrelativisten pflegen Bedenkenträgern angesichts der steigenden Gewaltverbrechen von Geflüchteten gegenüber Frauen gern anzuführen, wie sehr die Frauen in Deutschland auch schon ohne Einwirkung von Asylbewerben zu leiden hätten. Angesichts des Justizalltags in Deutschland ist man fast geneigt, ihnen Recht zu geben. Wenn derartige Rechtssprechung möglich ist, wundert es nicht, dass so wenige Gewaltverbrechen von Frauen überhaupt angezeigt werden.
Laut Bundeskriminalamt gab es im Jahr 2017 in Hamburg ganze 255 erfasste Fälle von Vergewaltigung und sexueller Nötigung. Laut dem „Notruf für vergewaltigte Frauen e.V.“ dürfte die tatsächliche Anzahl der Fälle um das Zehn- bis Fünfzehnfache höher sein. Warum bleiben Frauen jahrelang bei gewalttätigen Männern und erzählen anderen, das blaue Auge sei durch einen Treppensturz entstanden? Warum sprechen Frauen nicht über sexuelle Gewalt und warum verdrängen sie, dass sie Opfer eines Verbrechens geworden sind?
Weil sie grundsätzlich zuerst denken, sie selbst hätten sich falsch verhalten. Nichts wirkt so nachhaltig wie das Victim-Blaming, das das Opfer sexueller Gewalt an sich selbst vornimmt. Fast jede Frau kennt diesen fatalen Mechanismus. Nicht umsonst gelten Passivität, Opferbereitschaft, Leidensfähigkeit und Unterordnung selbst heute noch als höchst weibliche Tugenden. Wenn ich mein Leben Revue passieren lasse, gab es etwa zehn sexuelle Straftatbestände, die ich nicht zur Anzeige gebracht habe. Schon weil ich resigniert dachte: Was soll das überhaupt bringen außer peinlichen Befragungen und, nach einigen Monaten, die Nachricht von der Einstellung des Verfahrens? Seit der Grundschule haben mir andere Frauen und Mädchen Dutzende von Malen von erlittener sexueller Gewalt erzählt, von Exhibitionismus, Übergriffigkeiten, erzwungenen sexuellen Handlungen bis hin zu Vergewaltigungen. Nichts davon kam zur Anzeige.
Im Nachhinein ist es zu spät
Wenn man sich durch Internetforen für Mädchen und Frauen klickt, ist man fassungslos angesichts der Alltäglichkeit sexueller Gewalt. Deren Schilderung selbst im Schutz der Anonymität fällt den Opfern schon schwer genug. Geradezu alarmierend ist, dass die Opfer meist über so wenig Selbstbewusstsein verfügen, dass sie nicht einmal klar entscheiden können, ob eine sexuelle Handlung gegen ihren Willen vorgenommen wurde oder nicht. Besonders bei jungen Frauen und Mädchen scheint das ein sehr verbreitetes Problem zu sein. Ekel erregende oder schmerzhafte Praktiken werden entgegen den eigenen Bedürfnissen zugelassen, weil man den Mann nicht enttäuschen, weil man nicht als „prüde“ oder „zickig“ gelten will. Die Hamburger Psychotherapeutin Sandra Konrad hat sich dieses Themas in ihrem hervorragenden Buch „Das beherrschte Geschlecht. Warum sie will, was er will“ angenommen und stellt in ihrer Berufspraxis immer wieder fest, dass junge Frauen glauben, guten Sex gehabt zu haben, wenn sie besonders gut performt hätten. Jahrzehnte der sexuellen Befreiung – und die Frauen von heute sind brav zu gut funktionierenden Pornostars geworden. Kein Wunder, dass explizite sexuelle Gewalt gar nicht so schnell als solche erkannt wird. Meist erst im Nachhinein. Und dann ist es zu spät.
„Keine dauerhaften Schäden“ werden dem Opfer des ersten Falles von der Staatsanwaltschaft attestiert. Allen Ernstes. Die Schäden in solchen Fällen, oft eher unspezifisch als Posttraumatische Belastungsstörung bezeichnet, beginnen bei Schlafstörungen und Nervosität, bei Ekel vor dem eigenen Körper und vor Sex und gehen bis zu Sozialphobien, Panikattacken, Depressionen, Selbstverletzungen und – im schlimmsten Fall – Psychosen. Die Schockwirkung durch die Erfahrung, wie der vermeintlich gut gekannte und geliebte Mann aus dem Nichts zum sadistischen Psychopathen wird, ist für die Psyche ein derartiger Notstand, dass nicht selten als spontane Schutzmechanismen Amnesien oder Mutismus (Sprachverlust) auftreten können.
Die Erfahrung schwerer körperlicher und psychischer Gewalt kann einen Menschen so nachhaltig schädigen, dass er für den Rest seines Lebens behindert und oft genug erwerbsunfähig ist. Das ist nichts, was Juristen nicht bekannt ist, zählen derartige psychische Defekte ja zweifellos zu den beliebtesten Begründungen für die milde Bestrafung der Täter. Hingegen scheint man bei allen drei oben geschilderten Fällen davon auszugehen, die Opfer seien mehr oder weniger unbeschadet aus der Sache hervorgegangen. Dies muss den Beobachter ratlos zurücklassen, denn ob diese Beurteilungen durch pure Misogynie oder richterliche Selbstherrlichkeit oder schlicht durch Blödheit zustande kamen, lässt sich nicht ohne weiteres ermitteln. Fest steht, dass die Opfer, die bereits durch die Hölle der Gewalterfahrung gehen mussten, durch die Demütigung der Rechtsprechung für ihren Mut abgestraft werden, die Tat überhaupt zur Anzeige gebracht zu haben. Ein fatales Signal für die Zukunft.
Antje Sievers jüngstes Buch: Tanz im Orientexpress – Eine feministische Islamkritik, mit einem Nachwort von Zana Ramadani, Hardcover/Klappenbroschur, 21,0 x 14,5 cm, Verlag Achgut Edition, ISBN 978-3-9819755-0-5, 17,00 €. Hier gehts zum Shop.