Die Umfragen für die SPD sind nicht mehr schlecht, jetzt sind sie
katastrophal. Der ARD-Deutschlandstrend meldet in der Sonntagsfrage nur noch
22 Prozent, Forsa gar unglaubliche 21 Prozent für die Sozialdemokratie.
Inzwischen liegt die SPD volle 15 Prozentpunkte hinter der Union, ja sie
rutscht immer näher an die Größenordnung der FDP heran. Offensichtlich war
das Desaster bei der Europawahl kein Ausrutscher. Die SPD droht vielmehr auf
offener Bühne zu zerfallen. Sollte nicht noch ein Wunder passieren, bahnt
sich eine historische Wahlniederlage an, denn mit weniger als 25 Prozent
wäre die Sozialdemokratie keine Volkspartei mehr. Die Republik würde sich
grundlegend verändern.
Unter den entsetzten Sozialdemokraten wird für den Niedergang vor allem
einer verantwortlich gemacht: Frank-Walter Steinmeier. Auf den Wahlplakaten
der Partei wird er kaum mehr gezeigt, seine Auftritte wirken immer blasser.
Der Außenminister gilt nach dem SPD-Dauerdebakel von Andrea Ypsilantis
Crashversuch bis Ulla Schmidts Dienstwagenfahrt als angezählt. Vor allem die
eigene Partei fällt lästernd über die „Schlaftablette“ Steinmeier her. Als
sei er der Wiedergänger Kurt Becks, verbreitet sich eine vergiftete Stimmung
um den Kandidaten: Im Vergleich zu Gerhard Schröder wirke er wie ein Dackel
neben einem Wolf, wie ein Polo neben einem Porsche, wie eine Nagelfeile
neben einer Kettensäge.
Franz Müntefering mahnt zwar noch, man solle im Saloon nicht auf den Mann am
Klavier schießen. Doch das befolgt keiner mehr. Die Parteilinke feuert unter
den Tischen aus allen Revolvern gegen „den letzten Schröderianer“.
Steinmeier solle jetzt „die Abschlussquittung für die Agendapolitik“
kassieren, und dann stehe der Generationenwechsel an. Vor allem Wowereit,
Nahles und Gabriel bereiten sich auf die Zeit nach Müntefering, Struck und
Steinmeier vor. Hinter den Kulissen des Willy-Brandt-Hauses geht es bereits
um die innerparteiliche, nach links drängende Macht nach dem 27. September.
Die Selbstverletzung der Partei erinnert inzwischen an die Schlussphase der
Ära Kohl bei der Union. Sie schimpfen über Steinmeier und meinen Gerhard
Schröder, weil sie die Agendapolitik der beiden am liebsten hinter sich
lassen wollen, als ginge es um eine Spendenaffäre. Beim großen
Steinmeier-Bashing übersehen sie freilich, dass das Problem der SPD tiefer
reicht. Der Kandidat oben auf dem Balkon ist nicht das zentrale Problem, es
brechen ihm unten die Fundamente weg.
Die SPD verliert ihre klassischen Milieus. Die formierte Arbeiterschaft
Marke Kohlekumpel schwindet. Die mobile Dienstleisterschaft der Sorte
Call-Center-Agent ist unpolitisch, häufig Nichtwähler. Der bürgerliche
Mittelstand wählt den Hybridmotor der deutschen Politik: Angela Merkel
(Sozialdemokratin und Christdemokratin in einer Person). Die Aufsteiger und
Tatmenschen streben zur FDP, das sentimentale Bildungsbürgertum optiert
Grün.
Zwischen einer Union, die in der Großen Koalition sozialdemokratisiert ist,
und einer Linkspartei, die den Neo-Sozialismus salonfähig macht, werden der
SPD die Räume eng. Wie eingekeilt verliert sie den Verstand an die
Merkel-Union, das Herz an die Lafontaine-Linke. Sie ist eine Art Wikipedia
ihrer selbst geworden – sie referiert sich noch, lebt aber nicht mehr. In
diesem Spaltungsdrama haben die Schröderianer mit ihrem Beck-muss-weg-Putsch
noch einmal zugeschlagen, doch programmatisch ist ihnen die Partei nicht
mehr gefolgt. Deshalb wirkt das Agenda-Doppel Steinmeier-Müntefering so
abgrundeinsam.
Zudem verlieren die Sozialdemokraten die Intellektuellen. „Der Geist steht
links“, hieß es in der alten Bundesrepublik. „Der Geist steht links, aber
rechts bewegt er sich“, tönte es in den Neunzigern. Heute steht der Geist
weder links noch rechts, er weht, wohin er will. „Linke Intellektuelle“ –
das klingt nach unlustigen alten Herren, gestrig wie Gamaschen und
Lebertran. Das kulturelle Vorfeld der Sozialdemokratie, einst ein flirrendes
Avantgarde-Milieu von Schriftstellern und Künstlern, ist dem Mief von AOK-
und Gewerkschaftsfunktionären gewichen.
Hinzu kommt, dass die Merkel-Republik eigentlich genau so ist, wie sich
frühere Generationen der Sozialdemokratie ihr Traumland gemalt hätten. Darum
mutiert die SPD zur defensiven, strukturkonservativen Formation, sie wirkt
ständig satt und pausbäckig, obwohl sie immer kleiner wird. Die Faszination
des Wollens, die Magie der Verheißung ist ihr abhanden gekommen.
Verräterisch für dieses Dilemma ist das fehlende Modernisierungsversprechen
der Partei. Sozialdemokratischsein hieß im 20. Jahrhundert auf der Seite des
Fortschritts stehen. Seit zwanzig Jahren aber haben sich die linken Parteien
Europas als Retardierungsinstanzen profiliert. Sie wollen den
Modernisierungsschub der Globalisierung bremsen, sind technologiekritisch
geworden und stehen nicht mehr aufseiten der avantgardistischen Evidenz. Man
wittert um die SPD ein Milieu der Bedenken und Ängste, keines der
Verheißungen und Visionen.
Die Steinmeier-Demontage, ja das serielle Verschleißen ihrer Führungsfiguren
ist daher ein Symptom für ein pathologisches Defizit an Identität: Die SPD
frisst ihre Häupter, weil sie um sich selbst nicht mehr weiß. Sie vollzieht
eine Selbstkannibalisierung als Sublimation des Klassenkampfes. Kurt Beck
klagte zu Recht über das irre Wolfsrudel der reinen Machtbeißer, das ihm die
Ehre geraubt habe.
Kurzum: Steinmeier hat keine intakte Partei hinter sich. Die SPD wirkt wie
implodiert. Ihre Machtbasis ist seit Jahren unterspült, sie hat tausende
Mandate verloren und viele Zehntausende an Mitgliedern. Es ist also nicht
Steinmeier, der die Partei von der stolzen Volkspartei zur „Heulsusentruppe“
(Steinbrück) hat degenerieren lassen. Seine Mission ist keine
Kanzlerkandidatur, sondern ein Notarzt-Job. Die SPD zerfällt nicht von oben,
sondern von innen.