Peter Grimm / 27.12.2018 / 16:00 / Foto: Eluveitie / 16 / Seite ausdrucken

Sprachliche Seenot in den Redaktionen

Welche Fluchtgründe haben Menschen, aus Frankreich zu fliehen? Sicher gibt es Straftäter, die sich mittels Flucht den französischen Strafverfolgungsbehörden entziehen wollen. Doch um die wird es bei den „Flüchtlingen“, von denen manch deutsche Medienschaffende schreiben, sicher nicht gehen. Das wäre ja ein ungeheuerlicher Generalverdacht gegenüber den Menschen, die versuchen, illegal aus Frankreich nach Britannien zu gelangen. Aber all die Kollegen, die hier mit leichter Hand von „Flüchtlingen“ schreiben, müssen sich diese Frage mindestens einmal gestellt haben, oder?

Ein Mensch, der vor etwas fliehen muss, ob vor politischer Verfolgung oder vor Krieg und Terror sei dahingestellt, ist ein Flüchtling. In Frankreich herrscht kein Krieg und kein Diktator lässt willkürlich Untertanen verhaften. Wer Frankreich erreicht hat, ist – egal aus welch schlimmen Umständen er zuvor gekommen ist – bei seiner Weiterreise kein Flüchtling mehr, selbst wenn er an seinem nächsten Reiseziel einen Asylantrag stellt. Der Begriff „Asyltourismus“ ist ja tabu. Migranten, die Frankreich verlassen wollen, um in Britannien bessere Bedingungen zu finden, sind definitiv keine „Flüchtlinge“, allenfalls Asylreisende.

Nun ist bekannt, dass sich kaum ein deutscher Meinungsbildner, Journalist, Redakteur oder sonstiger publizistischer Schwerarbeiter der süßen Versuchung entziehen kann, jeden Migranten zum „Flüchtling“ oder noch politisch korrekter zum „Geflüchteten“ zu erheben. Letzterer Begriff hat sogar den Vorteil, dass er nirgends definiert ist. Für den „Flüchtling“ hingegen lässt sich eine einigermaßen klare Definition aus der UN-Flüchtlingskonvention herleiten.

Nach der ist nur eine Minderheit der „Geflüchteten“ als Flüchtling zu bezeichnen, obwohl mittlerweile jeder illegale Einwanderer umgangssprachlich so genannt wird. An dieser Stelle war das „Framing“ erfolgreich. Das positiv konnotierte Etikett „Flüchtling“ oder „Schutzsuchender“ klebt an jedem Zuwanderer. Kaum einer fragt mehr nach dem inhaltlichen Sinn dieser Zuschreibungen, so sind sie unauflöslich mit der Migration verbunden. Selbst die professionellen Worthandwerker haben vergessen, dass man Migranten auch differenzierter beschreiben kann. Die Unterscheidung zwischen Flüchtling, Asylbewerber, illegalem oder auch legalem Einwanderer ist kaum noch en vogue, oder erscheint sogar schon anrüchig.

Niemand denkt an sprachliche Opfer

So kann es auch passieren, dass – siehe auf Zeit-Online – Schlagzeilen wie „Binnen zwei Tagen 43 Bootsflüchtlinge aus dem Ärmelkanal gerettet“ erscheinen und sich niemand wundert und die oben erwähnte Frage stellt, warum man aus Frankreich fliehen muss. Die am ersten Weihnachtsfeiertag Geretteten stammten aus dem Irak, dem Iran und Afghanistan, sie wollten nicht länger in Frankreich bleiben. Doch wovor flohen sie? Vor den Gelbwesten? Vor Macron? Vor der EU ins Brexit-Land?

Natürlich nicht. Sie wollten nach Britannien, weil sie sich dort bessere Lebensumstände als in Frankreich erhoffen. So wie viele Migranten aus der Sicherheit anderer EU-Staaten nach Deutschland „fliehen“, um der besseren Geld- und Sozialleistungen teilhaftig zu werden. Das ist nicht verurteilenswert, denn wer Anreize schafft, darf sich nicht wundern, wenn diese Anreize auch wirken. Wer mit scheinbar voraussetzungslosen Wohltaten lockt, schafft halt wichtige Grundlagen fürs Schleusergeschäft.

Dass diese politische Frage, die Beseitigung dieser „Flucht“-Ursache, dringend auf die Tagesordnung gehört, ist die eine Sache. Aber dass Asylreisende, die von einem sicheren Land ins nächste unterwegs sind, sogar von Formulierungsprofis stets unreflektiert zu „Flüchtlingen“ erklärt werden, ist mehr als nur eine ärgerliche Nachlässigkeit. Oder ist es eine gut gemeinte Propaganda-Aktion? Ein selbst von ihren Initiatoren ungewollter Kollateralschaden ist der, dass es für die Menschen, auf die der Begriff „Flüchtling“ einstmals differenziert und zielgenau Anwendung fand, keinen Begriff mehr gibt.

Der Schutzsuchende, der tatsächlich geflohen ist und ein sicheres Exil erreicht hat, kann nicht mehr mit einem Wort bezeichnet werden, ohne dass beim Lesen oder Hören auch all die Wohlstandssucher, Glücksritter, Antänzer, Islamisten oder Messerstecher mit anklingen. Die gut gemeinte Pauschalisierung sorgt so für ein pauschales Potpourri aus Generalverdächtigungen. Aber wer denkt schon an sprachliche Opfer, wenn „Flüchtlinge“ im Ärmelkanal in Seenot geraten und vor dem Ertrinken gerettet werden müssen. Bald können wir die Letztgenannten ja „EU-Flüchtlinge“ nennen. Oder wäre das böses Framing? Die sprachpolizeilichen Ratgeber des Sagbaren müssen immer neue Antworten auf die Fragen finden, die sie selbst aufwerfen. Und in dieser Disziplin ist Deutschland immerhin noch führend.

Der Beitrag erschien auch hier auf sichtplatz.de

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Leserpost

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Robert Bauer / 27.12.2018

“Flüchtlinge” - Sklaven aus fairem Handel.

Wolfgang Richter / 27.12.2018

Vielleicht haben die Ärmelkanal-Flüchtlinge anders als “unsere” Politdarsteller im westlichen EU-Umfeld erkannt, daß die Einzeltäter- Handlung vom Straßburger Weihnachtsmarktumfeld samt andauerndem Ausnahmezustand im Frankenreich des M. Macron ein weiterer Belegt dafür ist, daß auch dieser Staat nicht sicher ist, es also geboten scheint, zur eigenen Sicherheit weiter gen Norden zu ziehen. Auch den “Brexit” aus der unsicheren West-EU könnten selbige als Sicherheitsgarantie für ihre und anderer Zukunft interpretiert haben. Und sicher werden die 43 keinen Wert darauf legen, im Land der aufgegebenen Grenzen aufgenommen zu werden. Das hätten sie ja einfacher haben können, Flixbus anstelle Risikoseefahrt.

Hubert Bauer / 27.12.2018

Für eine Flucht aus Frankreich gibt es durchaus Gründe. Erst vor zwei Wochen gab es eine Schießerei auf dem Weihnachtsmarkt von Straßburg mit vielen Toten und Verletzten. Und lt. einer Depesche seiner Exzellenz Elmar Brok an Herrn Broder hat die französische Polizei Abgeordnete und Mitarbeiter des EU-Parlament gegen ihren Willen dort eingesperrt, obwohl sie auf dem besagten Weihnachtsmarkt für Toleranz und gegen Rechts demonstrieren wollten. Dort ist es wohl auch nicht besser als in Afghanistan oder Somalia.

Karla Kuhn / 27.12.2018

Vielleicht sind die 43 Flüchtlinge Franzosen, die erkunden wollen, wie England NACH dem Brexit zurechtkommt, um dann die Ergebnisse in Frankreich auszuwerten und für einen Fraxit zu werben ??  Wer weiß ??

P.Steigert / 27.12.2018

Diese Propagandalügen aus der Relotius-Welt begleiten uns seit Jahren. Ich weiss noch genau, es gab sogar mal die Nachricht, dass irgendeine Familie aus der Schweiz zurück nach Syrien “geflüchtet” ist. Und ich bin sicher, dass die Mehrheit der Wähler der “Willkommensparteien” diese Lügen wörtlich so glauben. Auch ignorieren die deutschen Gutgläubigen die Lehren aus der Geschichte. Natürlich gibt es auch ein paar echte Flüchtlinge oder eher Verfolgte. Aber das heißt noch lange nicht, dass es sich dabei um harmlose Personen handelt, deren Aufnahme kein Sicherheits- oder GEsellschaftsrisiko darstellt. Aktuell fallen für mich Kurden und Jesiden in diese Kategorie. Etwas weiter zurück liegen Fälle aus dem Jugoslawienkonflikt. Schauen wir auf die Völkerwanderung. Da waren die Flüchtlinge aus der einen Gegend die Eroberer eine Region weiter. So etwas erwarte ich wieder.

Wolfgang Kaufmann / 27.12.2018

Man könnte zwar verlangen, dass jeder Gast eine der Schubladen wählt, die unser Ausländerrecht bietet, oder sich ein anderes Land aussucht. Doch solcher Legalismus wäre Old School. – Lieber sehen wir die Ankömmlinge als unmündige Kinder, so imperialistisch sind wir dann schon. Wir haben Verständnis, wenn sie nicht mit Heizungen, Fahrkarten oder jungen Mädchen klarkommen; Messer, Gabel, Schere, Licht gibt es dort bekanntlich nicht. Früher nannte man sie Boys, jeder Südwestler hatte welche; aber noch heute weiß der deutsche Massa am besten, was gut für sie ist. – Flüchtlinge sind Objekte wie Lehrlinge oder Rohlinge, aus dem erst unsere Erziehungskunst etwas Wertvolles macht. Das können wir natürlich viel besser als die Franzosen oder Amerikaner! Jetzt kann sich der Deutsche als Kulturbringer fühlen, als Licht für die Welt und hochmoralischer Retter. Darauf ein dreifach donnerndes Jawoll!

Helmut Bühler / 27.12.2018

Beim besinungslosen Rattenrennen unserer Qualitätsjournalisten um die schönste Haltung gibt es eben sprachliche Kollateralschäden. Wenn erst mal die Realität unerbittlich die one-world-Seifenblase zum Platzen gebracht hat, wird “Flüchtling” nur noch negativ konnotiert sein, synonym mindestens mit Schmarotzer. Da haben die echten Flüchtlinge eben Pech gehabt. Das Gegenstück der moralischen Abnutzung ist “Nazi”. Da mittlerweile jeder, der keine Teddybären wirft, voll “nazi” ist, also die Bevölkerungsmehrheit, wird der ganze negative Überbau geschleift (ist ja jetzt schon zu beobachten). Da haben die echten Nazis aber Glück gehabt.

Horst Jungsbluth / 27.12.2018

Eigenartigerweise schweigen unsere Medien oder spielen die Fälle herunter, wenn Flüchtlinge aus Kuba über das karibische Meer nach Florida flüchten wollen und dann ertrinken, weil die amerikanische Küstenwache nicht mehr rettend eingreifen konnte. So gab es vor Jahren den Fall, dass ein marodes Flüchtlingsboot mit allen Passagieren sank und nur ein 5 jähriger lebend in einer Kapsel von der amerikanischen Küstenwache gerettet werden konnte. Fidel Castr,o,  der eigentlich Schuldige machte dann daraus ein riesige Propagandaspektakel. Oder der jetzige Exodus aus Venezuela? Liegt es vielleicht daran, dass in diesen beiden Staaten sogenannte Sozialisten alles ruinieren, was ein Volk benötigt?

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