Vera Lengsfeld / 26.07.2020 / 10:00 / 1 / Seite ausdrucken

Sonntagslektüre: Georgien und Russland – Eine schwierige Beziehung

Der letzte sowjetische Botschafter in Bonn Juli Kwizinski äußerte einmal, dass die Russen beim Zerfall der Sowjetunion die Sezession der islamischen Staaten Mittelasiens, ja selbst der Baltischen Staaten relativ schmerzlos verkraftet haben. Aber der Verlust des Kaukasus, immerhin eine russische Seelenlandschaft, sei äußerst schmerzhaft gewesen. Michail Gorbatschow ging am 25. Februar 1991, dem 70. Jahrestag des Einmarsches der Roten Armee in das unabhängige Georgien, so weit, dem Anführer der georgischen Nationalbewegung Swiad Gamsachurdia mit dem Abfall Abchasiens und Südossietiens zu drohen, sollte die Georgische Sowjetrepublik nicht den neuen Unionsvertrag zur Rettung des Sowjetimperiums unterstützen. Tatsächlich kam es zur Sezession dieser beiden Gebiete nach der Unabhängigkeitserklärung Georgiens am 9. April 1991. Die daraus resultierenden blutigen Konflikte dauern bis heute an und vergiften das Verhältnis zwischen Russland und Georgien.

In seinem Buch „Georgien zwischen Eigenstaatlichkeit und russischer Okkupation“ geht Philipp Ammon der Frage nach, wie es zur Konfrontation zweier Völker kam, die keine tief verwurzelte Feindschaft trennt. Die Antwort findet, wer sich tief in die Geschichte Georgiens versenkt. Philipp Ammon hat das getan. Sein Buch ist voll von historischen Details, die nur scheinbar nebensächlich, in Wirklichkeit unverzichtbare Teile im komplizierten Mosaik der georgischen Geschichte sind. Wer die Gegenwart verstehen will, muss sich auf diese Spurensuche einlassen.

Grundlegender Beitrag zur Christianisierung Russlands

Georgien gehört zu den alten, geschichtlich geprägten Nationen, im Gegensatz zu den jüngeren Vertragsgesellschaften wie die USA. Es war das zweite christianisierte Land der Kaukasusregion nach Armenien. Zuerst nahm das georgische Volk den christlichen Glauben an, die Heilige Nino aus Kappadokien bekehrte dann das georgische Königshaus. Die christlichen Kulturelemente, die bis heute in unglaublicher Zahl in Georgien zu bewundern sind, gelangten früh nach Russland. Georgien leistete durch diesen Kulturtransfer einen grundlegenden Beitrag zur Christianisierung Russlands. Deshalb fiel es den Georgiern im 19. Jahrhundert schwer, sich von ihren ehemaligen Schülern bevormunden zu lassen.

Die Beziehung Russlands zum Kaukasus ist ebenso alt. Sie reicht in vormongolische Zeiten zurück. In der russischen Folklore wird Georgien als der Paradiesgarten südlich der Rus besungen. Seit den Kreuzzügen standen die Georgier auch in Verbindung mit dem Westen. Die Ära von David, dem Erbauer bis zu Königin Tamar, ist sein „Goldenes Zeitalter“. Damals standen Wissenschaft, Dichtung und Kunst in vollster Blüte. Unter Tamar gelangten byzantinisch-georgische, persische und arabische Kultureinflüsse zu einer glücklichen Synthese. Damals entstand Dichtung von Weltgeltung, wie „Der Recke im Tigerfell“ von Sota Rustaveli, ein Epos, das Widerhall im deutschen Minnesang, etwa dem „Parzifal“ von Wolfram von Eschenbach, fand.

Praktisch jeder kann vom Leibeigenen zum Adligen aufsteigen

Seit Tamar wurden Volk und Klerus als begriff für die Gesamtnation betrachtet. Wobei das Volk bäuerlich geprägt ist. Es fehlt ein georgisches Bürgertum. Handel und Handwerk liegen in den Händen von Armeniern, Juden und Persern. Die Feudalordnung des Landes ist aber durchlässig. Praktisch jeder kann vom Leibeigenen zum Adligen aufsteigen. Deshalb entwickelte der georgische Adel, anders als der europäische, nie einen Standesdünkel.

Der Niedergang Georgiens begann mit den Mongoleneinfällen 1221. Der Fall von Konstantinopel schnitt Georgien dann vom Westen ab. Es begann die osmanische Unterwerfung. Der Adel war bereit, zum Islam zu konvertieren, das Volk bewahrte und  verteidigte seinen christlichen Glauben.

Seit dem Fall Konstantinopels sah Georgien in Russland eine Schutzmacht. Im Laufe der wechselvollen Geschichte schätzten die Russen die Dienste der mit dem Orient vertrauten Georgier. Diese Dienste waren oft sehr wertvoll. Ein Beispiel dafür ist General Peter Bragation, der für die Russen im Krieg gegen Napoleon die entscheidenden Siege erfocht und den Napoleon als einzigen ernsthaften Gegner ansah.

Jedoch war der Schutz Georgiens nie das Hauptaugenmerk russischer Politik. Das bekamen die Georgier mehr als einmal zu spüren, was das Verhältnis immer wieder belastete.

Georgien begab sich freiwillig unter russische Herrschaft

Dabei brachte das Bündnis mit Russland Georgien in Gegensatz zu seinen muslimischen Nachbarn. Besonders in der Schlacht von Kreanisi im Jahre 1795 fühlte sich Georgien von Russland betrogen. In diesem Jahr war unerwartet Aga Mohammed Khan in das Land einmarschiert und hatte Tiflis verwüstet. Bis heute wird das mangelnde Engagement Russlands in Georgien mit dem Verrat der Sowjets an der Polnischen Heimatarmee während des Warschauer Aufstands 1944 gleichgesetzt. Russland schützte Georgien weder vor den Dagestanern, noch vor den Persern. Das Empfinden dieses Verrats ist bis heute von erheblicher psychologischer Bedeutung.

Georgien bot am Vorabend der russischen Annexion ein Bild des Niedergangs, deshalb entstand der Wunsch nach einem Protektorat. Georgien begab sich freiwillig unter russische Herrschaft. Die Inkorporation brachte aber nicht nur Schutz, sondern auch die Erfahrung von Korruption und Willkür, weswegen es immer wieder zu Aufständen kam. Die Rebellen schrieben: „Wir suchten den Schutz des Zaren, Gott gab ihn uns, aber die Ungerechtigkeit und Grausamkeit seiner Diener haben uns zur Verzweiflung getrieben.“ Nicht nur das Volk erhob sich, es gab 1832 eine Adelsverschwörung, die ebenfalls scheiterte.

Positiv für das Land war, dass mit der russischen Herrschaft die Jahrzehnte der Verwüstung und Entvölkerung endeten. Relikte muslimischer Herrschaft blieben erhalten. Im westlichen Georgien gab es bis zum Krimkrieg Sklavenhandel.

Bis heute lautet der Gruß der Tschetschenen: „Bleibe frei“

Die so genannte Bauernbefreiung Mitte des 19. Jahrhunderts schuf ein ländliches Proletariat, das mit der Arbeiterschaft in den Industriestädten Baku und Poti die soziale Basis für die revolutionären Bewegungen im Kaukasus bildete. Als Träger des Radikalismus fungierten die Bauernsöhne, die in die Industrieregionen gingen und von dort mit radikalen Ideen in ihre Heimatdörfer zurückkehrten.

Die panslawischen Repressionen unter Zar Alexander, der die Russifizierung vorantrieb, brachte eine nationale Gegenbewegung hervor. Bis heute gibt es den starken Willen, Sprache, Nationalität und Religion zu verteidigen. Zu den großen Irrtümern Russlands gehörte, den Kaukasus als Objekt zivilisatorischer Bildung zu betrachten, was heftige Gegenreaktionen auslöste. Bis heute lautet der Gruß der Tschetschenen: „Bleibe frei.“ Russische Intellektuelle sahen diesen Fehler sehr wohl. Der Schriftsteller Gribojedow beschrieb den kaukasischen Widerstand als „Verteidigung der Freiheit in Bergen und Wäldern gegen das Aufklärungsgetrommel“. Allerdings steht die poetische Verehrung des Freiheitswillens im Widerspruch zu den politischen Vorstellungen der Überlegenheit Russlands, die man besonders deutlich bei den Dekabristen beobachten kann.

Ab den 1860er Jahren begann die kraftvolle georgische Nationalbewegung. Das von Akadi Cereteli verfasst Lied „Suliko“, das Stalins Lieblingslied gewesen sein soll, erlangte als Allegorie für Georgien große Popularität. Es wird bis heute aufgeführt.

Die Sozialdemokraten hielten Russland die Treue

Als Abkehr vom Nationalismus entwickelte sich die Sozialdemokratie, die den Siegeszug des Marxismus hervorbrachte. Eine wichtige Rolle spielte dabei das Tifliser Theologische Seminar, das, neben andern späteren Revolutionären, auch Stalin zu seinen Schülern zählte.

Die revolutionären Auseinandersetzungen von 1905 fanden vor allem in Baku statt. Die Niederlage trieb viele Revolutionäre ins Exil, andere, wie Stalin, in die Verbannung.

Im Ersten Weltkrieg versuchten die Deutschen, sich der georgischen Nationalisten gegen Russland zu bedienen, mit mäßigem Erfolg. Die Sozialdemokraten hielten Russland die Treue.

Am 26. Mai 1918 wurde im Palast des russischen Statthalters von den Menschewiken die „Demokratische Republik Georgien“ ausgerufen, die aber schon im Februar 1921 mit dem Einmarsch der Roten Armee endet. Die Georgische Sowjetrepublik wird ausgerufen und besteht bis 1991. Die mit vielerlei Emotionen beladene Konfliktgeschichte Russlands und Georgiens mündete 2008 in einen offenen Krieg. Der Konflikt ist lediglich eingefroren, nicht beigelegt. Er kann jederzeit wieder ausbrechen.

Philipp Ammon stellt am Ende seines Buches die entscheidende Frage: „Rührt die russische Gleichgültigkeit gegenüber den vom russischen Imperium erfahrenen Traumata fremder Völker aus der Erfahrung der Ohnmacht gegenüber dem eigenen Staat? Werden die Verletzung der Rechte fremder Nationen nicht wahrgenommen aufgrund der eigene Rechtlosigkeit?“ Die richtige Antwort auf diese Frage wird entscheidend sein für die Lösung des russisch-georgischen Konflikts.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der Weltwoche.

„Georgien ziwschen Eigenstaatlichkeit und Opposition“ von Philipp Ammon, 2020, Frankfurt am Main: Klostermann, hier bestellbar.

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Rolf Menzen / 26.07.2020

Waren die Vorfahren Erdoğans nicht islamisierte Georgier?

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