Rene Zeyer
380 Millionen Wahlberechtigte wählen 751 Abgeordnete aus 28 Ländern. Weltweit einmalig. Und ungefähr so wirkungsvoll wie die letzten Parlamentswahlen in Nordkorea.
Kennt jemand S&D? Alde? Nein? Aber die EVP doch sicher. Nein, das ist in diesem Zusammenhang nicht die Evangelische Volkspartei. Sondern die Europäische, das Sammelbecken der Christdemokraten, mit 265 Mitgliedern die stärkste Fraktion im Europaparlament. Danach kommt die S D, wir holen tief Luft: Gruppe der Progressiven Allianz der Sozialisten & Demokraten. Und Alde ist die Fraktion der Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, drittstärkste Fraktion. Muss man die kennen? Nicht wirklich.
One man, one vote. Dieser Grundsatz jeder Wahl wird immerhin eingehalten. Aber dann beginnt schon das Gebastel. Das erste heisst «degressive Proportionalität». Das bedeutet, grosse Staaten haben zwar mehr Sitze als kleine, die aber mehr Sitze pro Einwohner. Oder ganz einfach: ein Abgeordneter aus Luxemburg vertritt 80.000 Luxemburger, einer aus der Bundesrepublik 800 000 Deutsche. Jedes der 28 Länder hat natürlich sein eigenes Wahlrecht, mit unterschiedlichen Altersgrenzen, Stimmmöglichkeiten, Sperrklauseln. Und selbstverständlich kann ein Finne nur finnische Kandidaten wählen, keine italienischen oder französischen. Dafür dürfen die auch nicht für bulgarische, polnische oder kroatische Abgeordnete stimmen. Und umgekehrt. Aber eigentlich macht auch das nichts, denn das Europäische Parlament ist gar keins.
Wie man im Staatskundeunterricht lernt, hat ein Parlament zwei wichtige Aufgaben. Es wählt die Regierung und beschliesst Gesetze, deswegen heisst es ja auch Legislative. Das kann das Europäische Parlament allerdings nicht. Schon mangels Europäischer Regierung. Also «wählt» das Parlament den Präsidenten der «Europäischen Kommission», der ihm vom «Europäischen Rat» vorgeschlagen wird. Wobei diese «Kommission» so etwas wie die Regierung ist, und der «Rat», ach, das würde nun zu weit zu führen und interessiert eigentlich niemanden.
Gesetze darf das Parlament auch nur beschliessen (zusammen mit dem «Rat»), wenn sie ihm von der Kommission vorgelegt wurden, theoretisch darf es sie auch ablehnen. Also hat das grossartige Europäische Parlament eher den Namen «beratende Versammlung» verdient. Allerdings nur dann, wenn man höflich bleiben und den Begriff Quatschbude vermeiden will. Das deutsche Bundesverfassungsgericht spricht von einer «eingeschränkten demokratischen Legitimation».
Aber immerhin, es gibt doch eine muntere Schar von Kandidaten für dieses Präsidentenamt, unter denen der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz und der Luxemburger Jean-Claude Junker die besten Chancen haben. Die bringen dann doch sicher auch die entsprechenden Voraussetzungen für das wichtigste Amt in der EU mit. Nun ja. Schulz kandidierte das erste Mal 1994 erfolgreich für das Europaparlament, gab aber vorsichtshalber erst 1998 sein Amt als Bürgermeister von Würselen auf (37 421 Einwohner, lokalisierbar in der Nähe des Autobahnkreuzes Aachen).
Als er das Kaff Richtung Europa verliess, hinterliess Schulz dem Ort als heraus ragendste Leistung das «Spassbad Aquana». Das belastet die Stadtkasse jedes Jahr mit einer Million Euro, weil das immer noch billiger sei, als die Wasserspiele zu schliessen. Aber obwohl das eine schöne Analogie zur EU ist, interessiert das Schulz längst nicht mehr, der seit 2012 als Präsident des Europäischen Parlaments amtiert. Unterstützt von 14 (!) Vizepräsidenten darf er da in erster Linie repräsentieren und höchstens selber Spassbäder nehmen.
Ein anderes Kaliber ist Jean-Claude Juncker. Der ehemalige Ministerprä sident Luxemburgs, ehemaliger Gou verneur beim IWF und ehemaliger Vorsitzender der Euro-Gruppe (Erklärungen würden auch hier zu weit führen) erklärte immerhin mal ungewohnt ehrlich, wie das in der Europapolitik so läuft: «Wir beschliessen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es dann kein grosses Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.» Alleine dafür hat Juncker seine insgesamt 74 Ehrungen für sein vorbildliches Wirken für Europa verdient; würde er die alle tragen, könnte er locker mit einem nordkoreanischen General mithalten.
Ist dieser Vergleich unfair? In Nordkorea gibt es immerhin die Oberste Volksversammlung als höchstes Machtorgan im Staat. In der sind auch drei Parteien vertreten, und alle fünf Jahre gibt es Wahlen. Diese Parlament wählt dann seinerseits den Ministerrat und dessen Vorsitzenden, also den Regierungschef. Da dies dem Europäischen Parlament nicht vergönnt ist, muss man hier ganz objektiv einen demokratischen Vorteil Nordkoreas konstatieren. Aber das ist noch nicht alles. Jeder nord koreanische Abgeordnete vertritt die gleiche Anzahl Stimmberechtigter, auch das ist in der EU nicht der Fall. Darüber hinaus: Die Wahlbeteiligung in Nordkorea liegt regelmässig bei 100 Prozent, Weltrekord. Dagegen fallen die 43 Prozent bei den letzten Europawahlen doch deutlich ab, diesmal wird mit noch deutlich weniger gerechnet.
Dass natürlich in Nordkorea die Entscheidungen weder vom Parlament noch vom Ministerrat gefällt werden, sondern vom Verteidigungskomitee oder anderen Dunkelkammern, darin gleichen sich die Europäische Union und Nordkorea wieder. Der Gerechtigkeit halber sei aber angemerkt, dass die EU nicht über einen «Ewigen Präsidenten» verfügt und der faktische Machthaber Kim Jong Un einen interessanteren Haarschnitt als Schulz oder Juncker hat.
Zuerst erschienen in der Basler Zeiitung