Saskia Esken moniert neuerdings die „absolutistische Meinungsfreiheit“. Es ist die Empörung einer intellektuell Leistungsarmen, die ihren Mangel an scharfem Verstand mit scharfen Worten halbwegs zu bemänteln versucht. Nebenbei will die SPD-Vorsitzende die Meinungsfreiheit „enteiern“.
Eine bemerkenswerte Wortschöpfung aus dem Hause Esken kam mir diese Woche zu Ohren: „Absolutistische Meinungsfreiheit“. Es lohnt, sich eine Weile mit dem Begriff und seinem Attribut zu beschäftigen. Diese Wortpaarung ist genau genommen absurd. Außer strafrechtlich relevanten Äußerungen, die nicht mehr als Meinungen gelten, sondern zum Beispiel als Volksverhetzung, gibt es keine Grenzen der Meinungsfreiheit in unserer Demokratie. Sie kann nicht absolut, schon gar nicht absolutistisch sein. Es gibt zwar Menschen, die halten ihre Meinung für absolut, Saskia Esken zum Beispiel. Aber das ist nicht verboten und tangiert die Meinungsfreiheit außerhalb der kleinen SPD in keiner Weise.
Was beleidigend, verleumdend und verächtlichmachend ist, verhetzend und entsprechend kriminell, bleibt eine Frage, die gesetzlich gefasst ist und von deutschen Richtern bewertet wird. Das reicht aus, um der Meinungsfreiheit nach oben jeglichen Freiraum zu garantieren (Art. 5 Abs. 1 GG) und klarzustellen, wo verbaler, juristisch abseitiger Extremismus beginnt. Moralwächter, die der Meinungsfreiheit anstelle der Juristerei neue Grenzen setzen wollen – nämlich innerhalb ihrer kleingeistigen Rahmen – behaupten gern, dass ihr Unterfangen gesellschaftlich unabdingbar sei. Nicht grundlos beschreibt der Begriff „Framing“, dass es um einen noch knapper bemessenen, subjektiven Bereich und dessen ideologische Blickwinkel geht: Erlaubt ist nur, was gefällt (Gesinnung plus Konsens). Es müsste jedoch richtig heißen: Erlaubt ist auch, was nicht gefällt (Pluralität plus Dissens).
Meinungsfreiheit ist ein weites Panorama, für das der geübte Geist den Kopf von links nach rechts und umgekehrt schwenken lässt. Eine Übung, die heutigen Politikern vom Zuschnitt der SPD-Parteivorsitzenden unmöglich erscheint, weshalb sie die glatte Hälfte der Bevölkerung – oder noch mehr – nicht wahrnehmen (wollen). Sie schauen an „den Menschen da draußen“ vorbei und wundern sich, wenn es plötzlich unübersehbar viele sind. Diese Erfahrung musste Robert Habeck, der grüne Wärmepumpenbeauftragte, in den letzten Wochen schmerzhaft machen. Er und seine Partei leiden, wie Esken und die SPD, an Realitätsverlust, an der normativen Kraft des Faktischen und seiner demoskopischen Wirkmacht.
„Verschwörung“ der Meinungsfreiheit
Saskia Esken moniert also neuerdings die „absolutistische Meinungsfreiheit“. Nun fehlt noch der Querverweis auf eine Wortverseuchung, die die SPD-Vorsitzende selbst vor ein paar Jahren für Menschen prägte, die einfach nicht ihrer Meinung waren: „Covidioten.“ Die SPD-Vordenkerin hat es nicht so mit Zeitgenossen, die sich erdreisten, anderer Meinung zu sein. Von Zeit zu Zeit wird sie deshalb ausfallend. Sie mimt die Erboste, wenn sie Mitmenschen diffamiert. Es ist die Empörung einer intellektuell Leistungsarmen, die ihren Mangel an scharfem Verstand mit scharfen Worten halbwegs zu bemänteln versucht.
Nehmen wir an, dass „absolutistische Meinungsfreiheit“ heute vornehmlich von Skeptikern und (ehemaligen) Covidioten beansprucht wird – umso mehr, seit sich der libertäre Großkapitalist Elon Musk symbolträchtig Twitter einverleibt hat – dann haben wir es mit einer Verschwörungstheorie aus dem Willy-Brandt-Haus zu tun: Esken ruft nach Regulierung, damit die unbedeutende Reichweite ihrer Meinungsfreiheit nicht mit der gegebenenfalls größeren Reichweite der Meinungsfreiheit Andersdenkender konkurrieren muss. Die „Verschwörung“ geht ihrer Meinung nach von libertären Freigeistern wie Elon Musk aus, die Ideologien und Denkverbote zurückdrängen wollen und kuratierte Meinungskorridore strikt ablehnen. Saskia Esken sieht darin eine Gefahr: Wenn zu viele Menschen denken dürfen, was sie wollen und das öffentlichkeitswirksam tun dürfen, gerät die Wirklichkeit der SPD aus den Fugen. Vielleicht ist was dran an dieser „Verschwörung“ der Meinungsfreiheit gegen das verkrustete Establishment.
Mit von der Partie im niederschwelligen Wortschatz-Geklimper der Vorsitzenden ist das „Pest-und-Cholera-Pärchen“ aller selbsternannten Demokratiewächter: „Hass und Hetze“. Als verbalen Brandsatz gegen alle und jeden mit abweichender Meinung bringt auch Saskia Esken diesen Generalverdacht gegen die eigene Klientel in Stellung. „Hetze“ ist die kleine Schwester von „Volksverhetzung“, so wie „Leugner“ der kleine Bruder von „Holocaustleugner“ ist. Hier wirkt das Framing, indem die Grauzone des Wutbürgerlichen in die Zone des Strafrechts gezogen werden soll. „Die kleinen Leute“, die die moralinsaure Gängelung durch die politische Sprachpolizei satthaben und täglich mit Gender-, Klima- und Migrationsthemen von oben herab drangsaliert werden, wenden sich folglich Denkmustern und Programmatiken zu, die diesen Frust zu kompensieren versprechen. Man sieht es an der „Sonntagsfrage“, wie unbeliebt linke Politik gerade ist. Infratest dimap vermeldet für den 1. Juni 2023 (Zustimmung in Prozent): 29 Union, 18 AfD, 18 SPD, 15 Grüne, 7 FDP, 4 Linke, 9 Andere.
Stickig und sauerstoffarm
Letzte Woche hatte ich an dieser Stelle über den geknickten Wirtschaftsminister berichtet, der sich auf der Digitalkonferenz re:publica über den lahmen Fortgang des Klimaschutzes beklagt und dabei das rhetorische Kunststück zustande gebracht hatte, grünes Klima-Wunschdenken in Richtung einer gesellschaftlichen Dynamik mit dem marketing-technischen Durchbruch des Smartphones zu vergleichen. Die Luft auf dieser Konferenz muss stickig und sauerstoffarm gewesen sein. Anders kann ich mir das Delirieren von Habeck und Esken an dieser Stelle nicht erklären.
Im Gegensatz zu Habeck, der in freier Rede Stuss erzählte, las Esken ihren Stuss vom Blatt ab. Die Vorsitzende der SPD beschwerte sich über Desinformation – allerdings nicht über die eigene. So behauptete sie über den Kauf von Twitter durch Elon Musk Folgendes: „Eine Regulierung, die Desinformation unterbindet, die wenigstens nicht verstärkt, die Fake-Accounts identifiziert und Hassbotschaften bekämpft, wäre wohl dem Verkaufswert nicht zuträglich gewesen.“
Ich nehme an, Saskia Esken weiß, dass Elon Musk der Käufer und nicht Verkäufer von Twitter war. Musk kann ja erst frühestens nach dem Kauf der Plattform beabsichtigt haben, dass Twitter das EU-Abkommen gegen Falschinformation verlassen soll, an dessen Verhaltenskodex das Unternehmen ursprünglich eifrig mitgearbeitet hatte. Seine Absicht zum Aufkündigen des Verhaltenskodexes muss andere Gründe gehabt haben als die von Esken behauptete Wertsteigerung, zumal er weit mehr Geld für Twitter gezahlt hatte, als das Unternehmen eigentlich wert war. Schon früh hatte er aufgedeckt, dass mittels eben solcher von Esken erwähnten Fake-Accounts und Bots Twitter massiv Reichweitenbetrug beging. Das war also vor seiner Zeit, als Twitter noch das linke Lieblingsspielzeug von Saskia Esken war. Der Satz der SPD-Frau ist faktisch also mehrfach – mir scheint bewusst – falsch und so paradox wie der verzweifelte Versuch Habecks, seine ausgedünnte Klimastatistik auf der re:publica pantomimisch darzustellen: „letztes Jahr war es so, dann is so, dann is so ... da wollen wir hin.“
Der Hype um dummes Gewäsch
Anscheinend spekulieren Esken und Habeck darauf, dass Menschen, die ihnen lauschen, am Ende eines verschachtelten Satzes seine sprachliche Zielrichtung vergessen haben. Der Gehalt solcher Sätze liegt nicht in der Stringenz aller Satzteile, also ihrer logischen Folgerichtigkeit, sondern allein im Geraune und lautmalerischen Impetus der Empörungszustände, die wortfetzenartig im Satz untergebracht werden – bar ihrer gegenseitigen Bezüge. Weil die Botschaft aus Parolenversatzstücken besteht, die in beliebige Satzkonstrukte gepackt werden, ist eine durchgängige Satzaussage gar nicht vonnöten. Der gesprochene Satz enthält politische „Farbflecke“, er dient als Vehikel von inselhaften Behauptungen und Floskeln. Verbales Fingerfood aus der ideologischen Fritteuse: Die Leute sollen es fressen und fett daran werden. Basta.
Esken prahlt: „Ich habe deshalb die Plattform verlassen, weil ich nicht mehr bereit war, dem Unternehmen [Twitter] meine Glaubwürdigkeit, meine Reichweite, meinen Content kostenlos zur Verfügung zu stellen, zu schenken.“ Es ist gut, dass Saskia Esken nicht mehr bei Twitter ist, obwohl sie es nach eigenem Bekunden früher „geliebt“ hat. Twitter ging es aber bestimmt nie um das Geschenk von Glaubwürdigkeit einer Saskia Esken. Wenn sie heute behauptet: „Die Kapitalverwertung unserer Privatheit und eine Meinungsfreiheit, die ins Absolute, ins Absolutistische geradezu verdreht worden ist, haben das WWW kaputt gemacht“, verknüpft sie zwei fremde Dinge, um daraus einen beliebten populistischen Trugschluss zu ziehen.
Es stimmt, dass sich Unternehmen der Social-Media über Privatheiten der Leute monetarisieren, es stimmt auf der anderen Seite auch, dass die Nutzer nach exzessiver Öffentlichkeit gieren, die sie auf den Plattformen bekommen können. Aber es stimmt nicht, dass dieser „Deal“ den Missbrauch von Meinungsfreiheit als eine absolutistische provoziert. Diese Unterstellung ist eine durchtriebene Irreführung, die den Wert der Meinungsfreiheit schmälern soll. Das Paradoxon „Absolutistische Meinungsfreiheit“ klingt bewusst wie ein illegitimer Herrschaftsanspruch, dabei reden wir über ein Grundrecht, das der Herrschaft des (machtgierigen) Staates als Teil effektiver, bürgerlicher Abwehrrechte entgegenstehen soll. Leider haben das heute viele der „Leitmedien“ vergessen.
Die Entgleisungen auf Twitter und Co. sind keine Auswüchse von Meinungsfreiheit, sondern von Wut auf die Übergriffigkeit von Politikern und Staat. Es ist eher die Reichweite übellauniger Einlassungen, mit denen Dummheiten verbreitet werden, die bei Dummen Gehör erlangen. Es ist auch der Hype um dummes Gewäsch und Banalitäten. Und es ist Infames, was Saskia Esken in die Welt setzt. Aber die Meinungsfreiheit erlaubt auch das: Gerede, eitles, dümmliches, infames.
Instrument der Gemeinwohlorientierung
Wie mir scheint, hat die SPD-Vorsitzende den Sinn von Meinungsfreiheit nicht verstanden, wenn sie heute behauptet, das „WWW“ sei aufgrund mangelnder Meinungsregulation „kaputt“. Esken mag es nicht kontrovers, polar, polemisch und freiheitlich, wie es im politischen Diskurs früher üblich war – siehe Wehner, Ehmke, Bahr, Müntefering, deren verbale Ausfälle auch mal ad personam gingen. Jedoch ist der Dissens von der Meinungsfreiheit geschützt. Und der Dissens schützt umgekehrt die Meinungsfreiheit durch seine Anwesenheit. Dieses System bedarf also keiner Regulierung. Das Wort „Regulierung“ zum Schutz der Meinungsfreiheit intoniert die SPD-Vorsitzende, als rede sie dabei über eine Katze, die sie festhalten und zum Streicheln zwingen muss.
Damit ist nun Schluss, die Beziehung zwischen Saskia Esken und den Social-Media-Plattformen ist nachhaltig gestört, eine enttäuschte Liebe mit Anzeichen narzisstischer Kränkung. Die Katze schnurrt jetzt auch auf anderen Schößen, ungezwungen. Sehr ärgerlich für die SPD-Vorsitzende, die die Meinungsfreiheit für ein Instrument der Gemeinwohlorientierung hält: Saskia Esken möchte einen kollektiven Rahmen, eine fruchtlose Meinungsfreiheit etablieren, einen Eunuchen, der keine wirklich freie Meinung haben darf, und wenn doch, leider keine Eier mehr hat, sich gegen den SPD-Mainstream durchzusetzen.
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Fabian Nicolay ist Gesellschafter und Herausgeber von Achgut.com.