Was macht dieser Konditor feinsten Politkitsches, dessen Entlarvung als Lügenbold seinerzeit, im Dezember 2018, ein paar sehr naive Spiegel-Mitarbeiter in Tränen ausbrechen ließ? Wo hält sich die Edelfeder des New-Fake-Journalism auf? Schreibt er längst wieder Auftragsknüller, womöglich unter Pseudonymen? Er kann ja was, das hat er hinlänglich bewiesen.
Oh, der Mann lieferte die Ware, nach der deutsche Redaktionen verlangten. Auf Tränendrüsen drückende, dabei saucool geschriebene Moritaten für Lehnstuhlmoralisten, in denen es zum Beispiel um das bittere Los von fleißigen jungen Migranten ging, die nicht nach Almanya durften, kryptofaschistische Dumpfbacken in einem amerikanischen Kaff oder um schießlustige Bürgermilizen an der mexikanischen Grenze. So ein begnadetes Storytellertalent liegt gewöhnlich nicht lange brach. Es drängt zurück in die Öffentlichkeit, früher oder später.
Wo also hält sich Relotius auf? Seltsam, dass ihm niemand nachstellt, mal an seine Tür klopft, ihn mit der langen Tüte abschießt, oder? Ist er im Ausland abgetaucht? Der Mann müsste doch aufzuspüren sein. „So lebt der Spiegel-Fälscher heute“ – warum lässt sich „Bild“ diese Headline entgehen?
Kaum war die erste Aufregung über ihn verraucht, war er als Person auch schon abgelegt. Erstaunlich, da es sich im Fall Spiegel/Relotius ja um den – vorerst – zweitgrößten Skandal der bundesrepublikanischen Pressegeschichte handelte. Beim größten, nicht ganz schussechte „Hitler-Tagebücher“ betreffend, waren die ausführenden Fake-Produzenten Heidemann und Kujau jahrzehntelang immer mal wieder für Schlagzeilen gut.
Einen Schlussstrich unter die peinliche Chose
Andererseits gab es genug Spiegel-Leser, die schon bald nach dem Eklat einen Schlussstrich unter die peinliche Chose forderten. Schließlich habe ihr Leibmagazin wackere Aufklärungsarbeit in eigener Sache geleistet. Und dann, diese Stücke von Relotius lasen sich doch wunderbar! Hätten sie denn nicht wahr sein können?
Wirklich, das haben manche Spiegel-Treue damals gemailt.
Was nun die Branche selbst betraf, so war sie womöglich auch deshalb nicht sonderlich scharf auf langen Nachklapp zu dem Fall, weil nahezu jedes Blatt ähnliche Leichen im Keller hat. Über den „Stern“ ließ sich noch gut juxen; eine Fälscherkomödie dieses Kalibers war und blieb bislang einzigartig. Aber Relotius' Erzählungen? Von dieser fabelhaften Sorte gibt es einige. Würde man nur jene auserlesenen Reportagen penibel auf den Grill legen, die in den, sagen wir, letzten 30 Jahren irgendwelche Preise abräumten, so kämen sicher erstaunliche Erkenntnisse zutage.
Vom Tagesgeschäft der Medienzunft ganz zu schweigen. Erinnern Sie die nie belegten „Hetzjagden in Chemnitz“? Oder den Megapresseflop vom angeblichen Kindermord durch Nazis in Sebnitz, mit der sich so gut wie sämtliche deutsche Medien bis auf die Knochen blamierten und eine Reihe von ausländischen ebenfalls?
Aber vielleicht ist die Angelegenheit Relotius auch einfach irrelevant geworden. Ob eine Geschichte faktenmäßig richtig ist, wen schert das noch? Was heute zählt, ist, ob die Sache wichtig ist, für welche die Geschichte eintritt.
Die Schreiberlinge, würde Karl Marx sagen, haben die Vorkommnisse immer nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern! Über die Welt nicht nur zu berichten, sondern sie im Notfall zu berichtigen, das ist als Wille und Vorstellung mittlerweile auch im Mainstreamjournalismus angekommen.
Lange war das eine Art Flüsterdebatte
Seit etlichen Jahren wird über den „Objektivitäts-Schwindel“ in gewissen, meist linken Presseblasen diskutiert. Wer jetzt die Tags „Journalismus/Aktivismus/Haltung“ bei Google eingibt, bekommt eine Flut von Treffern zur Frage, ob ein Journalist heutzutage noch so tun darf, als gäbe es unterschiedliche Betrachtungsweisen zu angeblichen Überlebensfragen. Sollte man die Old School („All the things that’s fit to print“, Motto der „New York Times“ von anno 1896) nicht lieber dicht machen?
Müssen Journos, wenigstens dem Anspruch nach, ehrliche Mittler sein, die einigermaßen fair berichten, beide Seiten einer Münze zeigen? Oder sollen sie mit offenem Visier als Propagandisten für die guten-wahren-schönen Aufgaben reiten? Welche doch getan werden müssen, soll der Planet nicht im Hitzesturm verglühen, in steigender Meeresflut ersaufen, dem toxischen Wahn weißer alter Männer anheimfallen.
Lange war das eine Art Flüsterdebatte. Selbst jene, die insgeheim gern so wären wie Glenn Greenwald, der publizistische Arm des Verpfeifers Edward Snowden, zierten sich, dem zahlenden Publikum ihre Ansicht zu offenbaren, dass Journalisten im Grunde geborene Aktivisten sind. Und dass der 1995 verstorbene „Tagesthemen“-Moderator Hanns Joachim Friedrichs folglich Stuss verzapfte, als er seine legendäre Formel für guten Journalismus kundtat:
„Das hab’ ich in meinen fünf Jahren bei der BBC in London gelernt: Distanz halten, sich nicht gemein machen mit einer Sache, auch nicht mit einer guten, nicht in öffentliche Betroffenheit versinken, im Umgang mit Katastrophen cool bleiben, ohne kalt zu sein.“
In letzter Zeit sind bei einigen Medien einige Hüllen gefallen. Nicht bloß die „Taz“ überließ Gretas Kinderkreuzzüglern am „Weltklimatag“ die Gestaltung des Kinderstürmers (das wäre keine Meldung gewesen), auch der Stern verschwisterte sich an diesem Datum offiziell mit dem Panikorchester der Jungklimatiker. Was ein paar Kollegen immerhin irritierte, andere nicht so sehr.
Die „Neue Zürcher Zeitung“ nannte die Entscheidung der Stern-Chefredaktion, nunmehr jede, bislang ohnehin bloß angetäuschte, Distanz zur Heißzeitprophetie aufzugeben, „einfach ehrlich“. Der Stern habe sich damit „offiziell vom Journalismus verabschiedet“, konstatierte Marc Felix Serrao, Leiter der Berliner NZZ-Büros. „Aber das ist weder falsch noch fragwürdig. Es ist ein überfälliges Bekenntnis.“
Sich gern mal teilblöd stellen
Solche Klarsicht erfrischt. Anderswo wurden zum Thema schon mal Gespensterdebatten geführt, etwa in der „SZ“. Das Münchner Blatt berichtete über einen Briefwechsel zwischen dem erwähnten Aktivistenjourno Greenwald und einem ehemaligen Chefredakteur der New York Times. In dem Stück hieß es ganz im Ernst: „Es ging um die Wurst, um die Frage: Sind etablierte Medien wie die New York Times mit ihrem Objektivitäts- und Überparteilichkeitsanspruch überhaupt noch zeitgemäß?“
Gosh! Die gegenwärtige NYT in einem Atemzug mit „objektiv“ oder „überparteilich“ zu nennen, das ist apart. Etwa so, als würde man die Leute von „Fox News“ als fanatische Trump-Hasser bezeichnen.
Das halbschlaue Argument von Greenwald und anderen, die sich gern mal teilblöd stellen: Journalismus könne seinem Wesen nach gar nicht objektiv sein, weil Journalisten Menschen mit subjektiven Empfindungen und Interessen seien. Eine journalistische Entscheidung sei immer auch ein Akt des Aktivismus, der diesen oder jenen Interessen diene.
Mein lieber Friedrichs! Da rattert die Bartwickelmaschine. Natürlich weiß jeder im Medienzirkus – woke Leser inbegriffen –, dass bereits die Entscheidung, eine Nachricht groß, klein oder gar nicht zu bringen, eine Bewertung der Geschehnisse bedeutet. Ferner, dass kein Medium die laufende Chronik der globalen Ereignisse umfassend covern kann, nicht mal die der nationalen. Solche Einwendungen liegen allerdings auf dem Niveau des Witzes: „Ich wundere mich immer, dass jeden Tag genau so viel in der Welt geschieht, wie in meine Zeitung passt.“
Hilfreiche Dinge mit dem Segen von Mutter Angela
Und dann, steht da nicht auch noch in Blei gemeißelt das Wort des ehrenwerten Publizisten Paul Sethe, Pressefreiheit sei „die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten“? Oder, in zeitgemäßer Version: Pressefreiheit ist die Freiheit von zehn überwiegend linkslastigen Medienkonzernen, die Mehrheit der Bundesbürger jeden Tag mit Meldungen über den nahenden Klimakollaps, den andauernden Naziterror, die Untaten des Donald T. und die zehn Kostbarkeiten des Elektroautos zu überziehen.
Es darf vermutet werden, dass Medienmacher künftig wohl noch öfter mit jedem in die Kiste hüpfen werden, der hilfreiche Dinge befördern will und dafür den Segen von Mutter Angela hat. Auf dass die Transparenzmaßnahmen von „Taz“ und „Stern“ nicht isolierte Outings bleiben, sollte auch der Rest der Medien an unübersehbarer Stelle bekennen:
„Unser Verlag beschäftigt Haltungsjournalist*innen. Wir beziehen sie en gros von Journalistenschulen, wo sie auf die richtige Gesinnung geeicht wurden. Sie kosten uns nicht viel, weil sie eine Mission verfolgen und notfalls auch für Praktikant*innenlohn arbeiten. Bitte sehen Sie von Leser*innenkommentaren ab, die eine ausgewogene Berichterstattung oder ähnlichen Kokolores anmahnen.“
Auch bei bestimmten Stücken sollte es Hinweise geben. Etwa diesen: „Der folgende total unkritische Artikel über die FFF-Bewegung entstand, weil wir mit Panikmeldungen zum Klima leichte Klickbeute machen können.“ Oder: „Die Angaben in diesem Artikel über gelungene Integration von Migranten stammen vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, sind also mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz oder teilweise falsch. Wir veröffentlichen sie in der Hoffnung, bei den in Aussicht gestellten Staatshilfen für notleidende Medienhäuser großzügig bedacht zu werden.“
It’s the Haltung, stupid
Und wie wär’s hiermit? „In unserem Artikel über Fortschritte bei der Energiewende befinden sich viele Fehlprognosen und jede Menge grünrotes Wunschdenken. Wichtige Komplexe haben wir unter den Tisch fallen lassen, etwa die mangelnden Speichermöglichkeiten von Strom. Wir tun das, weil wir im Gegenzug unserer Publikation regelmäßig 'Schwarzrotgold' beilegen dürfen, die Propagandabroschüre der Bundesregierung, wofür wir ordentlich Schotter erhalten.“
Wäre das nicht wunderbar? Der geneigte Leser wüsste die Offenheit zu schätzen. Wenn alle Medien mitmachen, würde das ein Riesenfortschritt. Ein Blog des „Deutschen Journalisten-Verbands“ empfahl schon vor drei Jahren:
„Aktivismus ist nach Karl Popper die Neigung zur Aktivität und die Abneigung gegen jede Haltung des passiven Hinnehmens. Diese Eigenschaft steht Journalistinnen und Journalisten gut zu Gesichte.
Ja, es wird Zeit, endlich Claas Relotius zu rehabilitieren. Nein, dieser Erbe des genialen Falsifizierers Egon Erwin Kisch und des nicht minder einfallsreichen Karl May hat nichts verbrochen, für das sich ein progressiver Journalist – per se ein Aktivist – irgendwie schämen müsste.
PS: May war übrigens auch ein Aktivist. Propagandist der Versöhnung von Völkern, Kulturen und, ähem, Rassen. Dass er es mit Fakten nicht so genau nahm – who cares? It’s the Haltung, stupid.