Thilo Sarrazin / 13.06.2022 / 06:00 / Foto: Achgut.com / 156 / Seite ausdrucken

Putin ist ein Vergewaltiger

Putin hat es offenbar aufgegeben, das rohstoffreiche, aber ansonsten sehr unterentwickelte Russland zu modernisieren. Er möchte in die imperiale Vergangenheit zurück. Der Überfall auf die Ukraine ist dabei die Ouvertüre.

Wenn sich der Angeklagte einer zweifelsfrei nachgewiesenen Vergewaltigung vor Gericht mit der Behauptung verteidigt, auch das Opfer habe in seiner Vergangenheit dunkle moralische Flecken oder es habe ihn gar durch aufreizendes Betragen zu der Vergewaltigung verführt, so empfinden wir das als schäbig, denn die behaupteten Mängel und angeblichen Verfehlungen des Opfers haben ja mit der Untat des Verbrechers gar nichts zu tun. 

Doppelt empört sind wir, wenn ein Presseorgan bei der Berichterstattung über das Verbrechen Verständnis für den Vergewaltiger äußert und durchblicken lässt, die Untat sei zumindest teilweise verständlich, weil das Opfer moralische Mängel habe, die dann zur Entlastung des Verbrechers in dem Presseorgan breit ausgemalt werden. Als zynisch empfinden wir es, wenn diese den Vergewaltiger entschuldigende und das Opfer verhöhnende Art der Berichterstattung mit dem Gebot der „Neutralität“ gerechtfertigt wird.

Exakt so habe ich in den letzten drei Monaten weite Teile der Berichterstattung der Weltwoche empfunden: Der Vergewaltiger Putin mit seiner zügellosen Soldateska stößt bei aller formalen Distanzierung von dem Überfall auf vielfältiges Verständnis. Das um seine Existenz kämpfende Oper des Überfalls, die Ukraine, wird dagegen vielfältig bekrittelt.

Ein vollständig souveränes völkerrechtliches Subjekt

Dabei ist der Sachverhalt doch ganz klar: Am 1. Dezember 1991 beteiligten sich 84 Prozent der ukrainischen Bürger an der Volksabstimmung zur Unabhängigkeit der Ukraine, mehr als 90 Prozent stimmten dafür. Auf der Krim stimmten 54 Prozent für die Unabhängigkeit, und im Donbas waren es 83 Prozent. Drei Wochen später, am 21. Dezember 1991, wurde der Vertrag zur Auflösung der Sowjetunion von den Führern der ehemaligen Sowjetrepubliken unterzeichnet, und am 24. Dezember erklärte Gorbatschow in einer Fernsehansprache seinen Rücktritt als Präsident der Sowjetunion. Seitdem besteht die Ukraine als vollständig souveränes völkerrechtliches Subjekt innerhalb von Grenzen, die von Russland mit dem Unionsvertrag vom 21. Dezember 1991 ausdrücklich anerkannt worden waren.

In den Folgejahren gab es in allen Nachfolgestaaten der Sowjetunion große Wirren, und ihre Entwicklung ging auseinander:

In der Ukraine entstand im Lauf der Jahre eine lebendige Demokratie, bei der die Maidan-Proteste 2004 und 2014 eine große Rolle spielten. Das Land wandte sich mehr und mehr dem Westen zu und ist dabei, den inneren Reformstau zu überwinden und offenbar auch die Korruption einzudämmen.

Russland dagegen wurde seit 2000 unter Putins Herrschaft immer undemokratischer. Heute ist es eine Ein-Mann-Diktatur und eine staatlich organisierte Kleptokratie, die einem faschistischen Staat immer ähnlicher wird und offenbar das Ziel verfolgt, das russische Imperium wiederherzustellen. Dissidenten werden umstandslos ins Straflager geschickt, soweit sie nicht bei Giftanschlägen u.ä. sterben.

In den dreißig Jahren ihrer staatlichen Existenz hat die Ukraine nie auch nur einen Krümel russischen Bodens beansprucht oder gar gewalttätig besetzt. Russland dagegen besetzte 2014 handstreichartig die Krim und versuchte, sich gewaltsam den Donbas einzuverleiben, wo bis zum Überfall vom 24. Februar ein eingefrorener Kriegszustand herrschte.

Wer hier nicht eindeutig Partei ergreift, ist nicht „neutral“, sondern unterstützt implizit den verbrecherischen Akt der Aggression.

Aus Tradition aggressiv

Die von Russland geäußerten und teilweise aus dem Westen – zum Beispiel in der Weltwoche – unterstützten Sicherheitsbedenken sind erkennbar vorgeschoben: Russland wurde nur zweimal in der europäischen Geschichte aus dem Westen angegriffen: 1811 von Napoleon und 1941 von Hitler-Deutschland. Solche Sorgen sind zudem keine Rechtfertigung für eine Großmacht, militärisch weit unterlegene Nachbarstaaten anzugreifen oder sie in ein halbsouveränes Abhängigkeitsverhältnis zu zwingen.  

Russland selber ist dagegen traditionell eine äußerst aggressive Macht. In zahlreichen Feldzügen hat Russland seit Iwan dem Schrecklichen über 500 Jahre hinweg bis zum Ribbentrop-Molotow-Pakt von 1939 sein Imperium immer weiter ausgedehnt. Putin hat es offenbar aufgegeben, das rohstoffreiche, aber ansonsten sehr unterentwickelte Russland innerlich zu modernisieren. Als Kompensation möchte er in die imperiale Vergangenheit zurück, und der Überfall auf die Ukraine ist dabei die Ouverture.

Jeder aufrechte Demokrat und Europäer sollte keine Sekunde daran zweifeln lassen, auf welcher Seite er dabei steht.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche.

Foto: Achgut.com

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F. Jung / 13.06.2022

Nun, Herr Sarrazin, so sehr ich Ihre sonstigen Analysen auch schätzte und es immer noch tue, hier passt anscheinend so manches nicht. Denn der NATO-Generalsekretär Stoltenberg scheint inzwischen um das Wohlergehen des “Verwaltigers” Putin sehr besorgt zu sein, wenn ich von ihm lese: (Zitat)  «Frieden ist möglich. Die Frage ist nur: Welchen Preis sind (die Ukrainer) bereit, für den Frieden zu zahlen? Wie viel Territorium, wie viel Unabhängigkeit, wie viel Souveränität sind sie bereit, für den Frieden zu opfern?» (/Zitat Ende) Wenn ich seine Aussage von gestern in einen ähnlichen Vergleich bezüglich einer Vergewaltigung einpacken würde, käme etwas heraus, was sicher justiziabel wäre…... Im Übrigen haben ja schon diverse Schreiber hier angemerkt, was alles fehlt in der geschichtlichen Abfolge.

Dieter Kief / 13.06.2022

Die Ukraine hat verloren! Das sagt er frühere Oberkommandierende der US-Streitkräfte in Europa, General a. d. Stephen M. Twitty. Er sagte in einem internen Zoom-Talk des Counsils on Foreign Relations unter Richard Haass, die Ukraine solle ein .s.o.f.o.r.t.i.g.e.s. .E.nd.e. des Krieges erklären - im eigenen Interesse. - Der Comedian Jimmy Dore (!) hat die Zitate aus diesem Zoom-Talk online. - Kein Hauptrom-Medium bringt das. - So geht man jeden Tag ein Stück weiter dem Untergang der Ukraine entgegen - bis zum letzten Mann, wie von John Mearsheimer seit Jahren (!) vorausgesagt…  Dr. Sarrazin nimmt diese Tatsache offenbar nicht zur Kenntnis. Er qualifiziert sich damit zum Lehnstuhl-Krieger.

W.Haas / 13.06.2022

Herr Sarrazin verdient nach wie vor meine Hochachtung! Kurz zwar, aber in einer schlüssigen Kette von unwiderlegbaren Fakten, steht hier was in unserer Nachbarschaft derzeit abgeht. Herr Putin ist nicht der, in schweren Gewissensnöten befindliche weiße Ritter, den viele in ihm zu sehen glauben. Man muss schon pathologischer Antiamerikaner sein (ich sehe die Amis auch kritisch) um diesen Vergewaltiger mit Hinweis auf CIA usw. in Schutz zu nehmen.

Angelika Meier / 13.06.2022

Putin ist ein Vergewaltiger. Cäsar war ein Vergewaltiger. Alexander der Große war ein Vergewaltiger. Karl der Große war ein Vergewaltiger. Richard Löwenherz war ein Vergewaltiger. Napoleon war ein Vergewaltiger. Churchill war ein Vergewaltiger. ... Wo ist jetzt die Aussage? Vergewaltiger, die ich nicht mag, müssen bestraft werden, die anderen sind OK?

Volker Kleinophorst / 13.06.2022

1. Von Hitler zu Vergewaltiger, scheint mir eine Verharmlosung zu sein. (Ironie) Keine neuen Hetz-Superlative im Programm? (Keine Ironie) 2.  @ T. Schmied Ja die USA-Luden-Assoziation hatte ich auch. Schließlich haben die USA überall ihre Pferdchen im Rennen. PS.: Zuhälter sind immer auch Vergewaltiger. 3. Nur mal so als Info: “Das Pentagon hat, offenbar wegen der nicht abreißenden Meldungen über die geheimen US-Biowaffenprogramme in der Ukraine, am 9. Juni ein Dokument mit dem Titel „Factsheet über die Bemühungen zur Reduzierung der Bedrohung durch Massenvernichtungswaffen mit der Ukraine, Russland und anderen Ländern der ehemaligen Sowjetunion“ veröffentlicht. Dort erfährt der interessierte Leser, dass das Pentagon sogar 46 Biolabore in der Ukraine finanziert hat, was bisher weitgehend bestritten wurde, obwohl die Informationen über die Finanzierung jedes einzelnen Labors in der Ukraine vor Beginn der russischen Intervention auf der Seite des Pentagon zu finden waren. Sie wurden nach Beginn der russischen Veröffentlichungen jedoch gelöscht. Die Chronologie und die Details der russischen Veröffentlichungen finden Sie am Ende dieses Artikels.” Ja von “Anti-Spiegel”. Das Factsheet des Pentagons (sicher nicht von Putin gekauft) kann sich allerdings jeder ansehen. Und das sind sogenannte Kriegsgründe. Man stelle sich nur vor, DER PUTIN unterstützt 46 Biolabore auf Kuba. Hadmut Danisch hat wie ja so häufig vollkommen recht: “Es sind nicht die Maßstäbe, es sind die doppelten Maßstäbe.” Und zwar zu quasi jedem Thema. @ T. Sarrazin Manche steile These hätte, wie ja einige Kommentatoren schon bemerkten, einer besseren Recherche bedurft. Das war doch früher ihr Muskel, die saubere Recherche. Und: Unrecht wird nicht zu Recht, nur weil man “Für die Freiheit” ruft.

Jürg Sand / 13.06.2022

Es gibt eine Unzahl an Zeitgenossen die sich für mutig und gut wähnen, weil sie laut nachplappern was „man“ ihnen täglich zum Nachplappern vorhält. Ich denke, man weiss hier wovon ich schreibe. Die letzten zwei Jahre dürften zu dieser Erkenntnis reichen. Was die Demokratie betrifft, so taugt sie grundsätzlich nur so viel wie der Stimm- (!!!) und Wählbürger taugt der sie ausübt und der taugliche Typus ist zurzeit eine winzige Minderheit. Was die Kriegsparolen des Herrn Sarrazin und Kollegen betrifft, füge ich an, dass man damit die Demokratie weder hier noch dort verteidigt oder fördert. Im Grunde versuchen diese in schräger Haltung erstarrten Geistesgrössen eine intellektuelle Vergewaltigung an einem widerspenstigen, imaginären Gegenüber. Diese Selbstgespräche, unter Auslassung aller Gegenargumente und widriger Fakten, wirken zunehmend grotesk und senken die Qualität der Achse des Guten.

Patrick Meiser / 13.06.2022

“Auch der russische Botschafter Melnyk ist ein Anhänger dieses Verbrechers, .........................” @Frank Becher : Ich unterstelle einmal, daß Ihnen hier ein Flüchtigkeitsfehler unterlaufen ist, so der allseits ‘bekannte’ Melnyk die Ukraine vertritt. Danke für den Hinweis auf die Fackelzüge in der UKR, die ja hierzulande ganz eindeutig selbst bei den Montagsspaziergängen ein Beleg für die Verherrlichung der Nazidiktutur sein sollen.. Nur in der “demokratischen”  Ukraine haben Fackelzüge so gar nichts mit Nazisymbolik zu tun. Eines Eingehens auf dieses Vergewaltigungsbeispiel des Autors bedarf es nicht, da es bar jeder Logik ist.

lutzgerke / 13.06.2022

Irgendwie haben die halbseidenen Vordenker nicht verstanden, daß es einen großen Zusammenbruch gegeben hat. Herr Sarrazin, Sie waren nie etwas anderes als exzentrischer Mainstream, auch wenn uns so mancher vormachen will, Axel Springer zu lesen, sei revolutionär. Das ist so, wie wenn ein Familienmitglied sich wegen übermäßiger Sauferei ins delirium tremens katapultiert hat und der Rest der Familie tut weiterhin so, als wäre alles völlig normal. / Die politische Atmosphäre ist seit einigen Jahren bleiern und dämonisch und selbst, wenn man kein Christ ist, kann man sich der dunklen Erwartung nicht erwehren, im nächsten Augenblick erscheint der Antichrist auf der Bühne.

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