Psychiatrie: Von alten und neuen Schrecken

Ein Mensch, der das Leben Anderer durch Gewalt gefährdet – sei es ein Schwerverbrecher, ein Intensivtäter oder ein Terrorist – gehört zum Schutz der Öffentlichkeit weggesperrt. Da sind wir uns wohl weitgehend einig. Wenn es um schwere Psychotiker geht, die nicht „nur“ die anderen, sondern auch noch sich selbst in höchstem Maße gefährden, sieht das aber plötzlich ganz anders aus. Der Einfluss der Antipsychiatriebewegung und die Angst vor psychiatrischen Einrichtungen scheinen so groß, dass viele Leute beim bloßen Gedanken an eine Unterbringung empört ausrufen: „Man kann die armen Leute doch nicht einfach in die Psychiatrie stecken! Das sind menschenverachtende Folterkammern – auch heute noch!“

Ich höre solche Sprüche bei Bekannten und vor allem bei meinen Kommilitonen immer wieder und hab mir schon etliche Male den Kopf zerbrochen, woher diese tiefe Abscheu und Skepsis kommen. Inzwischen fürchte ich, dass sich in den Köpfen vieler Menschen das Bild einer Psychiatrie aus den 1940er bis 1950er Jahren festgesetzt hat. Die Grausamkeit und die völlig irrationalen Behandlungsmethoden dieser Zeit scheinen auf eine skurrile und makabre Art und Weise zu faszinieren – für die Realität interessieren sich hingegen die wenigsten. Sie denken lieber an die gruseligen Szenen aus Filmen wie „Einer flog über das Kuckucksnest“ und vergessen dabei, dass die Grundlagen dieser Verfilmungen mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen.

Als ich vor etwa sechs Jahren anfing, in einem Betreuungsbüro zu arbeiten, kam ich frisch aus der Schule und interessierte mich nicht besonders für die Psychiatrie oder psychisch kranke Menschen. Ich wollte endlich mein erstes eigenes Geld verdienen – wie und wo, war mir relativ egal. Erst als ich im Büro plötzlich fast täglich direkt mit psychisch Kranken aller Art konfrontiert wurde, wuchs meine Neugier, und ich begann akribisch, sämtliche Gutachten und Arztberichte zu durchforsten, die ich in die Hände bekam. Ich war geschockt, wie viele unserer Klienten schwere Psychotiker waren, wie unfassbar skurril sie sich verhalten konnten und wie oft sie Anderen oder sich selbst etwas antaten – von Brandstiftung, über Stalking und Körperverletzung, bis hin zu Totschlag oder Suizid.

Für mich stand schon nach kurzer Zeit fest, dass man die Gesellschaft – genau wie den Kranken selbst – vor den unkontrollierbaren Auswirkungen psychotischer Schübe schützen muss. Dafür muss der Kranke in vielen Fällen kurz- oder langfristig in die Psychiatrie – und ebendiesen „Ort des Schreckens“ wollte ich selbst sehen. Ich wollte wissen, wie es heutzutage in einer Psychiatrie zugeht, und ich begann mich mit der Zeit auch für die Geschichte der Psychiatrie zu interessieren. Denn irgendwoher mussten die Leute ja schließlich all ihren Hass und die Angst vor diesen Einrichtungen nehmen.

Ich stellte schnell fest, dass die Geschichte der Psychiatrie alt, und vor allem anderen, eine Geschichte von absoluter Ahnungslosigkeit, Überforderung und Behandlungsmethoden ist, bei denen man eher von Folter als von Therapie sprechen muss. Grade in den Jahren der Nachkriegszeit – die die Vorstellung der Psychiatrie vieler Menschen zu prägen scheinen – war beinahe jedes Mittel recht, um der gnadenlosen Überfüllung in den staatlichen Anstalten irgendwie Herr zu werden.

In den USA, wie wohl auch in vielen europäischen Ländern, wurden Patienten Stunden oder sogar Tage in eiskalte oder brühwarme Bäder gesetzt, in denen sie von schweren Tüchern bis auf den Kopf bewegungslos gehalten wurden. Man steckte sie in sargähnliche Kisten, in denen eine Infrarotlampe solange Hitze ausstrahlte, bis ihre Körpertemperatur auf lebensgefährliche Fieberhöhen anstieg. Und dann verpasste man ihnen auch noch Elektroschocks, bei denen ihr Körper so sehr krampfte, dass ihnen nicht selten die Knochen brachen. Als grauenvollen Höhepunkt zerstörte man Teile ihres Gehirns – einige mit neurochirurgischer Präzision, andere mit einem Eispickel.

Streicheleinheiten helfen nicht weiter

Erst die Erfindung der Neuroleptika Mitte der 1950er Jahre und deren schnelle Weiterentwicklung ermöglichte eine Abkehr von solchen Methoden. Die Medikamente waren (und sind) zwar von Nebenwirkungen begleitet, im Vergleich zu allen anderen Behandlungen aber weitgehend unschädlich und vor allem eins: wirksam. Schon bald ging es nicht mehr nur darum, den Patienten ruhig zu stellen und ihn so für die Gesellschaft wieder ertragbar zu machen, sondern ihm auch wirklich zu helfen. Dieser Tatsache scheinen sich die meisten linken Psychiatriegegner aber nicht bewusst zu sein. Sie sind sich sicher, dass „Zärtlichkeit eine bessere Medizin als jede Pille ist“ – zumindest bis zu dem Tag, an dem sie selber mal mit einem hoch psychotischen Menschen aneinandergeraten.

Dann werden sie sehr schnell merken, dass Streicheleinheiten hier nicht weiterhelfen. Solange ihnen das nicht passiert, werden sie wohl stur bei ihren Überzeugungen bleiben. Für sie gilt: So ist es, so war es, so wird es immer sein. Warum sollte man sich also auch nur den Hauch einer Mühe geben, die damaligen Zustände in einen zeithistorischen Zusammenhang zu stellen? Und wieso sollte man hinterfragen, ob sich in all den Jahren mit der Gesellschaft nicht auch die Psychiatrien geändert haben könnten? Ganz einfach, weil sie es gravierend getan haben – das, was ich in Berlin erlebt habe, hat mit den Psychiatrien früherer Zeiten rein gar nichts mehr zu tun.

Das fängt schon damit an, dass wir seit der Enthospitalisierungs-Welle in den 1990er Jahren überhaupt keine richtigen geschlossenen Psychiatrien mehr in Berlin haben. Bei uns gibt es nur die psychiatrischen Stationen der vielen Kliniken, von denen ich mir die größten und wichtigsten inzwischen selbst aus nächster Nähe angeschaut habe. Und mein erster Eindruck war auf allen derselbe: Sie sehen aus wie eine ganz normale Krankenstation, mehr noch wie ein Altenheim oder eine betreute Wohneinrichtung – allerdings ist die Tür verriegelt und die Patienten sind meist jünger und benehmen sich etwas „anders“. Sie sitzen nicht gemeinsam an einem großen Tisch und spielen Bingo, sondern streifen oft mit starrem Blick durch die Gänge oder stehen einfach auf der Stelle, ohne sich zu bewegen. In ihren Augen spiegelt sich selten mehr als eine völlige innere Leere, und es zeigt sich schon nach ein paar Sätzen, dass sie nicht nur völlig desorientiert sind, sondern während der psychotischen Schübe auch große Teile ihrer Persönlichkeit verlieren.

Schrecken im Innern

Erst kürzlich besuchte ich mit meiner Chefin eine Klientin, die sich auf der Geschlossenen einer unserer Kliniken befand. Ich hatte schon davon gehört, dass ihre Station einen gewissen Ruf unter Betreuern genoss und war gespannt – und um ehrlich zu sein auch etwas ängstlich – was mich erwarten würde. Als sich die Sicherheitstür öffnete, rechnete ich schon mit wildem Gewusel und lauthals schreienden Patienten, wurde in meinen Erwartungen – zumindest dieses Mal – aber schwer „enttäuscht“. Es war beinahe still, die ganze Station wirkte wie leergefegt.

Nur ein einziger Mann stand ein paar Meter vor uns regungslos im Flur und durchbohrte uns geradezu mit seinem leeren Blick – ein wahnsinnig unangenehmes und verunsicherndes Gefühl. Entsprechend froh war ich, als ihn die kleine füllige und gut gelaunte Krankenschwester mit ein paar freundlichen Worten davonführte. In der Sekunde, als ich seinen Namen hörte, verwandelte sich meine Erleichterung aber wieder in Entsetzen: Ich kannte diesen Mann. Er war schon seit Jahren einer unserer Klienten, der über eine lange Zeit jede Woche für seine Geldauszahlungen in unser Büro gekommen war. Trotzdem hätte ich ihn beinahe nicht erkannt, weil er wie ein völlig anderer Mensch aussah: Er wirkte gepflegt, seine langen wilden Haare waren kurz geschnitten und man roch ihn nicht wie üblich schon aus 10 Metern Entfernung. Dafür war er aber extrem dürr, und vor allem sein hageres Gesicht hatte so harte und leblose Züge angenommen, dass es kaum wiederzuerkennen war.

Später erfuhr ich, dass unser Klient schon seit sechs Wochen nach PsychKG (Zwangsunterbringung bei akuter Eigen- und Fremdgefährdung nach dem Gesetz für psychisch Kranke) untergebracht war und durch das Amtsgericht sogar eine Zwangsmedikation genehmigt wurde. Trotz der gerichtlichen Anordnung – die nach einer ausgiebigen Begutachtung mit den Worten „die notfalls zwangsweise durchzusetzende Maßnahme ist nur zur Verabreichung der zwingend gebotenen Medikation in der zwingend gebotenen Dosierung gestattet (…)“ beschlossen wurde – hatten die Ärzte ihm in der ganzen Zeit lediglich dreimal seine Medikamente gegeben. Und das, obwohl ihnen bewusst war, dass er sie über einen Zeitraum von etwa vier Wochen dreimal täglich nehmen müsste, damit sie ihre (antipsychotische) Wirkung überhaupt entfalten konnten. Es war also kein Wunder, dass sich sein Zustand in all der Zeit um keinen Deut verbessert hatte – trotzdem wurde er nur kurze Zeit später entlassen.

Man könnte die Ärzte verklagen

Ich fragte mich, was in den Ärzten vorging, als sie die gerichtlichen Anordnungen einfach ignorierten und sich in meinen Augen auch der unterlassenen Hilfeleistung schuldig machten. Meine Chefin hatte eine einfache Antwort: Das herzerwärmende Gutmenschentum, das sich in unserer Gesellschaft wie eine infektiöse Krankheit ausbreitet, hat bei den Ärzten nicht halt gemacht. Und ihr Dilemma ist durchaus verständlich: Die Medikamente haben nämlich noch immer sehr unschöne Nebenwirkungen – sie machen den Patienten oft müde, antriebslos und hindern ihn dadurch auch, seine Persönlichkeit richtig auszuleben. Neben Verfolgungs- und Vergiftungsfantasien ist das einer der Hauptgründe, warum viele Patienten ihre Medikamente ablehnen.

Die Ärzte denken also wirklich, sie tun etwas Gutes, wenn sie den armen Mann nicht zwingen, gegen seinen Willen Medikamente einzunehmen, obwohl die Konsequenz darin besteht, ihn seinem Wahn, der damit einhergehenden Auflösung seiner Persönlichkeit und unabsehbarem Gefahrenpotenzial zu überlassen – eigentlich eine keinesfalls verantwortbare Alternative. Trotzdem geben sie lieber dem Willen des Patienten nach, ignorieren all ihre Pflichten und verdrängen damit das Wissen, das sie sich in den vielen Jahren ihres Studiums und ihrer Ausbildung hart erarbeitet haben – fast so, als hätten sie ihren Verstand an der Eingangstür abgegeben. Im Prinzip könnte man sie für diesen Bruch ihrer Sorgfaltspflicht sogar verklagen, aufgrund des ärztlichen Behandlungsspielraumes wäre das aber ein äußerst schwieriger Prozess.

Zwang ist nicht gleich Zwang

Wie man an diesem Beispiel deutlich sieht, muss man die heutigen Zwangsbehandlungen deutlich von früheren Methoden unterscheiden. Mal abgesehen davon, ob sie von den Ärzten überhaupt wirklich durchgeführt werden, steht vor jeder Entscheidung nämlich ein enormer bürokratischer Prozess. Das beginnt schon bei der Aufnahme in einer psychiatrischen Station. Wenn die Klienten nicht gerade von der Polizei und Feuerwehr ins Krankenhaus gebracht werden, weil sie randalierten, jemanden angriffen oder im tiefsten Winter nackt durch die Straßen liefen (also akut sich oder andere bedrohten), muss nach BGB eine „Unterbringung zur Heilbehandlung“ beim Amtsgericht beantragt werden.

Damit der Antrag überhaupt bearbeitet wird und sich unser riesiger Verwaltungsapparat unter Quietschen und Rattern langsam in Bewegung setzt, muss der Betreuer – ein Vormund, der gesetzlich verpflichtet ist, im Sinne seines Klienten zu entscheiden – eine ausführliche Begründung für das Begehren verfassen. Als objektiver Fachmann wird in fast allen Fällen ein zweiter Betreuer als sogenannter Verfahrenspfleger bestellt, der den Antrag prüft und seine Einschätzung an das Amtsgericht übermittelt. Außerdem wird ein Psychiater beauftragt, ein umfangreiches Gutachten über den Klienten und seine Situation zu erstellen, um aus ärztlicher Sicht die Notwendigkeit des Antrags zu prüfen. Erst dann erlässt das Amtsgericht einen Beschluss, der in den allermeisten Fällen so vorsichtig und kurzzeitig, wie nur irgend möglich ist.

Über diesen Verfahrensweg werden alle wichtigen Entscheidungen getroffen – die Einweisung, die Zwangsmedikation und in seltenen Fällen auch Fixierungsmaßnahmen. Im Krankenhaus selbst können die Ärzte natürlich nicht immer erst einen Antrag stellen, wenn ein Klient ausrastet. Sie befolgen das Vorgehen: „Bitte, bitte hören sie auf und machen, was wir sagen“, eine Erhöhung des Personalaufwandes und erst, wenn alles nichts mehr nutzt, dürfen sie den Patienten einer Zwangsbehandlung unterziehen. Diese Ausnahmeregelung gilt nur für Behandlungsmaßnahmen, die zur Lebensrettung oder zur Abwendung erheblicher Gesundheitsgefahren für den Betroffenen akut erforderlich sind. Nur dann kann die Notfallmaßnahme von einem Arzt angeordnet werden und nur unter der Auflage, dass anschließend sofort eine Genehmigung des Betreuungsgerichtes einzuholen ist.

Selbstbestimmt entscheiden

Wenn es nicht gerade um eine Notsituation geht, dürfen Zwangsbehandlungen zunächst nur vorgenommen werden, um dem Patienten die gesundheitlichen Voraussetzungen für seine freie Willensbildung wieder zu ermöglichen. In der heutigen Psychiatrie geht es nämlich vorrangig darum, die Diagnostik, die Aufklärung und die Beratung so zu gestalten, dass der Patient jede Behandlungsmaßnahme versteht und selbstbestimmt entscheiden kann, wie und ob er behandelt werden möchte. Da Psychotiker in den allermeisten Fällen nicht mündig, also nicht entscheidungsfähig sind, entscheidet ihr Betreuer in Absprache mit dem Betroffenen und den Ärzten über die Behandlung, die dann hauptsächlich in der Medikamentengabe besteht und, wenn möglich, von Gesprächsangeboten wie einer Psychotherapie begleitet wird. In einigen Stationen gibt es außerdem ergo- oder musiktherapeutische Angebote.

Kritiker werden jetzt sagen: „Das stimmt nicht! Es gibt die alten Therapien immer noch! Die foltern die Leute auch heute noch mit Elektroschocks!“ – Das ist Unsinn: In einigen Kliniken gibt es für Patienten, die unter einer Katatonie (einem unter Umständen lebensbedrohlichen Zustand) oder schweren Depressionen leiden, tatsächlich die Möglichkeit, eine Elektrokrampftherapie zu machen, wenn Medikamente oder andere Therapiemethoden nicht mehr wirken. Die Behandlung unterscheidet sich aber natürlich ganz wesentlich von früheren Methoden. Sie wird mit modernen Gerätschaften unter Narkose und der Gabe eines Muskelrelaxans schmerzfrei und mit geringen Risiken durchgeführt.

Außerdem erfolgt sie natürlich ausschließlich auf der Basis von Freiwilligkeit und erst nach einer ausführlichen Aufklärung. Entgegen der festgefahrenen Vorstellungen einiger besonders radikaler Psychiatriegegner wird diese Behandlung nur sehr selten durchgeführt. Wir haben in unserem Büro momentan etwas über 300 Klienten, von denen sich lediglich eine einzige dieser Behandlung unterzieht – und das übrigens sehr gerne, weil sie ihr nach eigenen Aussagen so gut hilft.

Von wegen Hochsicherheitstrakt

Wie bereits angedeutet, hat sich aber nicht nur die Behandlung an sich, sondern auch ihr gesamtes Umfeld dramatisch verändert. Hohe Zäune mit Stacheldraht, Sicherheitsmänner mit finsteren Visagen, genau wie kalte, dunkle und feuchte Räume sind heute nicht mehr als der Stoff für schlechte Albträume. Das Einzige, was einen geschlossen untergebrachten Patienten daran hindert, fröhlich davonzuspazieren, ist die Sicherheitstür. Und auch die scheint leider nicht immer so geschlossen zu sein, wie sie sollte. Immer und immer wieder verschwinden unbemerkt Patienten von der Station, die dann allein – und völlig unberechenbar – durch die Straßen Berlins streifen.

Zuletzt gelang es einem unserer Klienten sogar, noch am Abend seiner Unterbringung aus dem Isolationszimmer der geschlossenen Psychiatrie zu verschwinden. Er war hochgradig suizidal – die Fahrlässigkeit des Personals gefährdete also akut sein Leben. Zum Glück tauchte unser Klient nach einiger Zeit mehr oder weniger unbeschadet, aber noch immer hoch psychotisch, wieder auf. Erst dann geschah das wirklich Erschreckende an der ganzen Geschichte: Anstatt ihn erneut unterzubringen, hob man den Beschluss einfach auf. Eine gängige Praxis, wenn sich der Betroffene oft genug der Unterbringung entzieht – sie gilt dann nämlich als undurchführbar.

Wie ich bei meinem letzten Besuch in der Psychiatrie erfuhr, müssen die Patienten aber eigentlich gar nicht abwarten, bis ein unvorsichtiger Mitarbeiter die Tür einen Moment unbeaufsichtigt lässt. Seit einiger Zeit haben nämlich alle Patienten, egal ob sie nach PsychKG oder nach BGB zur Heilbehandlung untergebracht sind, das Recht auf Ausgang. Wenn der Hof oder Garten der Psychiatrie – so wie in den allermeisten Berliner Kliniken – nicht groß genug ist, muss man den Betroffenen anderweitig Zugang zur frischen Luft gewähren – sie also raus auf die Straße lassen. Die Ärztin, mit der ich sprach, zuckte nur mit den Schultern, lächelte unsicher und zog die Augenbrauen vielsagend in die Höhe: So sei nun mal die Gesetzeslage.

Ich muss sie in diesem Moment so entgeistert angestarrt haben, dass sie sich genötigt fühlte, mir schnell noch zu beteuern, dass man besonders akute Fälle auf dieses Recht natürlich nicht unbedingt extra hinweisen würde und ihnen im Zweifelsfall den Ausgang verweigern könnte. Angesichts ihrer völlig antiautoritären Art war das aber nicht besonders glaubwürdig. Zumal die allermeisten Psychotiker nicht zu unterschätzen sind – sie wissen ganz genau, welche Rechte sie haben und wie sie sich vor den Ärzten verhalten müssen, um zu kriegen, was sie wollen.

Einfach unberechenbar

Einen hoch psychotischen Menschen frei herumlaufen zu lassen, gefährdet aber nicht nur ihn selbst, sondern auch das Leben unschuldiger Passanten. Wir bekommen im Büro beinahe täglich Post von der Polizei, weil einer unserer Klienten mal wieder jemanden auf der Straße beleidigt, angepöbelt oder geschlagen hat. Und es bleibt nicht immer bei so „harmlosen“ Vergehen. Unter unseren Klienten befinden sich mehrfache Vergewaltiger, notorische Gewalttäter, und es kam, seit ich im Büro anfing, sogar schon mindestens sechsmal zu Delikten wegen versuchtem Totschlag – einer war sogar erfolgreich. Die Angriffe solcher Menschen sind affektgesteuert, das heißt, sie kommen völlig aus dem Nichts und können wahllos jeden treffen, der zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort ist.

So griff eine unserer Klientinnen vor einiger Zeit ohne Vorwarnung eine Mutter mit Kinderwagen an und würgte ihren kleinen Säugling fast zu Tode. Er überlebte nur, weil ein beherzter Passant in die Szene eingriff und die völlig wahngesteuerte Frau gerade noch rechtzeitig von dem Kind wegzerren konnte. Der Helfer und das Baby mussten anschließend im Krankenhaus behandelt werden, die Mutter erlitt „nur“ ein seelisches Trauma. Unsere Klientin verstand auch Wochen später noch nicht, warum man sie ins Krankenhaus des Maßregelvollzugs gebracht hatte. In ihren Augen hatte sie kein Baby, sondern eine Latexpuppe angegriffen, die die Nazis dort platziert hätten, um sie auszuspähen.

Zwei andere Klienten hörten ebenfalls auf die Stimmen in ihrem Kopf und versuchten, ihre Opfer mit einem Messer zu erstechen – einer eine völlig fremde junge Frau, der andere seine eigene Mutter. Ein weiterer Klient von uns sitzt jetzt seit etwa einem halben Jahr im Knastkrankenhaus, weil er kurz nach dem tödlichen Vorfall in Frankfurt versucht hatte, eine Frau vor eine einfahrende U-Bahn zu stoßen. In ein paar Wochen beginnt seine Verhandlung, und ich fürchte mich jetzt schon vor dem Urteilsspruch. Möglicherweise, so ist zu hören, wird es keine Verurteilung wegen versuchtem Totschlag geben, weil der Oberkörper der Frau nicht über dem Gleisbett hing.

Die Opfer dieser Taten, werden wahrscheinlich nie wieder ohne Angst die Straße entlanglaufen oder U-Bahn fahren können – denn solche Erlebnisse vergisst man nicht mehr. Mir selbst ist nie etwas derart Lebensgefährliches passiert, die bloße Bedrohung reichte aber aus, um mir mehr als einmal einen nachhaltigen Schrecken einzujagen. Seit mir einer unserer Klienten an der Klingelanlage sagte, dass ich mit meinem Leben spiele und im nächsten Moment mit einer riesigen Machete den Briefkasten vor unserer Tür bearbeitete, kann ich zum Beispiel nicht mehr so entspannt durch den Hof laufen wie früher. Mir sitzt einfach immer die Angst im Nacken, dass in einer dunklen Ecke schon einer unserer Klienten lauert. Ich laufe im Dunklen auch nicht mehr so unbedacht durch die Straßen wie früher und wechsle bei jedem komisch anmutenden Menschen die Straßenseite – einfach, weil ich weiß, wie viele psychotische Menschen hier durch die Straßen schleichen und zu welchen Taten sie fähig sind.

Der wahre Schrecken

Wir lesen heutzutage fast täglich von Mordanschlägen in der Zeitung, die möglicherweise einen politischen Hintergrund haben könnten. Sofort stellt sich die Frage: Waren es wieder die Rechten? Die Islamisten? Oder vielleicht sogar doch die Linken? Egal, wer es war, es gibt jedes einzelne Mal einen riesigen Aufschrei, großen Trubel und tausend tolle neue Ideen, welche Maßnahmen man zur Abwehr solcher Verbrechen ergreifen muss. Meist kommt dann aber doch noch die Entwarnung: Es war bloß ein Verrückter (siehe auch Pauline Schwarz' Beitrag über das Attentat von Hanau, Anm. d. Red.). In einigen Fällen melden sich dann ein paar Zweifler, die hinter dem Angriff lieber ein Hassverbrechen als eine willkürliche und psychotisch bedingte Tat entdecken würden, nach einiger Zeit ist aber immer Ruhe. Dass Psychotiker aber ein eigenes Bedrohungspotenzial entwickeln, das dem politisch motivierten kaum noch nachsteht, wird von allen Seiten einfach ignoriert oder als unabänderlich hingenommen.

Das ist es aber nicht, denn genau dafür gibt es die Psychiatrie. Eine Einrichtung, die dem Schutz der Bevölkerung und der Betroffenen dient. Und in der sich der Gesundheitszustand der Kranken langfristig stabilisieren und ihnen damit ein künftig wesentlich eigenständigeres und menschenwürdigeres Leben ermöglichen könnte. Stattdessen wird sie aber lieber von allen Seiten diffamiert, indem man sie als eine Art Hochsicherheitsgefängnis oder Folterkammer darstellt, obwohl das absolute Gegenteil der Fall ist.

Die Behandlung psychisch Kranker wird immer vorsichtiger, immer inkonsequenter und dadurch auch immer wirkungsloser. Man überlässt sie immer mehr ihrem völlig irrationalen und durch den Wahn gesteuerten Willen und verschwendet nicht einen Gedanken an die Folgen dieses Irrsinns: Während einige immer mehr verwahrlosen oder sogar verenden, weil sie sich jeder medizinischen Versorgung und Hilfe entziehen, bedrohen andere das Leben eines jeden, der gerade rein zufällig an ihnen vorbeiläuft – eine Gefahr, vor der man die Gesellschaft durch die Unterbringung schützen kann und schützen muss.

Pauline Schwarz ist Berlinerin, studiert Psychologie und arbeitet in einem Betreuungsbüro. Dieser Beitrag enstand im Zusammenhang mit unserem Jugend-Workshop im Rahmen des Juniorenkreis Publizistik statt, eine Veranstaltung der F. A. von Hayek-Gesellschaft in Zusammenarbeit mit Achgut.com und dem Jugendblog Apollo-News.

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Leserpost

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Hans-Peter Dollhopf / 28.02.2020

Frau Schwarz, wir Leser von Achgut schätzen Ihre unverbrauchten Schilderungen sehr. Sie leisten hier, parallel zu der von Ihnen professionell ausgeführten Tätigkeit im Gesundheitswesen Berlins, eine ehrenamtliche Aufklärungsarbeit. Ich wünschte, dass die Motivation, aus der heraus Sie uns Leserschaft aktuell beobachtend berichten, niemals durch Ihre unmittelbaren Sachzwänge fokussiert werden würde. Egal, wir würden es ja doch bemerken. Die gesellschaftliche Beantwortung der von psychischer Auffälligkeit ausgehenden Unterbrechung von normalem Treiben ist ein Test für die Akzeptanz des modernen Dogmas der Individualität. Die Blunze: “Mein Herr, ich teile Ihre Meinung nicht, aber ich würde mein Leben dafür einsetzen, dass Sie sie äußern dürfen”, wird anhand von Veräußerlichungen (Aggression, Dysfunktionalität) psychotischer Meinungen den diese Aushaltenden als ad absurdum vorgeführt! Die Psychose ist keine Emergenz der Moderne. Sie verfolgt die selbstgefällige Menschheit durch Äonen.

Thomas Weidner / 28.02.2020

Das Problem ist doch das Gutachter-un-wesen speziell im medizinischen Bereich. Welcher “Gut"achter musste sich je für eine vorsätzliche oder grob-fahrlässige Falschbegutachtung verantworten? Mit dem Thema “Schadensersatz” will ich überhaupt nicht beginnen…

Yvonne Flückiger / 28.02.2020

Menschen die während eines psychotischen Schubes andere angegriffen haben, gehören weggesperrt. Es braucht deshalb Psychiatrie-Gefängnisse mit geschlossenem Vollzug. Solange Psychotiker “nur” als Kranke behandelt werden, ändert sich da nichts. Bei Selbstgefährdung sieht es etwas anders aus, da dies oft schwieriger nachzuweisen ist und letztlich auch in das Selbstbestimmungsrecht eingreift. Mehrfache Vergewaltiger und “Fast-mörder” gehören verurteilt und weggesperrt. Im geschlossenen Vollzug kann dann immer noch die psychische Krankheit behandelt werden. Aber nicht nur mit Stuhlkreis. Die linken Gutmenschen haben da absolut nichts zu plappern, denn sie sind Laien und übernehmen ja auch nicht (nie) die Verantwortung. Anders sollte es jedoch bei den Gerichten, Gutachtern und Psychiatern sein. Viele Menschen würden noch leben, wenn man konsequent wäre; und die Gefährder richterlich versorgen würde.

Steffen Schwarz / 28.02.2020

So richtig Hilfe scheinen die Patienten mit den Gesetzen nicht zu haben. Respekt vor dem Idealismus der Leute wenn man dort Betreuung macht.

Jörg Plath / 28.02.2020

Erschreckend einfältige, naive Zeilen. Die guten Medikamente, der gute Zwang, die gute Gewalt. Das stimmt alles hinten und vorne nicht. Psychopharmaka werden zu Recht auch als chemische Knebel bezeichnet, eine irgendwie geartete Wirksamkeit im -sinne von Heilung wurde nie bewiesen. Vor derartigen Betreuern hätten ich neben all dem grausamen Psychiatriepersonal auch massiv Angst.

Judith Hirsch / 28.02.2020

Als Schwester eines psychisch kranken Berliners, der seit 36 Jahren in etlichen Berliner Psychatrien zu “Gast” war, muß ich diesem Artikel vehement widersprechen und kann ihn mir nur mit der Unerfahrenheit der Autorin erklären. Obwohl mein Bruder nie gewalttätig oder suizidgefährdet war, hat er die schlimmsten Dinge wie Fixierung und Elektroschocks über sich ergehen lassen müssen. Patienten, die nicht das Glück haben von Angehörigen kontinuierlich besucht zu werden, werden sediert und teilweise auch ohne Zustimmung für medizinische Experimente missbraucht. Das Pflegepersonal ist oft überfordert oder auch lustlos und abgestumpft. Ein Beispiel dafür: Mein Bruder fragte eine Betreuerin ob sie mit ihm Tischtennis spielen möchte. Da sie aber lieber in Ruhe telefonieren, rauchen und online shoppen wollte, sagte sie zu dem Oberarzt der Patient sei “unruhig” und müsse mit höherer Medikation ruhiggestellt werden. Sorry, aber das ist der erste Achse-Beitrag der mich wirklich zutiefst erschüttert.

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