Felix Perrefort / 04.06.2022 / 06:15 / Foto: alx / 73 / Seite ausdrucken

Polizeistaat Deutschland? UN-Berichterstatter attestiert „Systemversagen“

Im Rahmen der Corona-Demonstrationen kam es zu exzessiver Polizeigewalt. Ein UN-Sonderberichterstatter diagnostiziert diesbezüglich „Systemversagen“. Sein an die Bundesregierung gerichtetes Schreiben wird ignoriert. 

Bis Ende März war der Schweizer Rechtswissenschaftler Nils Melzer als UN-Sonderberichterstatter über Folter tätig. Im Sommer 2021 ist er auf Fälle extremer Gewalt seitens deutscher Polizisten aufmerksam geworden. Er blieb am Ball und beendete sein Mandat, indem er schwerwiegende Kritik an der Bundesregierung übt, deren Umgang mit den Gewaltexzessen mit rechtsstaatlichen Prinzipien unvereinbar sei.

In einem Interview mit der „Welt“ diagnostiziert er eine „große Diskrepanz zwischen den normativen Ambitionen der deutschen Rechtsordnung und deren Umsetzung durch die Behörden.“ Im Zentrum seiner Anklage steht das vielfach dokumentierte polizeiliche Vorgehen gegen Demonstranten, die die Corona-Maßnahmen ablehnen und die Grundrechte wiederhergestellt wissen wollen. Alle diese dokumentierten Fälle hätten „zumindest straf- und disziplinarrechtlich untersucht werden“ müssen. Dass nur ein Polizist bundesweit verurteilt wurde, während hunderte Demonstranten ein Bußgeld zahlen mussten, spricht für ihn dafür, dass mit zweierlei Maß gemessen werde. Insbesondere nach einer Demonstration Anfang August 2021 zirkulierten zahlreiche Videos in den sozialen Medien. Dirk Maxeiner kommentierte seinerzeit.

Kürzlich ist die 60-tägige Frist abgelaufen, die er der Bundesregierung gesetzt hatte, ihm auf sein Schreiben zu antworten. Es blieb unbeantwortet. In dem sechzehnseitigen Dokument bespricht er neun Fälle exzessiver Polizeigewalt. Zum Beispiel wurde in Dresden ein aus dem Grundgesetz vorlesender Mann attackiert, als er auf sein Fahrrad aufsteigen wollte. In Berlin wurde ein gewaltloser Fünfundsiebzigjähriger von hinten angegriffen, zu Boden geworfen und schwer verletzt, weil er die Durchfahrt von Polizeifahrzeugen behindert hatte. Ebenfalls in der Hauptstadt wurde eine nicht gewalttätige Frau in lebensgefährlicher Weise zu Boden geworfen, als diese eine Polizeisperre überwinden wollte. 

In einigen Fällen sogar Folter 

„Dem vorliegenden Videomaterial nach zu urteilen“, schreibt Melzer, „scheint die deutsche Polizei einen übermäßig freizügigen und harten Ansatz zu verfolgen, wobei sie überwältigende körperliche Gewalt bereits sehr niedrigschwellig zum Einsatz bringt. … Insbesondere die Standardpraxis der deutschen Polizei, ungehorsame, aber gewaltlose Demonstranten zu Boden zu zwingen oder zu werfen, verstößt gegen die Erfordernis der abgestuften Gewaltanwendung und bringt unnötige und unverhältnismäßige Risiken von Körperverletzungen sowie unnötige Demütigungen mit sich.“

Im Vorfeld seines Schreibens kontaktierte Melzer die betreffenden Behörden und diskutierte intensiv bestimmte Fälle. Sein Fazit lautet: Obwohl eine solche Polizeipraxis „eine grausame und unmenschliche Behandlung und in einigen Fällen sogar Folter“ darstelle, deuten die Antworten der Regierungsverantwortlichen auf „eine beständige Fehlinterpretation der Anforderungen bezüglich Notwendigkeit, Verhältnismäßigkeit und Vorsicht“ hin. Dabei hebt er ausdrücklich hervor, dass zur Antidiskriminierung nicht nur Kategorien wie Hautfarbe, Herkunft oder Geschlecht gehören, sondern auch kritische Stellungnahmen zur Regierungspolitik in allen öffentlichen Kontroverseren, einschließlich in Sachen Pandemiepolitik.

Sorgen bereiten ihm der im Rahmen der Corona-Proteste vom Verfassungsschutz neu geschaffene Beobachtungsgegenstand „Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Das Überwachungsprogramm könne Corona-Demonstranten einem höheren Risiko von Repressalien oder Präventivmaßnahmen aussetzen, was die Opfer von Polizeigewalt einschüchtern und davon abhalten könnte, bei den zuständigen Behörden Strafanzeige zu erstatten.

Diffamierung und Einschüchterung

Ganz besonders beunruhigt ihn, dass beim angekündigten Vorgehen des Verfassungsschutzes nicht zwischen gewalttätigen extremistischen Gruppen und nicht gewalttätigen Demonstranten unterschieden werde. Eine solche „wahllose öffentliche Bloßstellung, Diffamierung und Stigmatisierung kann ungerechtfertigte Ängste, Stress, Scham und Schuldgefühle hervorrufen und dazu führen, dass Einschüchterung, Angst vor Überwachung und andere mit den Menschenrechten unvereinbare Repressalien dazu führen, dass den Opfern Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Rehabilitierung verweigert werden.“

Deutsche Polizeigewalt ist nicht erst seit Corona-Demonstrationen ein Problem. Die Qualität und Quantität der diesbezüglichen Exzesse verweisen allerdings auf eine gesellschaftliche Psychodynamik, deren Gründe politischer und medialer Natur sind. Gegen keine andere gesellschaftliche Gruppe wurde in den letzten zwei Jahren derart Stimmung gemacht wie gegen die Gegner der Corona-Maßnahmen. Sie wurden wahnhaft als Bedrohung des Gesundheitssystems und als Treiber der Infektionszahlen ausgemacht, derentwegen Menschen krank würden und sterben müssten. Ihre Diskriminierung wurde sogar öffentlich gerechtfertigt. Dem Volkszorn derart ausgeliefert, sanken offensichtlich auch die Hemmschwellen innerhalb des Polizeiapparats. So konnte sich der geschürte Frust und Hass gewalttätig entladen. 

Freiheit ist jedoch immer auch die der Andersdenkenden. Das zivilisatorische Niveau eines Staates bemisst sich daran, wie er mit jenen umgeht, die in Wort und Tat der Mehrheit widersprechen. Wie es dahingehend um Deutschland bestellt ist, hat Nils Melzer der Bundesregierung eindrücklich ins Stammbuch geschrieben. 

Foto: alx

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Arne Ausländer / 04.06.2022

Seit ich 1990 in den Wirkungsbereich der bundesdeutschen Polizei geriet, habe ich die Verhältnisse aufmerksam beobachtet. Ich kenne bis heute keinen Fall, wo ein Opfer von Polizeigewalt nicht seinerseits angeklagt wurde oder wenigsten danach freigesprochen worden wäre - ganz unabhängig von der Beweislage. Im günstigsten Fall wurde das Verfahren (gegen den von der Polizei vorsätzlich schwer Verletzten!) unter banalen Auflagen eingestellt, aber Freisprüche scheint es da systematisch nicht zu geben. Vor 10, 15 Jahren berichtete sogar der Deutschlandfunk noch, wenn auch selten, über diesen rechtlichen Mißstand. Auch daher meine Einschätzung: Im Westen ist (bzw. war) die “Spielwiese” für den Einzelnen größer, aber wenn es an die Substanz staatlicher Macht ging, waren die Unterschiede minimal. Seit Corona wurde deutlich, wie sehr diese Grenze der Zivilität der Willkür der Mächtigen unterliegt.

L. Bauer / 04.06.2022

Das ist richtig geil! Die Bundesregierung antwortet diesem dahergelaufenen, irgendwie in Menschenrechte machenden Schreiberling nicht. Wird ignoriert. Wo kommen wir denn da hin? Regierung anpissen, auch noch offiziell? Die haben Leute aus’m Völkerrecht in ihren Reihen, die wissen wie es läuft. Und deswegen wird auch konsequenterweise nichts passieren. Im Herbst werden sie da weitermachen, wo sie unterbrochen wurden. Da werden wieder Omas aufs Pflaster geworfen, der blonde Jugendliche in Berlin von Zivilbullen(!) mit Schlagstöcken bewusstlos geprügelt, der mit dem Fahrrad in Dresden wieder von fünf Bullen runtergezerrt usw, usf. Nichts wird sie aufhalten! Und das Volk kann genau garnichts machen! Verfassungsbeschwerden werden garnicht erst zugelassen! Ende im Gelände. Da kann man sich dann schon mal abends aufm Sofa freuen über soviel Freiheit und Demokratie. Prost!

Gottfried Meier / 04.06.2022

Es ist ja geradezu zynisch, wenn wir Polen und Ungarn den Rechtsstaat beibringen wollen.

Andreas Mertens / 04.06.2022

Klare Worte ... aber in den Wind gesprochen. Die Verantwortlichen entziehen sich, wiegeln ab und gehen über Impfleichen wenn es nur ihrem politischen Fortkommen dient. Glaubt auch nur einer der Leser hier das diesem Brandbrief auch nur ansatzweise Taten folgen werden? Das den parlamentarischen Hetzern, ihren staatlich alimentierten Winkmittelmedien, den pc-woken Internetinquisitoren oder den uniformierten Knüppelknechten auch nur ansatzweise Ungemach droht ... von juristischer Konsequenz ganz zu schweigen. Nichts wird passieren. Eher erklärt man den Überbringer der schlechten Nachricht zum unqualifizierten Schwurbler ... Verschwörungstheoretiker ... Geisteskranken ... Leugner ...  Rechtsaußen ... Nazi (ungefähr in der Reihenfolge und Steigerung) Da hilft nur innere oder echte Immigration. Dieses Land hat fertig

Michael Hinz / 04.06.2022

An einem Tag im Spätsommer 1977 besuchten wir Ost-Berlin. Mein einziger Tag in der DDR. Alles grau in grau, unfreundliche Menschen, überall sehr viel Polizei. #Grenzschützer# mit Schäferhunden in den Gleisen. Vergessen habe ich das sowenig wie den Geschmack der Ost-Cola. Als es hier losging, es muss im März oder April 2020 gewesen sein, als von Demonstrationen und Impfzwang noch längst keine Rede war, da fiel mir dieser eine Tag wieder ein: In der Innenstadt auffällig viele Polizeifahrzeuge, aber auch vom Ordnungsamt, der Ausländerbehörde (ZAB), die sonst nie zu sehen waren. Ein Obdachloser wurde brachial von seinem Platz entfernt. Im Vorbeigehen verstand ich von einem Uniformierten den Ausruf “Schnauze voll”. Was für ein Dejavu. Ich wähnte mich in meiner ureigensten Heimat wie in der DDR. Genau in diesem Augenblick hatte ich blitzartig etwas verstanden, und zwar in puncto Zukunft.

Thomas Kache / 04.06.2022

Ach nö, das ist keine Polizeigewalt gewesen. Das waren doch nur Hollywood- Versatz Schmierenstücke. Der Terminator/ Robocop als Willen- und Emotionsloser Clon ist doch nur ein Vollstrecker der MFS- Merkel und ihrer Innenministrierenden gewesen. Das die Polizei auch anders kann, beweist sie ja jeden 1. Mai und an gleichgearteten „Chaostagen“, welche von der Antifa veranstaltet werden. Aber, ach, die „Untertanen“ sind‘s ja zufrieden- scheint‘s. Happy happy ever after

Georg Dobler / 04.06.2022

Sollte das geplante Gesetz wirklich beschlossen werden, das, wen ich es richtig verstanden habe (ich hoffe immer häufiger dass ich etwas völlig falsch verstanden habe), Jugendlichen ab 14 ermöglicht, gegen den Willen der Eltern, Operationen zur Änderung des Geschlechtes vornehmen zu lassen, dann ist es mit dem “zivilisatorische Niveau” der ehemaligen Bundesrepublik vorbei. Dann sind wir ein Land ohne jegliches Niveau auf das andre sogenannte weniger entwickelte Länder mit Kopfschütteln herabschauen werden und in dem 10 Jahre später eine Vielzahl von Erwachsenen Selbstmord begehen werden weil sie als Jugendliche ihr Leben und ihre Menschenwürde zerstört haben. Kann ein Parlament so tief sinken, dass es mit einem Gesetz das eigene Grundgesetz, das die Würde des Menschen an erste Stelle setzt, mit Füßen tritt?

Richard Loewe / 04.06.2022

damit der Untertan “besitzlos glücklich” wird, muß er entwaffnet werden. Die Briten, Kiwis, Ozzies, und Canucks haben Schwabs Vision schon umgesetzt. In Deutschland wird das auch dieses Jahr passieren.

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