Von Peter Biro.
Der Begriff „Unterhund“ existiert gar nicht im ansonsten sehr reichhaltigen deutschen Vokabular, dabei ist für diesen Ausdruck ein recht großer Bedarf vorhanden. Der Unterhund ist insbesondere in linkslehnenden, sogenannt progressiven Kreisen groß in Mode, da man sich mit den so titulierten Subjekten gerne solidarisieren mag.
Was ist nun ein Unterhund? Dieser Begriff ist zunächst mal nur die wörtliche Übersetzung des originär englischen Terminus „underdog“, welcher laut Collins Wörterbuch wie folgt erklärt wird: The underdog in a competition or situation is the person who seems least likely to succeed or win. Oder anders ausgedrückt, er ist eine von vornherein unterlegene Konfliktpartei, der tatsächlich oder vermeintlich Ungerechtigkeit widerfährt. Laut ideologischer Verbrämung haben Unterdrückte auch stets recht und der Stärkere steht schon mal a priori auf der falschen Seite der Weltgeschichte. Und damit nähern wir uns dem „Unterhund“ im Kontext des Nahostkonflikts und seiner Bedeutung in der öffentlichen Wahrnehmung.
Im überwiegenden Teil der „Mainstream“-Medien wird der Kernkonflikt als eine asymmetrische Auseinandersetzung zwischen dem mächtigen Israel und den militärisch unterlegenen Palästinensern aufgefasst, was in den genannten Kreisen mit einer Solidarisierung mit den Letzteren einhergeht. Dies entspricht dem wohlbekannten Reflex von sozial und politisch mitfühlenden Menschen, dass man sich vorwiegend auf die Seite des Schwächeren schlägt. Das Engagement zugunsten von Underdogs gilt auch gemeinhin als eine lobenswerte Sache, sogar unabhängig davon, wer in Wirklichkeit im Recht ist. Ebenfalls nimmt eine solche, mitunter sentimentale Haltung die Komplexität des zugrundeliegenden Konflikts kaum mehr zur Kenntnis.
Erklärung komplexer Hintergründe a priori zum Scheitern verurteilt
Und hierin liegt das Verhängnis für Israel: Im verengten Blickwinkel der auf den asymmetrischen Schlagabtausch mit der Hamas fokussierten Betrachter prügelt ein hochgerüstetes und effizientes Militär auf einen viel schwächeren Gegner ein und damit fast im gleichen Atemzug auf überwiegend wehrlose Zivilisten. Und letztere können in der Enge des übervölkerten Gebietsstreifens nirgendwo Schutz finden. Das ist der Hauptgrund dafür, dass die weitgehend unbeholfenen Versuche der Israelfreunde, die komplexen Hintergründe der Situation zu erklären, von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Die historischen Hintergründe interessieren da viel weniger, und Fakten stehen dem sich längst verfestigten Weltbild nur im Wege. Dass hierbei die schwächere Seite der stärkeren die Existenzberechtigung abspricht und deren Liquidierung ohne zu zögern umsetzen würde, wenn sie dazu in der Lage wäre – das spielt in der Perzeption kaum eine Rolle. Dabei besteht Israel nur aufgrund seiner aus schierer Notwendigkeit geborenen Lebens- und Überlebensfähigkeit in einer feindlichen Umwelt. Die Gegenseite existiert, weil Israel nicht ihre Vernichtung anstrebt, obwohl es dazu, zumindest theoretisch, in der Lage wäre.
Die von israelischer Seite vorgebrachten Argumente in Presserklärungen und Verlautbarungen oder im Rahmen der „Hasbara“ genannten Öffentlichkeitsarbeit verpuffen wirkungslos, weil sie es nicht vermögen, die offensichtliche Asymmetrie im Kräfteverhältnis zwischen den beiden Konfliktparteien aufzubrechen und die wahren Hintergründe des Konflikts auf eine sichtbare Ebene hervorzuholen. Stattdessen konzentrieren sie sich auf den immer wieder betonten Unterschied in den Schutzmaßnahmen für die eigenen Zivilisten auf beiden Seiten. Man verweist auf die wirksame Abwehr von wahllos abgefeuerten Projektilen (Stichwort Iron Dome) im Unterschied zur Hamas, die bewusst ihre Waffen in der Nähe von Zivileinrichtungen platziert.
Zwangsläufig anfallende Zivilopfer der israelischen Gegenschläge nimmt man auf der Gegenseite nicht nur in Kauf, sondern begrüßt sie sogar, um entsprechende Bilder der schockierten Weltöffentlichkeit präsentieren zu können und im Kampf um Meinungen zu punkten. Da hilft es auch nicht viel, auf die Bemühungen der Israelis hinzuweisen, dass man stets versucht, Kollateralschäden zu vermeiden, im Voraus vor Angriffen zu warnen pflegt (Stichwort „Anklopfen“) oder bestimmte Aktionen abbricht, um Unbeteiligte zu verschonen. Bezeichnend in diesem Zusammenhang sind die Äußerungen eines geschassten UNRWA-Mitarbeiters, der es gewagt hatte, die israelischen Bemühungen um Schadensbegrenzung wahrheitsgemäß zu bestätigen.
Fakten werden verdreht, Ursache und Wirkung vertauscht
Gleichgültig, wie erfolgreich diese Maßnahmen waren, die israelkritischen Medien sprechen in vorauseilendem Gehorsam vor den Machthabern in Gaza bereitwillig von Massakern an der Zivilbevölkerung und verweisen gerne auf die stark unterschiedlichen Opferzahlen auf beiden Seiten. Es scheint fast, als wünsche man sich mehr israelische Opfer. Dabei spart man auch nicht mit unangemessenen Vergleichen für den Gazastreifen, wie „Freiluftgefängnis“ oder wie „Nazimethoden“ für die Abwehrmaßnahmen Israels. Gerade letzterer ist ein beliebter Topos in der einschlägigen Berichterstattung, der – mal abgesehen davon, dass er stellenweise von Holocaustleugnen vorgebracht wird – auf die rhetorische Frage hinausläuft, wie es möglich sei, „dass die ehemaligen Naziopfer ihrerseits zu grausamen Unterdrückern werden konnten. Offenbar hätten die Juden nichts aus der Geschichte gelernt“. Zu den psychopathologischen Hintergründen dieser – gerade bei Deutschen – sehr beliebten Auffassung haben bereits Berufenere ausführlich Stellung genommen.
Doch selbst in der „Mainstream“-Presse werden mitunter die Fakten verdreht (Leugnung von militärischen Installationen der Hamas in zivilen Einrichtungen), die Ursache-Wirkungs-Kausalität wird in ihr Gegenteil verkehrt (Verschweigen der Eskalation aufgrund des Raketenbeschusses durch die Hamas) und selektive Berichterstattung bei der Schuldzuweisung (Unterschlagung der „zu kurz“ geratenen Raketen der Hamas, die innerhalb Gazas einschlugen). Schlimmer noch, einige Schadensberichte basieren auf künstlichen Inszenierungen, die im Rahmen von sog. „Pallywood“-Produktionen medienwirksam hergestellt werden. In diesen kommen bei Pannen mit den Filmaufnahmen regelmäßig mit Kunstblut dramatisierte Verletzungen vor und von Totenbahren wiederauferstandene Leichen.
Versuche der in der Minderzahl publizierenden, israelfreundlichen Presse kommen gegen die propalästinensische Propaganda nicht mehr an; sie erscheinen allenfalls als Gegendarstellung zu vorangegangenen Meldungen und nur mit Verspätung, wodurch der Kontext zur ursprünglichen Nachricht kaum mehr hergestellt werden kann. Mit unverminderter Regelmäßigkeit erscheinen wiederum Schlagzeilen mit umgedrehten Kausalitätszusammenhängen, in denen die palästinensischen Opfer benannt werden, jedoch der Umstand, dass es sich dabei um die Bedienmannschaften der Abschussvorrichtungen handelte, findet – wenn überhaupt – nur im Nebensatz Erwähnung.
Zwiebelschalen-Modell gegen den publizistischen Blutrausch
Eine theoretische Möglichkeit, diesem publizistischen Blutrausch zu entgehen, wäre es, die „Underdog“-Sympathie des links-alternativen Publikums auf einige unberücksichtigte Sachverhalte zu lenken. Ich denke dabei an eine Art von Zwiebelschalen-Modell, wo man die äußeren Schichten um den israelisch-palästinensischen Kernkonflikt aufzeigen müsste, die eine andere Machtverteilung zeigen als gemeinhin angenommen. In der Tat, die Palästinenser sind im streng fokussierten, lokalen Bildausschnitt zweifellos die Underdogs. Aber wenn man allein schon die nächste anliegende, äußere Schale mit einbezieht, beginnt sich das Bild vom tatsächlichen Kräfteverhältnis zu wandeln. Der jüdische Staat ist von mehr oder weniger feindseligen Ländern und Bevölkerungsgruppen umzingelt. Darunter sind insbesondere hochgradig aggressive und potenziell gefährliche Akteure wie Hisbollah in Libanon und Teile der in Syrien stationierten iranischen Revolutionsgarden zu nennen.
Und wenn man eine weitere, nächste Schale betrachtet, tauchen weitere, schwer bewaffnete und potenziell gefährliche Kontrahenten auf wie die Houthis in Yemen und die im Irak agierenden schiitischen Milizen. Von hier ist es nur noch ein kleiner Schritt zur nächsten Schale, zum Iran, dem wahrscheinlich entschlossensten und fähigsten Gegner Israels. Dieser stellt eine vitale Gefährdung dar, die mit der rasanten Entwicklung seiner Nukleartechnologie noch ungeahnte Ausmaße annehmen wird. Zwar weist Israel ununterbrochen auf diese spezielle Bedrohung hin, stößt aber erstaunlicherweise auf wenig Verständnis. Dies sogar bei seinen Freunden, die sich am liebsten mit den Ayatollahs irgendwie arrangieren möchten. Die israelkritischen Medien verschweigen mit Vorbedacht den Umstand der schrill verkündeten, genozidalen Einstellung der Machthaber in Teheran.
Damit sind wir mit dem hier bemühten Zwiebelschalenmodell der nach außen zunehmenden „Underdog“-Konstellation zuungunsten Israels noch nicht am Ende. Man kann als nächste Ebene die gesamte arabische Welt als ein überwiegend feindseliges Ambiente ansehen; dies trotz diplomatischer Beziehungen und „kaltem Frieden“ mit einigen seiner Nachbarn. Letztere tun gar nichts gegen die Feindseligkeit ihrer eigenen Bevölkerung und diverser Institutionen. Im Gegenteil, sie unterstützen sie sogar. Eine weitere Außenschale bildet die nicht-arabische, islamische Welt, die nicht nur den vordem erwähnten Iran umfasst, sondern weitere mitunter extrem antiisraelische Akteure wie Erdogans Türkei, die Atommacht Pakistan und Malaysia, um nur einige, offen antisemitische (und keineswegs nur antiisraelische) Länder zu nennen. Und ganz außen, gewissermaßen als knisternde Außenhaut der symbolischen Zwiebel, sind die beiden Großmächte Russland und China, die trotz etablierter Beziehungen mit Israel die antiisraelischen Akteure mit Waffen, Informationen und politischer Unterstützung beliefern.
Israel ist zu erfolgreich, um als Underdog durchzugehen
Die fehlende Wahrnehmung für diese außen anliegenden Ebenen um den zentralen israelisch-palästinensischen Konflikt liegt im spaltbreiten Horizont der sich progressiv gebärdenden, linkslastigen Medienwelt. Diese Fokussierung auf einen ideologisch passenden Ausschnitt vom Gesamtbild macht es unmöglich, eine differenzierte Haltung einzunehmen. Die Frage, ob es sich hierbei um selektive Wahrnehmung oder gewollte Ignoranz handelt, ist nicht so einfach zu beantworten. Wahrscheinlich ist beides vorhanden, und alles wird obendrein von der Liebe zu den „Underdogs“ befeuert – wenn nicht sogar mit einer kräftigen Prise Antisemitismus gewürzt. Welche grotesken Ausmaße diese einseitige Blindheit angenommen hat, sieht man am besten bei der paradoxen Solidarisierung der LGBTQ-Bewegungen mit den explizit homophoben und misogynen Islamisten, bei gleichzeitig vehementer Feindseligkeit gegenüber der libertären und mannigfach toleranten israelischen Gesellschaft.
Wie relevant die ideologisch befeuerte Unterstützung des „Underdogs“ sein kann, und obendrein, wie wandelbar sie in ihrer Zielrichtung ist, kann man am plötzlichen Kippen der Sympathie von pro- zu anti-israelisch sehen, die sich in der Folge des triumphalen israelischen Sieges von 1967 manifestierte. Davor war die progressive Welt auf Seiten des damals noch als schwach und gefährdet angesehenen jüdischen Staates. Nachdem die wahren Kraftverhältnisse offenbar wurden (was im Prinzip bereits 1949 und erst recht 1956 absehbar war), entdeckte die links-progressive Welt die Palästinenser als Objekte der zu hätschelnden Unterprivilegierten. Dies rechtzeitig nach der Aneignung der bis dahin lediglich geographisch verwendeten Bezeichnung Palästina für die neu erfundene Nation. Die in etwa zahlenmäßig gleich starken jüdischen Flüchtlinge und Vertriebenen aus den arabischen Ländern wurden völlig ignoriert; vermutlich, weil sie – mal andere Unterschiede beiseite lassend – nicht im anfänglich prekären Status konserviert wurden wie ihre arabischen Schicksalsgenossen. Deren Flüchtlingsstatus wurde und wird über fünf Generationen hinweg vererbt, was eine absolute Novität darstellt.
Mit den augenscheinlich nicht stattfindenden Bemühungen, im erweiterten Kontext Verständnis für Israels Position als einen Underdog im globalen Maßstab zu gewinnen, wird auf absehbare Zeit kein Umschwung in der relevanten öffentlichen Meinung erfolgen. Israel ist zu erfolgreich, um eine für das engagierte Publikum vorzeigbare „Underdog“-Position sichtbar und verständlich zu machen. Die gute Nachricht in diesem Zusammenhang ist allerdings, dass die augenscheinliche Position der israelischen Stärke und Überlegenheit immer noch besser ist als die Alternative einer kräftemäßigen Unterlegenheit. Anders ausgedrückt: Lieber sollte Israel stark und in der Weltöffentlichkeit unpopulär bleiben, statt umgekehrt – von den sogenannten Progressiven bemitleidet zu werden, nur weil es schwach und unmittelbar in seiner Existenz bedroht ist.
Darum halte ich es lieber mit dem ansonsten abstoßenden Caligula, der gesagt haben soll: „Oderint, dum metuant (zu dt.: Sollen sie mich nur hassen, solange sie mich fürchten müssen)“.
Prof. Dr. med. Peter Biro ist ein Schweizer Arzt, Unidozent und Freizeitschriftsteller.