Barry hatte ein tiefes, reibeisenhaftes Kellerkneipenorgan, das diesen Hey-Leute-ich-hab-schon-alles-gesehen-Sound verströmte. Und was er sang, stellte uns die Nackenhärchen auf. Das Ende sei gekommen. Nämlich die komplette Zerstörung der Welt, die der Mensch in seinem Irrsinn selber angerichtet habe. The eve of destruction war da. Buh-huh!
Ich war frische 17, als ich die Sturmglocken der Apokalypse vernahm. Ich empfing sie auf der Mittelwelle via Radio Luxemburg, your station of the stars. Dabei war Barry McGuire, als er 1965 den Song seines Lebens einsang (angeblich in nur einer halben Stunde), gerade mal 30 Jahre alt. Und viel gesehen oder gar Welterschütterndes erlebt hatte blonde Folkie mit der niedlichen Strubbelfrisur, der eine Rolle in „Baywatch“ hätte einnehmen können, mitnichten.
Barry war ein ganz normaler Musikus seiner Zeit, ein bisschen politisiert, gewiss, doch keineswegs radikal. Den Text des Songs „Eve Of Destruction“, der sich über fünf Millionen Mal verkaufen sollte und ihn, Barry, langfristig zu einem wohlhabenden, kurzzeitig sogar weltbekannten Mann machte, hatte er nicht selber verfasst. Er mochte das Untergangslied, das er am Ende einer Studiosession müde und ziemlich schludrig röchelte, nicht sonderlich, wie er später zugab.
Autor der düsteren Ballade („If the button is pushed, there’s no running away”) war ein gewisser P.F. Sloan, der sich ansonsten hauptsächlich mit harmlosen Surferliedchen über Wasser hielt, wie sie Mitte der 1960er-Jahre in den USA florierten.
Wovon handelt das Stück überhaupt? Also, da beklagt einer den Zustand der Welt, die ihm untergangsgeweiht vorkommt. Atomwaffen, Krieg und Rassismus, Unterdrückung, Hass und Hetze allerorten. Von „Red China“ (wie man Maos Sklavenstaat zu nennen pflegte) bis „Selma, Alabama“ (wo Polizisten reihenweise Teilnehmer der legendären amerikanischen Bürgerrechtsmärsche zusammenknüppelten).
Diese Kalamitäten will jedoch ein imaginärer Freund des erweckten Sängers, der für die ignorante Mehrheit steht (gewissermaßen der Urtypus des Leugners), einfach nicht wahrhaben: „Ah, you don’t believe we´re on the eve of destruction”.
Da kann man auch gleich von der Klippe hüpfen
Was Barry da zum Besten gab, war kein Protestlied, sondern ein Doom Song. Protestlieder wie Dylans „The Times They Are a-Changin‘“ oder Donovans “Universal Soldier” klagen ebenfalls an, jaunern rum, lesen den Mächtigen die Leviten, enthalten aber letztlich die frohe Botschaft: Mit uns ist die neue Zeit! Doom Songs dagegen verkünden den unvermeidlichen Untergang. Da kann man auch gleich von der Klippe hüpfen.
Überraschenderweise verkaufen Armageddon-Gesänge sich blendend. Der „Vorabend der Zerstörung“ wurde 1965, als sich der Vietnamkrieg ausweitete, zu einem Riesenhit. Obwohl – beziehungsweise weil – ihn zahlreiche Radiostationen in den USA anfangs boykottierten. In Deutschland gab es 20 Jahre später ein paar ähnliche Gruselklopfer, davon später.
Was mich betraf, so war ich mit meinen siebzehn Jahren schon ganz hübsch untergangsgeübt. Ich besaß vage Erinnerungen an Gespräche der Erwachsenen über Beinahe-Katastrophen. Von Korea war öfters die Rede gewesen, auch von Ungarn. Mein ältester Bruder brachte bei Besuchen die linke Zeitschrift „Konkret“ mit, die er redigierte.
Auf den großformatigen Titelseiten waren manchmal die filigranen Zeichnungen des Apokalypse-Künstlers Wolfgang Grässe abgedruckt, etwa in Zusammenhang mit dem Algerienkrieg. Algerien war vor Vietnam das Lieblingssujet der Linken; die dortigen Gräuel galten ihnen als Vorgeschmack auf globale Barbarei. An welcher der Westen die Schuld trug, versteht sich.
Den Mauerbau kriegte ich voll mit, ebenso die Kuba-Krise. 1963 öffnete mir die Mutter eines Freundes, den ich abholen wollte, tränenüberströmt die Haustür. Sie hatte gerade im Rundfunk vom Attentat auf Kennedy gehört. Der junge, so agil wie viril wirkende US-Präsident war der Liebling vieler Deutscher. Frauen schwärmten für ihn. Sein Tod, so fürchtete auch die Mutter meines Freundes, werde die Welt verändern, könnte auch unser kleines, kuscheliges Wirtschaftswunderland in den Abgrund reißen.
Strauß weg und der Atomkrieg auf Eis
Die politische Stimmung war seit den mittleren 1950ern grundiert mit latenter Angst vor dem Atomtod, den die (von der DDR maßgeblich gesteuerte) Ostermarschbewegung unermüdlich an die Wand malte. Als Leibhaftiger war der Verteidigungsminister und Atomwaffenfan Franz Josef Strauß auserkoren, auf den sich die westdeutsche Linke schon lange vor seiner unrühmlichen Rolle in der „Spiegel“-Affäre eingeschossen hatte.
Es war für sie, die Linke, de facto ein herber Verlust, dass Strauß 1962 wegen der Affäre zurücktreten musste. Einen besseren Buhmann – gegen Strauß war Bonds Gegenspieler Blofeld ein Peter Alexander – bekam sie nie wieder.
Strauß weg und der Atomkrieg auf Eis, war damit nun erstmal Ruhe im Panikorchester? Njet! Jetzt ging es erst richtig los mit den Ängsten. Ab 1968 schüttete es aus allen Rohren, von allen Seiten. Vietnam stand weiterhin auf dem Zettel, dazu kam der Kampf gegen die Notstandsgesetze, gegen den Radikalenerlass (von den Linken als „Berufsverbote“ geframt), gegen die angebliche Isolationsfolter an recht kommod im Knast untergebrachten RAF-Terroristen, gegen die Volkszählung. Letztere Kampagne war wahrscheinlich die ulkigste, paranoideste, die in der BE-ERR-DE je stattgefunden hat.
Wirkungsmächtiger waren allerdings zunehmend jene Ängste, die sich auf Gesundheit, Natur und Umwelt bezogen. Angst vor Aids versetzte die halbe Welt in Stockstarre. Einer Generation junger Bundesdeutscher, die mehrheitlich wenig zu befürchten hatte, wurde der Spaß am Sex gründlich vermiest. Und zwar, weil aus durchaus honorigen, sozusagen solidarischen Gründen die Mär verbreitet wurde, die HIV-Seuche könnte „jeden überall treffen.“
Das Waldsterben hielt sich jahrelang an der Spitze der Panikcharts. Derzeit wird es wieder aus der Kiste geholt. Vergänglicher war der Rummel um das Ozonloch. Nach dem international durchgesetzten Verbot von FCKW gab das Loch seinen Geist weitgehend auf.
Die Ozonangst war sowieso entbehrlich, denn die Reaktorschmelze in Tschernobyl nahm nunmehr alle Angstlust in Anspruch, welche Deutsche aufzubringen vermochten. Die kanarische Insel La Gomera, bei den Hippies zur Freude der Einheimischen aus der Mode, war auf einmal wieder voll mit Ökos, die sich aus Verstrahlungsfurcht an den Atlantik flüchteten.
Wie ein zu lange stehen gelassenes Soufflé
„Noch ein Jahr nach der Katastrophe fühlten sich laut einer Allensbach-Umfrage 33 Prozent der deutschen Männer und 40 Prozent der deutschen Frauen ‚sehr bedroht‘“, schrieb der Spiegel, traditionell einer der emsigsten Treiber und Profiteure der deutschen Angstgesellschaft.
Ein imposanter Panik-Event fand 1983 statt, mit den Massenprotesten gegen die sogenannte Nachrüstung. Über eine Million Bundesbürger gingen am 22. Oktober gegen das Vorhaben der Nato auf die Straße, raketenrüstungstechnisch mit der Sowjetunion gleichzuziehen. Die Bewegung hatte auch Ohrwürmer. Nena landete mit „99 Luftballons“ einen Kassenschlager („99 Jahre Krieg, ließen keinen Platz für Krieger. Heute zieh ich meine Runden, seh die Welt in Trümmern liegen“).
Noch doomiger hörte sich ein Sänger namens Hans Hartz an, der mit seiner entfernt an Joe Cocker erinnernden Stimme nölte: „Die weißen Tauben fliegen nicht mehr, ab morgen gibt’s statt Glas nur Scherben. Komm her und schenk uns noch mal ein, Marie, die Welt reißt von der Leine.“
Indes, die Welt blieb hartnäckig auf ihrer Leine hängen. Seltsamer noch: Als die – durch Aufrufe wie den „Krefelder Appell“ stark von westdeutschen Kommunisten gesteuerte – Anti-Nato-Kampagne nicht fruchtete, fiel die von Medien und Prominenten hochgejazzte Bewegung rasch in sich zusammen wie ein zu lange stehen gelassenes Soufflé. Ein paar Jahre später kollabierte auch die Sowjetunion.
Gehen wir jetzt mal in den schnellen Vorlauf. Sonst kommt man nie durch mit all den Ängsten und Weltuntergängen. Über die der schlaue „Diplom-Kulturwissenschaftler“ und „Zeit“-Redakteur Johannes Schneider Bescheid weiß: „Die Menschheit hat sich zu allen Zeiten gern mit ihrem Ende befasst. Deshalb bemerkt sie nicht, dass es jetzt so weit ist.“
Dafür könnte ich den Johannes küssen.
Inmitten allem möglichen Rinderwahn- und Schweinepestgedöns passierte dann - 9/11. Ungezählte Male fiel fortan der Satz: „Danach wird nichts mehr so sein, wie es war.“
Das geschah so nicht ganz. Es kam wegen der Anschläge zu keiner globalen Konfrontation, keinem Börsencrash. Freilich, das Fliegen veränderte sich erheblich, hin zum Ungemütlichen für Passagiere. Dann, 2008, endlich eine schwere Finanzkrise! Und wieder hieß es, ab subito würde die Welt eine andre. Doch der robuste Kapitalismus verkraftete den Brocken. Weil Krisen nun mal zum Kapitalismus gehören, das ist ja seine Geschäftsgrundlage.
Am Pegel Cuxhaven nicht sehr viel zu bemerken
Jahre gingen ins Land. Eisbären oder Robben oder Insekten starben aus, nur um zwei, drei Jahre nach ihrer Todesanzeige zurückzukehren, manchmal in größeren Populationen als zuvor. Dramatisch stiegen die Meeresspiegel, so barmten Medien. Allein, auf der pazifischen Insel Kiribati und am (bei Fachleuten als Referenzpunkt geschätzten) Pegel Cuxhaven war davon nicht sehr viel zu bemerken.
Vor zwei Jahren startete ein gemütskrankes Mädchen aus Schweden eine Panikattacke wider die Vernunft. Die Veranstaltung schien wie ein Wunder aus Lourdes. Eine kleine Heiländin kuriert die moribunde Mutter Erde! Doch dann kam Corona, und der ganze Zirkus kippte zurück auf Wiedervorlage. So schnell vergeht der Ruhm der Umwelt.
Nach Corona wird, Sie ahnen es längst, natürlich nichts mehr so sein wie früher. Das schreiben die Medien. Killt das Virus vielleicht gar den Kapitalismus? Das glaubt und hofft der Philosoph Slavoj Zizek. Was mich an ein Graffito erinnert, das ich einst auf dem Klo des romanischen Seminars der Uni Hamburg las. Es ging so: „Gott ist tot (Nietzsche, 1882)“. „Nietzsche ist tot (Gott, 1900)“. Nicht, dass ich den Kapitalismus mit Gott vergleichen möchte! Und Zizek keinesfalls mit Nietzsche, bewahre.
Ach, es ist ein Elend mit dem Weltuntergang. Bereitet man sich auf einen vor, steht bereits der nächste in der Tür. Was dräut uns künftig? Wie wäre es mal wieder mit einem kleinen Nuklearkrieg? Oder: Hacker legen die Welt lahm? Zombieaufstand in den Metropolen? Trump bleibt Präsident?
In meinem Alter habe ich es gut. Die größte anzunehmende Katastrophe für das Land, in dem ich mehr oder minder gut und gerne lebe, ist bereits eingetreten. 15 Jahre Merkel und ihre Wenden, ärger kann‘s nun nicht mehr kommen. Nicht mal dann, wenn der nächste Bundeskanzler Andreas Scheuer hieße.