Von Till Schneider
Ich bin gerade im Trennungsjahr. Also in jener heiklen Phase, in der die beiden Parteien „... prüfen sollen, ob wirklich alles aus ist. Ist nichts mehr zu retten, braucht es Zeit, um sich vom anderen in jeder Hinsicht zu lösen”, so ein einschlägiger Web-Artikel über Scheidungsfragen. Doch heißt es dort auch: „Anwälte erleben allerdings durchaus, dass Ehepartner sich wiederfinden. Ein Versöhnungsversuch kann bis zu drei Monate dauern, ohne dass das Trennungsjahr unterbrochen wird. Gehen beide dann doch auseinander, gilt nach wie vor der bisherige Zeitpunkt der Trennung. Wenn beide länger zusammenbleiben, bevor sie sich trennen, beginnt alles wieder von vorn.”
Heißt für mich: Wenn ich jetzt nicht aufpasse, war die Kündigung meines „Süddeutsche”-Abonnements für die Katz, weil man mir die Lektüre der noch ausstehenden, bereits bezahlten Ausgaben als „Versöhnungsversuch” auslegen kann. Da ist also Vorsicht geboten. Und so bemühe ich mich jeden Morgen nach Kräften, meine Noch-Ehefrau nur flüchtig und schräg von der Seite her anzuschauen. Was aber nichts ändert, denn ich weiß trotzdem ganz genau, was sie denkt. Mein in neun Ehejahren trainierter Geist ergänzt jeden noch so kleinen SZ-Textschnipsel, der mir beim Durchblättern ins Auge fällt, mit erschütternder Präzision. Ich habe Stichproben gemacht.
Und das ist natürlich auch der Grund für meine Kündigung: Hat man den General-Algorithmus eines Blattes einmal geknackt, dann könnte man dieses Blatt ab dato auch selber schreiben, wenn man nichts Besseres zu tun hätte. Denn der Algorithmus besorgt ja die Umrechnung allen Geschehens in das entsprechende Weltbild, und zwar – entscheidender Punkt – vollautomatisch und anstrengungsfrei. Ich könnte mich also als „SZ-Automat” o.ä. auf den Jahrmarkt stellen und ganz entspannt Extrakohle einfahren. Aber leider steht dem mein Naturell entgegen: Wenn mir langweilig wird, werde ich unausstehlich. Das würde der Kundschaft nicht entgehen.
Es soll nun nicht gesagt sein, dass jedes Blatt einen solchen Algorithmus hat. Aber die SZ, die hat eben einen – wobei für ihren konkreten Inhalt der Klassiker gilt: Ausnahmen bestätigen die Regel. Dies wiederum einer der Gründe dafür, dass ich die SZ nicht schon viel früher gekündigt habe. Es gab doch immer wieder klasse Artikel darin. Ach! Da ergreift’s mich mit wildem Weh: Willi Winkler, Burkhard Müller, Susan Vahabzadeh – ich werde euch vermissen! Mal schauen, ob ich nicht auch in Zukunft das eine und andere von euch online schmarotzen kann, oder im Kaffeehaus! Und, Marc Felix Serrao: Bleiben Sie standhaft! Widerstehen Sie der Macht des Algorithmus! Denken Sie weiterhin selbst – und wenn man Sie dafür feuert! SIE finden auch woanders einen Job, Mensch! Wünsche ich Ihnen jedenfalls von Herzen!
Ein weiterer Grund für mein zähes Festhalten an der SZ gleicht aufs Haar dem, der mich – nicht immer, aber durchaus öfter – den „Tatort” gucken lässt: soziologisches Interesse. Meint insbesondere: Knallharte Privatstudien zum Vordringen des rot-rot-grünen Top-Down-Gutmenschentum-Verordnungswesens (schwarz gibt’s ja nicht mehr) bis in die letzte Ritze der Gesellschaft, und bis hinunter zum gemeinen Kriminalkommissar oder Journalisten, die heute ganz oft weiblich sind. (Wobei der gemeine Kriminalkommissar nur im TV ganz oft weiblich ist. Das ist eine staatlich geprüfte Tatsache. Im Journalismus hingegen muss nichts staatlich geprüft werden, da liegen die Verhältnisse offen zutage.)
Und was die SZ angeht, kann ich sagen: Nirgendwo sonst als bei ihr hätte ich „political correctness” derart gründlich erlernen können. Dies zwar zu dem Zweck, immer nur noch fieser das Gegenteil von PC zu praktizieren, aber genau deshalb musste ich mir ja die Gesetze der PC brutalstmöglich aneignen. Da sollte es nachvollziehbar sein, dass ich mir ein Avantgarde-Blatt gehalten habe und nicht irgendwas Lauwarmes, Halbgares. (Gut, zugegeben: Zunächst habe ich die SZ noch anders genutzt. Aber man reift eben, und wächst an seinen Aufgaben. Außerdem: „Wer in der Jugend nicht links ist, hat kein Herz; wer im Alter noch links ist, hat keinen Verstand.” Es ist nach wie vor strittig, ob dieses Sprichwort von Bertrand Russell, Georges Clemenceau oder Winston Churchill stammt – hab’s eben online in der SZ nachgelesen! –, aber letztlich kommt’s ja auf den Inhalt an.)
Noch sind es etliche Wochen, bis ich wieder nur noch eine Tageszeitung in meinem Briefkasten vorfinden werde. In dieser Zeit gedenke ich, würdevoll Abschied zu nehmen von „Tante Süddeutsche” – immerhin der auflagestärksten Qualitätszeitung Deutschlands. Ich habe mir vorgenommen, meine Gedanken, Gefühle, Abschiedsschmerzen dem hier begonnenen Tagebuch anvertrauen; ich will in Erinnerungen schwelgen, will meine Leserbriefattacken Revue passieren lassen (einschließlich persönlicher Antwortschreiben bis hin zum Chefredakteur), will darüber meditieren, weshalb diese Leserbriefe immer seltener abgedruckt wurden (eine Zeitlang war ich sozusagen Stammautor!), und ich will auf diese Weise auch gleich mein altes Ich zu Grabe tragen. Andernfalls ich ja nur ein trüber Gast auf dieser dunklen Erde wäre. So weit erstmal meine guten Vorsätze fürs alte Jahr.
+++ Wird vermutlich fortgesetzt +++
Till Schneider, geboren 1960, ist Pianist und Autor. Er studierte Musik, Journalistik und Psychologie.