Peter Grimm / 29.11.2022 / 06:00 / Foto: Studio Incendo / 87 / Seite ausdrucken

Mehr als ein Corona-Protest

Aus China wird von einer Protestwelle gegen das strenge Corona-Regime berichtet. Doch dieser Protest ist weit mehr, gerade in einer kommunistischen Diktatur. Die versteht jede öffentliche Forderung nach Freiheit als existenziellen Angriff und das wissen die Demonstranten genau.

Mindestens tausend Menschen, so las man auch in deutschen Medien am Montag, versammelten sich am Morgen auf einer Hauptverkehrsstraße in Peking und skandierten: „Wir wollen keine Masken, wir wollen Freiheit." Sollte man jetzt daran erinnern, wie Demonstranten, die solches auf deutschen Straßen skandiert hätten, vor nicht allzu langer Zeit in den meisten Medien und von regierenden Politikern bezeichnet worden wären? Die Zuschreibungen „Querdenker“ oder „Coronaleugner“, die sich in einer Szene tummeln, in der auch die „Delegitimierung des Staates“ gepflegt werde, hätte man sicher lesen und hören können.

Nun, die Versuchung mag groß sein, jenen Kollegen ihre verbalen Entgleisungen vorzuwerfen, die in den Hochzeiten des deutschen Corona-Ausnahmezustands die Diffamierung von Unmaskierten und die Ausgrenzung von Ungeimpften mit geiferndem Beifall publizistisch begleiteten. Solche Verbindungen herzustellen, wäre aber vollkommen unangemessen. Das Risiko, das jeder Demonstrant in Urumqi, Shanghai, Peking oder all den anderen Städten, in denen inzwischen protestiert wird, in Kauf nimmt, den Mut und/ oder die Verzweiflung, die es für die aktive Teilnahme an solchen Demonstrationen braucht, würde man damit auch dann kleinreden, wenn man das vermeiden will.

Die Proteste, von denen nur ausschnitthafte Berichte in die internationalen Medien gelangen, sind – so heißt es in einigen Berichten – immerhin die größten seit 1989, als die damalige Demokratiebewegung in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens demonstrierte, bis sie am 4. Juni durch einen blutigen Militäreinsatz zerschlagen wurde.

Des Kanzlers nettes Treffen mit Xi Jinping

Die Proteste jetzt scheinen sich nicht nur in Windeseile auszubreiten, sondern sie blieben auch nicht nur Protest gegen die Corona-Restriktionen, sondern wurden zu Demonstrationen gegen die Herrschaft von Xi Jinping und seiner Kommunistischen Partei. Welche Dynamik sich da entwickeln wird, darüber kann jetzt jeder spekulieren. Um mich aber hier mit öffentlichen Analyse-Versuchen vorzudrängeln, fühle ich mich nicht hinreichend kompetent. Weder beherrsche ich die Sprache noch habe ich ein chinesisches Umfeld. Für fundierte eigene Anschauungen war ich wiederum zu selten und zu kurz in China.

Aber mir gehen diese Proteste auf eine andere Art nahe, so wie vielleicht auch Anderen, die in einer kommunistischen Diktatur aufgewachsen sind und deshalb mit gewissen Grundmustern einer jeden Diktatur vertraut sind, die es bei allen noch so großen kulturellen Unterschieden gibt. Dazu gehört dann auch das Gefühl der Verbundenheit mit denen, die sich gegen die Diktatur auflehnen. Leider, so ist zu erwarten, wird diese Verbundenheit von unseren Regierenden nicht geteilt. Der Kanzler hatte jüngst noch ein nettes Treffen mit dem Pekinger Machthaber Xi Jinping. Die Volksrepublik ist ein zu wichtiger Handelspartner, als dass sich unsere Regierung hier wirklich engagieren will. Die Wirtschaft schränkt sich ja schon ein, um es dem Putin zu zeigen, da kann sich das Land nicht auch noch mit dem Xi anlegen, oder?

Und was dessen Corona-Politik angeht, so ist die Bundesregierung, in der der heutige Kanzler noch Vize-Kanzler war, wie auch andere westliche Regierungen dem von China vorgelegten Kurs der Lockdowns, Ausgangssperren und Kontaktverbote ja lange Zeit gefolgt. Und Xis Null-Covid-Träume, die dieser dekretieren kann, mochte manch deutscher Politiker auch, aber sie ließen sich nicht durchsetzen. Dazu waren in der Bundesrepublik trotz Ausnahmezustand und stark eingeschränkter Grundrechte immer noch zu viel Rechtsstaat und Demokratie übriggeblieben.

Furcht, dass die nächsten Bilder die von Schüssen und Blutlachen sein werden

Der chinesische Machthaber hingegen schien durchregieren zu können. Schien? Gern würde ich jetzt schreiben, dass er es nur bis zu dem Punkt konnte, an dem die Protestwelle losbrach. Aber wie wahrscheinlich ist es, dass er ihr nachgeben wird? Sollte er seiner Sicherheitskräfte und seines Militärs noch sicher sein, dann wird er auch diesen Protest zerschlagen. Inwiefern ihn welche Konstellationen zu einem teilweisen Einlenken zwingen könnten, ist eine Frage, in der ich wieder auf einem Feld spekulieren würde, auf dem ich mich nicht hinreichend auskenne.

Ich sehe nun aus der Ferne die Bewegtbilder vom Protest in China. Ein Teil von mir freut sich, dass sich die Welle ausbreitet, immer mehr Demonstranten mutig werden und sie vielleicht auch einige Erfolge verbuchen können. Ein anderer Teil von mir sieht sie in der Furcht, dass die nächsten Bilder die von Schüssen und Blutlachen auf der Straße sein werden.

Dieses Gefühl ist im Osten sicher nicht ungewöhnlich. Ich bin damit groß geworden. Im August 1980, mit 15 Jahren, saß ich mit meinen Eltern mit genau dem gleichen Gefühl vor den Fernsehnachrichten aus Polen. Dort wurde gestreikt, wurden für einen kommunistischen Staat umstürzlerische Forderungen erhoben und meine Eltern fürchteten, bald die Bilder der rollenden Panzer zu sehen, wie sie sie aus dem Juni 1953 im heimatlichen Ost-Berlin oder 1968 aus Prag kannten. Es war schier unglaublich, dass die Streiks in Polen dann in das Danziger Abkommen zwischen einer kommunistischen Regierung und einer damit offiziell anerkannten unabhängigen Gewerkschaft, also der Opposition, mündeten. Die Machthaber gaben nach und mussten Grenzen ihrer Macht anerkennen. Dass dann im Dezember 1981 die Panzer doch noch rollten und das Kriegsrecht verhängt wurde, konnte das Gesehene, also dass Unmögliches möglich werden kann, nicht mehr verdrängen.

Am 4. Juni 1989 rollten in Peking die Panzer 

In Polen konnten die Kommunisten trotz Kriegsrecht ihre Macht nicht mehr halten. Die Sowjetunion mochte sich bekanntlich nicht mehr mit aller Macht in den Satellitenstaaten engagieren, und so kam es bei den östlichen Nachbarn nach Verhandlungen zwischen Opposition und Regierung am Runden Tisch zu den ersten immerhin teilweise freien Parlamentswahlen. Erster Wahltag war genau jener 4. Juni 1989, an dem in Peking die Panzer rollten und die Demokratiebewegung mit militärischen und geheimpolizeilichen Mitteln zerschlagen wurde.

Die kommunistischen Diktaturen in Ost- und Mitteleuropa gibt es nicht mehr. In China herrschen die Kommunisten immer noch und sie beherrschen ein Land, das sich zu einer Weltmacht entwickelt hat. Eine Macht, die keine westlichen Sanktionen fürchten muss und ungemein stabil erschien. Vielleicht ist sie es nicht. Egal, was die Experten dazu sagen: Diejenigen, die sie in chinesischen Städten als Demonstranten mit ihren Forderungen nach Freiheit infrage stellen, verdienen Unterstützung.

Nur vor der Frage, was getan werden könnte, steht man dann natürlich etwas hilflos da. An wirklich praktischer Hilfe sicher kaum etwas, zumindest fällt mir nichts ein. Aber es sollte einen wenigstens daran gemahnen, sich die Freiheit, für die Andere streiten müssen und die man hierzulande einmal hatte, nicht widerspruchslos einschränken zu lassen. Wir sind doch hier im Zeichensetzer-Land. Da kann man doch zum Zeichensetzen in Bussen und Bahnen dem chinesischen Demonstrations-Slogan „Wir wollen keine Masken, wir wollen Freiheit" folgen. Das hilft den chinesischen Demonstranten nicht direkt, das ist richtig. Aber es hilft gegen die Gewöhnung an vormundschaftliche Gängelung und die damit einhergehenden Freiheitsverluste.

Lesen Sie zu diesem Thema auch: Chinas Widerstand gegen die Null-Covid-Eliten

Foto: Studio Incendo CC BY 2.0 via Wikimedia Commons

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giesemann gerhard / 29.11.2022

@dr.michael k.: In Australien ist gefühlt jeder zweite Einwohner Asiate, davon die meisten Chinesen. In Melbourne findet man die größte Chinatown der südlichen Hemisphäre - mit einem Platz und Standbild von Sun-Yat-Sen. In den USA fühlen sich Chinesen pudelwohl. Ich halte nichts von der These, die seien für Demokratie, für westliche Standards nicht zu haben. Hongkong zeigt das übrigens genauso wie Taiwan. Das einzig Attraktive ist der Westen in seinen verschiedenen Spielarten, alles andere fällt stark ab. Das wissen auch die Russen, ihre slawischen Brüder so wie so. Von den Schwestern ganz zu schweigen. Usw.

Gerard Doering / 29.11.2022

Beim Lesen Ihres Textes habe ich Gedanken entwickelt die mir vieles noch deutlicher erscheinen lassen. Erwähnen möchte ich nur die Rufe vieler Chinesen “wir wollen keine Masken wir wollen Freiheit”. Masken um die Freiheit zu bekämpfen, das ist es worum es auch bei uns geht. Für die ist Freiheit ein Feuer welches gelöscht werden muss, so wie damals bei den Aufständen auf dem Platz des himmlischen Friedens. Und noch eine Erkenntnis: die Chinesen können kaum mehr Grips haben als die Deutschen.

Hans-Peter Dollhopf / 29.11.2022

A. Schröder: “Obwohl doch hier noch mindestens ein Grund mehr zum Protest besteht. Aber darüber berichten ‘Qualitätsmedien’ und achse nicht.” - - - Falsch. Macht Achgut sehr ausführlich, aber eben nicht im Sinne von Putins Propaganda. Von daher auch Ihr Problem damit.

Rainer Schweitzer / 29.11.2022

Ich sehe zwei fundamentale Unterschiede zwischen den mittel- und osteuropäischen Diktaturen und China. 1, Die Bedeutung des Individuums. Wo im europäischen Kulturraum seit der Renaissance das Individuum in den Mittelpunkt rückte, was auch der Sozialismus nicht auflösen konnte, dominiert in China der Konfuzianismus, wo das Individuum eine wesentlich geringere Bedeutung per se hat. 2. China hat über 1.000 Millionen Menschen. Die Machthaber können es sich leisten, im Volk nichts weiter als eine gesichtslose, amorphe Masse zu sehen. Würde plötzlich 1 Million fehlen, etwa, weil sie im Rahmen einer Protestniederschlagung zusammengeschossen würden, so würde das weder im Straßenbild, noch gesamtgesellschaftlich überhaupt auffallen. Umgekehrt stellt sich dann die Frage, welche Bedeutung es hätte, wenn landesweit 1 Million demonstrierten.  Oder wenn, wie jetzt, einige Tausend demonstrieren. Solange die Loyalität der Streitkräfte, Polizei und Geheimdienste nicht erodiert, fürchte ich das Schlimmste. Allein die Armee hat ca. 2 Mio. aktive Soldaten.

rolf schwarz / 29.11.2022

Lieber Herr Grimm, Ihr guter Ansatz, den Chinesen durch demonstratives Absetzen der Masken ein Zeichen zu setzen ist nicht schräg genug, und daher kaum umsetzungsfähig. Unser irrer Krankheitsminister hatte da schon eine bessere Idee, und bietet den Chinesen “zur Lösung der Probleme” unsere Impfstoffe an. Als nächstes wird dann wohl der Verkehrsminister mal ein Zeichen setzen, und den Zügen und Bussen große Aufkleber in chinesischen Schriftzeichen so wie z.B.  “Freiheit für China. Kein Maskenzwang! Kein Testzwang!” verpassen. Die Leutchen drinnen haben, neben den obligatorischen Masken im Gesicht, auch noch gelbe Armbinden (vom Innenministerium kostenlos verteilt) mit “Freedom for China, no Zero Covid” am Arm. ARD und ZDF setzen Xi Jinping auf die gleiche verbrecherische Stufe wie Putin, also oberhalb von Mao, Hitler, Stalin…..

Steffen Huebner / 29.11.2022

Steinmeier ruft zur Achtung der Demonstrationsfreiheit auf - in China.

A. Schröder / 29.11.2022

Immerhin, in China Proteste gegen Coronamaßnahmen und Politik, im großen Stil. Da ist Deutschland noch weit entfernt. Obwohl doch hier noch mindestens ein Grund mehr zum Protest besteht. Aber darüber berichten “Qualitätsmedien” und achse nicht.

dr. michael kubina / 29.11.2022

Einmal unterstellt, die Proteste wären erfolgreich im Sinne eines Regimewechsels: Was könnte danach kommen? Was wünschen wir uns und wie realistisch sind unsere Wünsche? Die Staaten Ostmitteleuropas waren Teil der abendländischen Geschichte, Rußland und der Balkan schon nur noch sehr bedingt. Man kann die Grenzlinien heute noch an den Funktionsweisen der Gesellschaften erkennen. China hat eine vollkommen andere Geschichte. Ich halte es für extrem unwahrscheinlich, dass China selbst im Falle eines Regimewechsels / Sturz Xis auch nur andeutungsweise sich in Richtung einer westlichen Gesellschaft entwickelt und frage mich langsam auch, ob das überhaupt erstrebenswert wäre.  Ich glaube, die künftigen Gesellschaftssysteme werden sehr stark von der Entwicklung der künstlichen Intelligenz geprägt sein, ein neues Oben und ein neues Unten wird entstehen etc. etc. Die Proteste in China vor der Folie der 80er Jahre in Osteuropa zu sehen, führt zu nichts, hat schon beim sog. “arabischen Frühling” in die Irre geführt. Es war und ist alles Jugendprotest, fast aller Protest in der Geschichte war Jugendprotest. Es sind junge Männer die “krieg” führen, wofür auch immer.

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