Mit 31 Jahren gelang dem Amerikaner Eli Pariser ein Durchbruch. Bis dahin hatte der linke Aktivist nur so im Internet herumgeraschelt. Hatte Online-Petitionen für eine „nichtmilitärische Reaktion“ auf die Anschläge des 11. September verfasst, Wahlkampfspenden für Kandidaten der Demokratischen Partei eingeworben, war auf Konferenzen digitaler Windmacher aufgetreten.
Dann nagelte er 2011 die These von der „filter bubble“ an die Wand. In einer Filterblase seien viele Zeitgenossen gefangen; sie würden dadurch immer engstirniger. Der Begriff geriet schlagartig zum Hit in digitalen Schnatterräumen und in der echten Welt des Smalltalks. Parisers Buch „Filterblase. Wie wir im Internet entmündigt werden“ wurde ein Bestseller; der Autor ein Star des elaborierten Raunens über unerhörte Gefahren des Digitalzeitalters.
Was nun hat es mit dieser Filterblase auf sich? Pariser wollte zum Beispiel festgestellt haben, dass die bis zu einem gewissen Grad personalisierten Ergebnisse, die bei Suchanfragen von Google & Co. angezeigt werden, politisch unterschiedlich gepolte Nutzer mit völlig verschiedenen Treffern beliefern. So habe nach der Katastrophe auf der Bohrplattform „Deepwater Horizon“ ein Linker, der als solcher durch seine Internetvorlieben identifiziert war und den Begriff „BP“ eingab, Infos über die Ölverschmutzung im Golf von Mexiko bekommen. Dagegen sei ein Konservativer mit Tipps für Investitionen in die BP versorgt worden.
Aus dieser Anekdote strickte Pariser die Behauptung, durch Algorithmen würden Internetnutzer in digitale Blasen, Resonanzräume und Echokammern verschoben. Und derart von der Außenwelt abgeschottet, dass sie andere Sichtweisen gar nicht mehr wahrnähmen.
Nichts an dem Konstrukt war belegt
Das F-Wort war Kraftfutter – für die allzeit tobenden „Netzdebatten“ ebenso wie für das Genre des politisierten Feuilletons. Welches selbst auf den blankpoliertesten Glatzen noch gesellschaftsanalytische Löckchen zu drehen vermag. Die Bubble sorgte über Jahre für Debattenstoff und tut es bis heute. Wer bei Google „Filterblase“ eingibt, wird reihenweise fündig. Beim Stöbern stößt man auf Perlen der Verstiegenheit, wie höhere Töchter des Kulturnudelbetriebs sie kultivieren.
Der Hype der Filterblasentheorie ist höchstens noch mit dem der „Midlife-Crisis“ zu vergleichen, ein populäres Partyplappersujet in den USA der frühen 1970er. Laut ihrem Erfinder ächzten Männer in der Mitte ihres Lebens unter Schwermut, Nostalgie und Aussichtslosigkeit. Nichts an dem Konstrukt war belegt oder auch nur parawissenschaftlich angetüncht.
Was nicht verhinderte, dass es sich wie Dämmschaum ausbreitete. Der kürzlich verstorbene „Spiegel“-Autor Hermann Schreiber rubelte das Thema 1976 auf Deutschland um und hob es auf einen Sommerloch-Titel des Magazins. Das Heft verkaufte sich bestens. Schreiber pumpte die Coverstory zu einem Buch auf, das ebenfalls wegging wie Geschnittenes. Bis auf den heutigen Tag gilt das Gespinst von der unvermeidlichen „Krise in der Mitte des Lebens“ als Tatsache.
Gleich der Midlife-Crisis entbehrt auch die Filterblase einer belastbaren Grundlage. Denn ungeachtet einer gewissen Personalisierung, welche zum Beispiel Suchmaschinen vornehmen (angesichts ozeanischer Datenfluten im Netz ist das auch für den User meist ganz kommod), trotz zielführender Maßnahmen also bekommt jeder Suchende im Großen und Ganzen dieselben Ergebnisse, gibt er einen Namen oder Begriff ins Suchfeld ein.
So neuartig wie Kuhscheiße auf der Weide
Ferner stößt er in den Fundstücken auf ungezählte Links, die ihn mit den unterschiedlichsten Infos versorgen könnten, so er das denn will. „Der Gedanke von Eli Pariser, wir liefen aufgrund von personalisierter Informationsauswahl unter den heutigen Kommunikationsbedingungen Gefahr, ‚in einer statischen, immer enger werdenden Ich-Welt gefangen zu werden‘, wirkt vor diesem Hintergrund ziemlich unplausibel“, befand der Medienprofessor Bernhard Pörksen vor zwei Jahren in der NZZ.
Nicht bloß plausibel, sondern eine Erfahrungsbinse ist der Umstand, dass Menschen danach trachten, sich vorzugsweise mit Menschen auszutauschen, die ähnlich wie sie ticken. Eine Tendenz zur „Selbstabschottung und Bestätigungssehnsucht“ (Pörksen) kommt bereits in den Peergroups der Schulhöfe auf. Das Verhalten ist so neuartig wie Kuhscheiße auf der Weide.
Dafür bedarf es keiner finsteren digitalen Manipulation, es entsteht von allein. Der Hang, sich durch Klamotten, Hobbys, Musikvorlieben oder Fußballvereinen zu distinguieren, ist Teil der Pubertät. Geht schließlich „das Denken los“ (Robert Gernhardt), zersplittern die Szenen noch anderweitig.
Haltung, oder was dafür gehalten wird, ist plötzlich ganz wichtig. Und Leute mit derselben Haltung bilden nun mal eher Cliquen als solche mit total entgegengesetzter. Filterblasen? Läuft seit eh und je unter Birds of a feather.
Plötzlich begann der Kulturkampf
Gehen wir etwas zurück? Als der Transistor die Radioröhre abzulösen begann, wuchs ich in einer kleinen, konservativen Beamtenstadt an der Niederelbe auf. Damals ein recht vermufftes Kaff, die Lehrerschaft am Gymnasium zum Teil noch post-braun. Ein harmloser Aufsatz in der Schülerzeitung („Vom Küssen Kinder kriegen?“) langte schon für einen Sex-Skandal.
An den Kiosken hingen die richtigen Zeitungen. Neben dem Lokalblatt vor allem Springer-Erzeugnisse. Mittenmang, durchaus nicht verschämt platziert, die „Deutsche Soldaten-Zeitung und National-Zeitung“. Sie brachte Schlagzeilen wie „Sechs Millionen Deutsche ermordet. Der wahre Holocaust an unserem Volk“ oder „Sollen wir ewig für Israel zahlen?“
Ein Häuflein Oberschüler mit angenommener Haltung, unter ihnen ich (gemeinsam sozusagen eine Filterblase) las den „Spiegel“. Das Oppositionsblatt! Wir hatte ja die Spiegel-Affäre mitgekriegt, verfluchten Strauß und alle Bayern sowieso.
Dann stand im größten Plattenladen am Ort auf einmal eine LP (eine „Langspielplatte“, A.d.A.) im Schaufenster, die einen Milchbubi im Denim-Hemd zeigte. Darunter der Titel „The Times They Are A-Changin´“. Tatsächlich änderte sich vieles, und zwar sehr rasch. Mit dem Aufdämmern der Studentenbewegung kam ein Kulturkampf in Gang. Springer fuhr einen kompromisslosen Kurs gegen „Kommunisten“, „Gammler“, „langhaarige Affen“.
Eine stattliche Anzahl von Hass-Sehern
Aber auch der Spiegel fuhr Geschütze auf. Rudolf Augsteins interessantes Magazin zu lesen, war in meiner kleinen Stadt bald kein großes Alleinstellungsmerkmal mehr. Und an der Uni in Hamburg, meiner nächsten Station, wurde es zum Maß allen Bescheidwissens, die „Frankfurter Rundschau“ zu verschlingen.
Das einstige Lokalblatt entwickelte sich zum bundesweiten Transmissionsriemen für Sozen, Gewerkschafter, linke Christen und Friedensbewegte. Mit Gerd von Paczenskys „Panorama“, dem ersten Politmagazin des deutschen Fernsehens, ging eine dezidiert linke Riege auf Sendung. Heiß geliebt von der einen, viel geschmäht von der anderen Filterblase.
Natürlich konnte man (ab 1969) auch das Gegenstück gucken, Gerhard Löwenthals „ZDF-Magazin“. Sowohl das linke Panorama wie auch das rechte Pendant vom ZDF erfreuten sich einer stattlichen Anzahl von Hass-Sehern, die sich über die jeweiligen Darbietungen lustvoll echauffierten. Ich weiß das, weil ich genügend Linke kannte, die Löwenthal selten ausließen. Verrückt, oder? Heute fiele es keinem Windradenthusiasten ein, die „Achse des Guten“ oder „Tichys Einblick“ zu lesen.
Mit anderen Worten, es gab für eine lange Periode der deutschen Nachkriegsmediengeschichte zwei große publizierende Lager. Springer war mächtig, gewiss, aber der Spiegel und der zeitweise über 1,8 Millionen Mal verkaufte „Stern“ waren auch nicht von Pappe. Die liberale „Zeit“ wurde spätestens ab 1969 linksliberal. Und die vielen, damals noch in einiger Blüte stehenden SPD-Blätter waren als Meinungsschleudern nie zu unterschätzen.
„Mainstreammedien“ sind realexistierende Marke
Man hatte die Wahl. Wer Peter Boenisch und dessen „Bild“ verachtete und konservative bis ultrakonservative „Welt“-Schreiber vom Schlage Herbert Kremp und Matthias Walden nicht ertrug, der konnte sich an Beiträgen von Roderich Reifenrath, Eckard Spoo oder Wolfram „Adorno“ Schütte in der FR ergötzen. Auf einen Hertz-Eichenrode kam ein Wallraff, auf einen Enno von Loewenstern ein Engelmann. Die Buchverlage machten gutes Geld mit linkem Schriftgut, allen voran Rowohlt. Die Verhältnisse waren, wie man zu sagen pflegte, ausgewogen.
Das ist nach meinem Eindruck passé. Das Wort „Mainstreammedien“, ursprünglich abwertend gemeint, inzwischen gelegentlich von den MSM selber benutzt, ist eine realexistierende Marke, ein Faktum. (Vom Staatsfernsehen soll hier nicht die Rede sein. In ARD, DLF und ZDF gibt es nicht ein einziges konservatives Format mehr und seit etwa 2016 kaum noch regierungskritische Stimmen.)
In den privaten Medien kommen Fakten und Meinungen, die gegen unkontrollierte Massenmigration, Energiewendeillusionen, Europaträumereien oder Klimahysterie eindeutig Stellung beziehen, so gut wie nicht mehr vor. Und wie lange „Bild“ noch gegen den einen oder anderen Stachel löckt, wie im Fall des Virologurus Drosten, wird sich zeigen. Die Kampagne von so gut wie allen publizierenden Gesinnungsathleten gegen Bild-Chef Julian Reichelt müsste irgendwann wirken, geht es mit linken Dingen zu.
Ein eloquenter, rechter Rüpel
In den USA ist das Spektrum breiter, trotz der Anti-Trump-Phalanx von „New York Times“, „Washington Post“, CNN, MNBC. Amis können etwa bei „Fox News“ erfahren, wie Trump-Fans die Welt (aka die USA) betrachten. Das klingt oft reichlich rabiat, ist aber manchmal erfrischend. Einen Haudrauf wie Tucker Carlson vermisse ich in Deutschland. Und sei es bloß, weil so ein eloquenter, rechter Rüpel es bei uns nie in ein reichweitenstarkes Altmedium schaffte.
Übrigens, auch ein Interview, wie das mit dem Ökonomen Glenn Loury, der darin ein paar höchst unbequeme Wahrheiten über die Rassismusfrage serviert, wäre in diesem Land undenkbar. Was mit Redakteuren geschieht, die etwa in Sachen „Seenotrettung“ gegen den Strom rudern, das war ja ein statuiertes Exempel. Bestrafe eine, erziehe hundert.
Damit zurück auf Anfang. Die große Resonanz, die das Denkbild von der Filterblase in interessierten Kreisen auslöste, hat einen triftigen Grund. Insassen jener angeblichen Blasen, so insinuieren angebliche Experten, seien nämlich überwiegend Anhänger der Rechtspopulisten, die sich den formidablen Mainstreammedien verweigern.
Leute, die sich gelegentlich eine zweite Meinung über gesellschaftliche Fragen von aufsässigen Portalen abholen. Letztere haben sich längst zu einer Art Gegenöffentlichkeit gemausert, ähnlich der Frankfurter Rundschau oder „Konkret“ in den 1960ern.
Türsteher möchten sie immerfort sein
Während jedoch die Linke einst Gegenöffentlichkeit vehement bejahte, sind die „Ewigmorgigen“ (Copyright Michael Klonovsky) nunmehr bestrebt, neue Medien nach Kräften madig zu machen. Vor „Spartenbloggern“ und „Freizeitreportern“ wird da gewarnt. O-Ton aus einer flammenden Verteidigung des alten, einzig wahren Schurnalismus:
„Ein guter Journalist recherchiert sorgfältig, filtert Themen nach Relevanz, prüft Fakten, bewertet, erklärt Zusammenhänge und Hintergründe.“
Jedoch:
„Die journalistische Rolle des Mittlers, Dolmetschers und Erklärers ist akut bedroht: durch Laien-Schreiber, die sich als Journalisten tarnen.“
Verständliche Angst der MSM: endgültig ihre angemaßte Funktion als Erklärbär, neudeutsch „Gatekeeper“ einzubüßen. Der Terminus stammt aus den, nun ja, Sozialwissenschaften und ist herrlich entlarvend. Ja, Türsteher möchten sie immerfort sein, die Leute vom Mainstream-Wachdienst. Schleusenwärter, bestimmend, was durchkommt an Informationen und was nicht. No pasarán!
Doch der Zug ist abgefahren. Die neuen Medien sind gekommen, um zu bleiben. Heulen nützt nix.
PS: Auch die „Achse des Guten“ ist selbstverständlich eine Filterblase. Wie, sagen wir, „Zeit online“. Allerdings fühlt man sich bei ZON zeitweise eher in eine Gummizelle versetzt. Lesen Sie mal den 867sten Zeit-Artikel über die Untaten des Donald T. und die Forums-Kommentare dazu. Warnung: Es wird da mitunter sehr eklig.