Die – nach Umfragewerten – kleinste „Große Koalition“ die es je gab, hat – nach den Worten der Übergangs-SPD-Vorsitzenden Malu Dreyer – einen sozialpolitischen Meilenstein gesetzt. Das klingt gewaltig, beinahe so, als hätten die drei Parteivorsitzenden, die der Presse am Sonntagnachmittag ihren hart errungenen „Kompromiss“ zur Grundrente verkündeten, eine neue Rentenformel gefunden, mit der sich die Grundrechenarten auch über das Jahr 2030 hinaus austricksen lassen.
Aber die in der Wählergunst arg geschrumpften Großkoalitionäre hatten mitnichten die Herausforderung angepackt, dass das gegenwärtige Rentensystem den Wechsel der geburtenstärksten Jahrgänge von der Einzahler- auf die Empfängerseite in den nächsten gut zehn Jahren nicht überstehen kann. Nein, es ging – kaum einem Medienkonsumenten konnte es in den letzten Wochen entgangen sein – um die Grundrente, die alle bisherigen Grundsicherungsempfänger, die mehr als 35 Jahre rentenversicherungspflichtig gearbeitet haben, ab 2021 bekommen sollen. Mit jährlichen Mehrkosten aus dem Steuertopf von 1,5 Milliarden Euro kalkuliert die Bundesregierung an dieser Stelle. 1,5 Millionen Menschen sollen davon profitieren.
Bei 1,5 Millionen potenziellen Wählern kann – das muss man verstehen – bei Funktionären einer Partei, die dem Abgrund der Bedeutungslosigkeit Wahl für Wahl näher rückt, der nüchterne Verstand schon mal aussetzen. Und so forderte die SPD schon vor Monaten, dass es die aufgestockte Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung geben solle. Die Christdemokraten sperrten sich und verwiesen allen Ernstes auf den Koalitionsvertrag, in dem von der Bedürftigkeit die Rede ist. Aber in den modernen Zeiten gilt das penible Einhalten von Verträgen ja als Kleinkrämerei von Ewiggestrigen, wenn man die geltenden Regeln doch für eine gute Sache über Bord werfen kann. Und ist nicht die bessere Bezahlung von alten Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben und nicht für ein bisschen mehr Geld ihre Vermögensverhältnisse offenbaren wollen, eine solche gute Sache?
Zumal es um den Fortbestand der „Großen Koalition“ geht, denn bald – quasi in der Halbzeitpause – will die SPD ja bekanntlich über einen Ausstieg aus dem, bei der Basis weitgehend unbeliebten, Bündnis entscheiden. Die Regierungsmitglieder und viele Genossen in der Parteispitze wollen dies nicht, denn zum möglichen Amtsverlust droht bei eventueller Neuwahl ein weiterer Absturz in Richtung Bedeutungslosigkeit. Auch die großen Koalitionsbrüder und -schwestern fürchten die Wählerflucht, deshalb haben alle Beteiligten den beinahe zwanghaften Drang, die Halbzeitbilanz der kleinsten „Großen Koalition“ in den schönsten Farben zu malen.
Mitleidiges Einknicken
Bei der Verkündung des aktuellen Rentenkompromisses beeilten sich vor allem die Parteivorsitzenden von CSU und SPD, zu betonen, wie schön die Halbzeitbilanz mit dieser sozialpolitischen Meilensteinentscheidung abgerundet wird.
Was Kompromiss genannt wird, ist letztlich ein mitleidiges Einknicken der Christdemokraten vor der SPD-Forderung. Zwar solle das Einkommen eines Antragstellers geprüft werden, nicht aber die Bedürftigkeit. Und die Einkommensprüfung besteht offenbar im Wesentlichen aus einem Datenabgleich, den die Rentenversicherung mit den Finanzämtern durchzuführen hat. Darüber, ob die Rentenversicherung dies überhaupt vollumfänglich realisieren kann, wurden keine Angaben gemacht. Vielleicht hat einfach niemand diese Frage aufgeworfen.
Letztlich ist es auch egal, denn, wenn nicht geprüft werden kann, dann gilt noch viel mehr, dass sich die SPD zulasten des deutschen Beitrags- und Steuerzahlers auf ganzer Linie durchgesetzt hat. Dennoch ist es lächerlich, von einem sozialpolitischen Meilenstein zu sprechen, mit dem keines der Probleme angegangen wird, die das Rentensystem in seinen Grundfesten bedrohen. Es ist allenfalls ein Meilensteinchen für die direkten Nutznießer. Doch auch da haben sich die Genossen vielleicht nicht hinreichend Gedanken darüber gemacht, welches Signal sie mit der Forderung nach dem Verzicht auf die Bedürftigkeitsprüfung eigentlich aussenden. Diejenigen, die wirklich bedürftig sind, empfinden das Verfahren sicher als so lästig, wie man eben jeden bürokratischen Akt lästig findet. Traumatisierend dürfte er für die meisten allerdings nicht sein, denn wer so arm ist, der ist in Sachen Bedürftigkeitsnachweise bei Sozialbehörden zumeist schon abgehärtet und gestählt. Wirklichen Nutzen vom SPD-Kurs haben eigentlich vor allem diejenigen, die auf den Rentenaufschlag eben nicht angewiesen sind.
Und besonderen Charme hat die Botschaft, dass man vor zwei Jahren die Öffentlichkeit mit langwierigen und detailverliebten Koalitionsverhandlungen belästigt hat, weil doch dafür späterhin der Streit um die schon geregelten Details vermieden werde, um nun genau das über den Haufen zu werfen, nachdem man eine Detailfrage nutzt, um die Öffentlichkeit schon wieder mit langen Koalitionsgesprächen zu langweilen.
Allein schon wegen dieses nervtötenden Politikstils, sich pseudodramatisch lange an kleinkarierten Fragestellungen aufzuhalten und zu den großen Herausforderungen lieber nichts Konkretes verlauten zu lassen, möchte man darauf hoffen, dass die SPD-Parteitagsdelegierten im Dezember für ein Ende dieser Vorstellungen votieren.
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