La Habana (1)

Von Klaus Leciejewski.

Ist es möglich, eine Millionenstadt auf wenigen Seiten literarisch einzufangen, ohne dabei ihre verschiedenen Sehenswürdigkeiten einfach banal aufzuzählen, also mit Worten ihrem Zauber nahe zu kommen?

Zwei Millionen Menschen leben in Havanna, und da die Stadt in zahlreiche Vororte ausläuft, umfasst sie noch weitaus mehr Menschen. Innerhalb der zwei oder vier Tage, in denen sich die allermeisten Touristen dort aufhalten, kann der Zauber Havannas bestenfalls nur erahnt werden, aber auch nur dann, wenn man nicht von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit hetzt und sich von grauenhaften Kunstmärkten oder pseudoprominenten Bars und ewiggleichen Zigarrenfabriken verschlucken lässt. Aber welcher Alltags-Tourist kann sich schon dagegen wehren?

Gegenüber anderen großen Hauptstädten, wie London oder Wien, Madrid oder Paris weist Havanna drei wesentliche Unterschiede auf. Es ist bedeutend jünger, noch keine 500 Jahre alt. Zwar verfügt es über eine veritable Altstadt, aber außerhalb dieser Altstadt sind seine wichtigsten Teile nur innerhalb von sechs Jahrzehnten entstanden. Danach begann sein Verfall. Wie ist sich dieser weltweit einzigartigen und doch so beklagenswerten Stadt zu nähern?  

Stefan Zweig begann seine Charakteristik Salzburgs mit einem Satz, mit dem auch die Eindrücke über Havanna beginnen könnten: „Die Schönheit einer Stadt beruht niemals einzig auf ihrer Architektur, sondern immer auf einem besonderen Verbundensein mit der Natur, auf der gelungenen Vermählung des Menschlich-Schöpferischen mit dem Gottgegebenen, Architektur des Menschen und Dichtung der Natur.“

 Alte Pracht und junge Ruinen wechseln sich ab

Havanna verfügt über eine schier überbordende Fülle verschiedenster Architekturen, und es erstreckt sich am Wasser entlang. Erst seine natürliche Anbindung an das Meer hat ihm die Möglichkeit zur Entfaltung seiner Pracht gegeben. Heute beginnt das Meer nicht mehr an seinem Hafen, einstmals der größte auf Kuba, indessen sind wir mit diesem Wörtchen „einst“ schon bei der Tragik dieser Stadt angelangt, heute beginnt es an seiner Uferstraße, dem Malecón. In einem lang geschwungenen Bogen zieht sich der Malecón kilometerweit am Meer entlang. An seiner Straßenseite reihen sich in grauem Stein erstarrte Festungen und Bürgerhäuser zahlreicher Stilrichtungen aneinander, einige sind in altem Glanz restauriert, andere warten noch darauf, und etliche sind nur noch Ruinen. Zur Meeresseite ist er ein Boulevard, wenngleich nicht einer mit schattenspendenden Bäumen und lauschigen Bänken, aber einer zum Flanieren und mit einer Ufermauer zum Verweilen.

Hier treffen sich alle, jung und alt, Familien mit Kindern und Künstler aller Art, inniglich Verliebte und darauf hoffende Menschen, Touristen und Angler, auch Frauen und Männer, die mit ihren körperlichen Vorzügen Geld verdienen wollen. Sie lassen sich treiben oder treiben ihren Körper auf High-Tech-Turnschuhen voran, sie spielen oder liebkosen sich, sie träumen auf das Meer hinaus oder beobachten die an ihnen vorbei Schlendernden. Dieser schmale Streifen zwischen Wasser und Architektur ist ihr Zuhause. Keine andere Stadt kann sich einer solchen Uferstraße rühmen. Am Abend, wenn die Kühle des Meeres die drückende Wärme der Sonne in die Häuserschluchten zurückdrängt, füllt er sich mit unzählig vielen Farbtupfern, von denen etliche still in sich ruhen, andere sich ständig mit einander vermengen. Kaum ein T-Shirt, ein Hemd oder eine Bluse ist in schwarz, allesamt leuchten sie in der Dunkelheit, ihre Farben drücken die Lebensfreude am Malecón aus. Nirgendwo ist Havanna so intensiv zu erleben wie am Malecón. Wer von den Besuchern der Stadt ihn nicht erlebt hat, kennt Havanna nicht. Einst war Havanna die prächtigste Stadt Amerikas, heute wechseln sich alte Pracht mit jungen Ruinen ab, aber seine Uferstraße ist noch immer die eindrucksvollste.

Die Pracht Havannas bestand in seiner Architektur. Die ewige Frage „Wo beginnen, wo aufhören?“ muss wohl in diesem Havanna entstanden sein. Generationen auf Generationen haben 400 Jahre lang an ihr gebaut.

Zuerst Kolonialpaläste, so wuchtig, dass die Macht aus ihren Mauern herausdröhnt, Kirchen, so düster, dass die Menschen sich klein gegenüber Gott fühlen; Renaissancehäuser, so filigran, dass in ihnen die Beschwingtheit des Lebens klingt. Und dann der Bruch. Mit der Vertreibung der Spanischen Kolonialbesatzer bricht die Moderne herein. Bankgebäude imitieren mit protzigen Portalen und Fassaden griechische und römische Vorbilder, aber trotzdem sind sie heute ein imposanter Blickfang. Geschäftsgebäude, Krankenhäuser und Universitätsbauten folgen ihnen darin. Aber nach kaum drei Jahrzehnten setzt die Beschwingtheit des Lebens dieser Stadt sich auch in seiner Architektur durch. Keine Stadt des amerikanischen Kontinents prunkt mit mehr Art-Déco-Gebäuden als Havanna. Wo in europäischen oder nordamerikanischen Städten bereits ein einzelnes Haus als ein Solitär gewürdigt wird, füllen sie hier Architekturführer. An allen klare Linienführung und Rundungen und auch bisweilen abstrakt Figürliches. Selbst das Martí Denkmal, eines der höchsten der Welt, wirkt schlicht und doch elegant aufsteigend, gleichwohl nur eine aberwitzige Überhöhung eines einfachen Dichters und nur kurzfristig einflußreichen Politikers.

Aus der symbolischen Mitte des Art-Decó ragt das Bacardi-Haus hervor, Einheit von Superlativen, das gelungenste, das eindrucksvollste, das reichhaltigste – Wo beginnen, wo aufhören? Gebaut mit den Gewinnen einer Rum-Dynastie, von kunstsinnigen Mäzenen, Unvergängliches zu unserem Wohlgefallen.

Im weißen Steingedächtnis

In den 40ern und 50ern ein erneuter Wandel. Am besten zu erleben auf der fünften Avenida. Kilometer für Kilometer führt sie durch die früheren Wohngebiete der Wohlhabenden, Miramar und Playa. Sie beginnt nicht mit einer Stilepoche und sie endet damit nicht. Sie ist alles und überall, wie das Meer, an dem sie sich nur wenige hundert Meter entlang zieht. Geduckte eingeschossige spanische Landhäuser gedeckt mit roten Ziegeln, wie in Andalusien; alten spanischen Kolonialfestungen nachgeahmte Häuser und so abweisend wie diese; flache amerikanische Landhäuser wie in Maine; kleine verspielte englische Castle; viel wuchtiger Historizismus und neoklassische Villen; ausladende protzige griechisch-römische Villen; aus den Fünfzigern stammende supermoderne Glaspaläste; eklektizistische Villen mit Elementen aus wenigstens vier Stilepochen und immer wieder Anwesen aus den Vierzigern und Fünfzigern, mit denen sich junge kubanische Architekten ausprobieren oder auch austoben konnten. Wo beginnen, wo aufhören?

Zum Abschluss der Avenida der absolute Höhepunkt, ein Gebäude, welches in allen Architektur-Ranking-Listen als eines der weltweit hässlichsten aufgeführt wird, die russische Botschaft, aber heute erzeugt sie keine Angst mehr, nur noch Heiterkeit.

Zuletzt Colón, ein Friedhof, der sich jeglichen vergleichenden Maßstäben entzieht: in Lateinamerika ist er der größte, der prächtigste, der vielfältigste, der bedrückendste, der liebevollste. Denkmal reiht sich an Denkmal, eine Totenstadt aus Marmor und Stein, die Verstorbenen zu ehren, aber zugleich die Lebenden zu rühmen. Auf einer Karte sind die Bedeutendsten eingezeichnet. Indessen, was ist Ruhm, Pracht und so manche Kuriosität, wenn Vergänglichkeit von Angesicht zu Angesicht aufersteht? Man kann hier nichts Ergreifendes erwarten, denn auf dieser Ruhestätte ergreift alles die Seele. Jeder Halt vor einem Grabmal ist nur Ruhe innerhalb einer langen Wanderung immer tiefer in dieses weiße Steingedächtnis hinein.  

An der Bucht zur Einfahrt in den Hafen hebt sich ein breiter Felsen aus dem Meer heraus. Auf ihm ragt eine Ansammlung grauer Mauern empor, die so ausgedehnt sind, dass  ein einzelner Blick sie nicht zu erfassen vermag. Die Festungen der Stadt! Für Liebhaber derartiger Zwingwerke einfach grandios. Aber weshalb wurden sie errichtet? War es nicht Furcht vor der eigenen Schwäche, die gegenüber den Fremden und die gegenüber den Unangepassten? Bis heute quillt aus ihren Steinen das Blut der Gepeinigten. Gedankenlos durchwandert ein stetiger Touristenstrom sie. Wer Havanna liebt, wendet sich von ihnen ab, sie sind der Gegensatz zur Lebensfreude, obgleich auch sie die Verbindung zum Meer symbolisieren. Keine Schiffe sollten ohne ihre Kontrolle in den Hafen einfahren sollen, und später sollten sie die Ausfahrt von hunderten kleiner Boote Richtung Miami verhindern. Sie wurde gebaut mit dem Geld, das übers Meer kam, und jetzt werden sie vom Geld der Touristen erhalten, die auch über das Meer kommen.

Die frühere Kunstsinnigkeit ist im Museum eingesperrt

Weit verbreitet ist die Vorstellung von Havanna als einer Stadt der amerikanischen Mafiosi und kubanischer Prostituierten. Es ist ein politisch bedingtes und von Hollywood gepflegtes Zerrbild. In allen Jahrhunderten war Havanna eine Stadt des geschäftigen Fleißes. Zuerst zur Versorgung der spanischen Gold- und Silberflotten, darauf für den Handel mit Kaffee, Tabak und Zucker, und dann - bis zur Machtergreifung Fidel Castros – mit noch mehr Zucker, aber zugleich auch mit Fruchtkonserven, Mineralien, Schweinefleisch, Zigarren, Rum. Es lässt sich nicht alles aufzählen. Anders als in den Lateinamerikanischen Staaten, vielleicht Chile ausgenommen, entstand nach dem Ende des Kolonialismus innerhalb von nur 60 Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts auf Kuba mit seinem Zentrum Havanna ein gediegenes Bürgertum. Groteskerweise entstammten auch die führenden Revolutionäre von 1959 aus dieser Schicht, die sie dann vernichteten oder vertrieben.

Diese Schicht war ausgesprochen selbstbewusst, sie war ungemein vermögend und sie war außerordentlich breit. Diese drei Eigenschaften sind auf der Fünften Avenida wie in einem Museum zu besichtigen. Museum, weil es in Havanna kein Bürgertum mehr gibt. Passend dafür ist der Höhepunkt dieses einstigen Selbstbewusstseins, allerdings nicht entlang einer Straße, sondern mitten im Zentrum. Dort steht das „Capitolio“, eine Kopie seines Washingtoner Namengebers. Ja, eine Kopie, aber größer als das Original! Zugleich ist es jedoch auch das Symbol einer finsteren Zeit. Heute entscheidet in ihm kein gewähltes Parlament mehr. Ohne die in den wenigen Jahrzehnten vor der sozialistischen Gesellschaft entstandene Architektur, wäre Havanna zwar noch immer sehenswert, aber nur halb. Im Museum Nacional de Bellas Artes kann eine andere Kunstsinnigkeit des Bürgertums betrachtet werden.

Die reichhaltigste Sammlung – erneut ein Superlativ – von Gemälde, Skulpturen und antiker Kunst in Lateinamerika, wobei ihre Bezeichnung „Sammlung“ verwirrt, denn ein erheblicher Teil davon ist nicht vom Museum gesammelt, sondern – wie es in einem früheren Museumsführer geschrieben stand – durch Enteignung „unangemessenen Privateigentums“ entstanden. Kein Museum Kubas hätte die Möglichkeit gehabt, einen Canaletto oder einen Guardi oder einen Murillo oder zwei Lucas Cranach zu erwerben. Wenngleich viele flämische, italienische, spanische oder auch französische Gemälde nur aus Schulen berühmter Meister stammen, sind sie doch ein weiterer Beleg für die intime Hinwendung des damaligen Bürgertums zur Kunst. In keinem Haus Havannas kann der heutige Besucher noch Vergleichbares zu sehen bekommen. Zwar stehen sie heute allen Menschen zur Betrachtung offen, indessen verlieren sich heute nur wenige Besucher darin, und diese sind fast ausschließlich Touristen, es gibt in Havanna keine kunstbeflissenen Bürger mehr. Jetzt ist die frühere Kunstsinnigkeit in einem Museum eingesperrt. 

Die zweite Folge finden Sie hier.

Klaus D. Leciejewski hat an verschiedenen deutschen Hochschulen Wirtschaft gelehrt, ist Autor mehrerer Sachbücher und Publizist. Er ist mit einer Kubanerin verheiratet und lebt einen großen Teil des Jahres auf Kuba.

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