Uwe Jochum, Gastautor / 11.04.2022 / 16:00 / Foto: Pixabay / 14 / Seite ausdrucken

Kriege: Gewinner ist oft der lachende Dritte

Ein Blick auf den Verlauf des Peloponnesischen Krieges zwischen der Seemacht Athen und der Landmacht Sparta weist verblüffende Parallelen zum heutigen Ukrainekrieg auf.

Wir hatten das schon öfter in der Geschichte: Ein demokratischer Staat, dem unsere Sympathien gelten, steht in einem langanhaltenden Konflikt mit einem oligarchischen Staat, der sich militärisch aggressiv gibt. Beide Staaten sind die Vormächte verschiedener Bündnissysteme, die nach langen Kriegen aus der Geschichte gelernt zu haben scheinen und daher durch Abkommen weitere Kriege verhindern wollen. Und dann gibt es plötzlich an der Peripherie der Bündnissysteme eine kleine politische Verwerfung, die zu einer Kette von Entscheidungen und Aktionen führt, an deren Ende es dann doch zum Krieg zwischen den beiden Bündnissen kommt. In diesem Krieg siegt zwar einer der beiden Bündnisblöcke, aber eine dritte, außerhalb der Bündnisse stehende Kraft erweist sich historisch als der lachende Dritte.

Diese kurze Skizze ist nicht aus der Beobachtung der europäisch-russischen Lage der letzten Jahre und Jahrzehnte gewonnen, von der aus dann auf die Zukunft spekuliert wird. Vielmehr ist diese Skizze die Zusammenfassung eines rund 2.500 Jahre zurückliegenden Konfliktes, über den uns der griechische Historiker Thukydides in seinem Buch über den Peloponnesischen Krieg unterrichtet. Thukydides erzählt von diesem Krieg nicht aus antiquarischen Gründen, damit wir Nachgeborenen in seinem Buch lesen können, wie es einst gewesen ist. Vielmehr erzählt er von diesem Konflikt, weil er davon überzeugt ist, dass aufgrund der menschlichen Natur in ähnlichen Fällen ähnlich gehandelt wird, dass es also typische Situationen und typische Handlungsfolgen gibt, deren Erkenntnis uns hilft, in einer neuen Situation das Konflikt- und Friedenspotenzial dieser Situation einzuschätzen.

Ich habe meine Zweifel, ob unser heute agierendes politisches Personal Thukydides jemals zur Kenntnis genommen hat; und daher zweifle ich auch daran, dass dieses Personal über das analytische Instrumentarium verfügt, durch das es so etwas wie eine wirklichkeitsadäquate Situationsanalyse zustandebringen könnte. Offenbar begnügt man sich damit, die komplexe politische Lage mit viel direkter Moral zurechtzuhämmern, eifrig bestrebt, dabei auf der moralisch richtigen Seite zu stehen. Dass ein solcher Eifer regelmäßig die Komplexität der Lage unterschätzt und den Konflikt ebendadurch weiter anheizt, dass er ihn auf ein moralisch einfaches Schwarz und Weiß herunterbricht, blendet man einfach aus. Dies schon deshalb, weil die politischen Prämien, die wahlwirksam von den Medien verteilt werden, nicht die Komplexitätsanalyse belohnen, sondern die moralische Simplifizierung.

Die einen sind tatkräftig, die anderen Zauderer

Höchste Zeit also, zwecks Rückgewinnung eines politischen Realismus, der nicht in moralische Hybris abgleitet, anhand der Darstellung des Thukydides sich die Ausgangslage des Peloponnesischen Krieges vor Augen zu führen. Es ist eine Ausgangslage, die uns bekannt vorkommen wird: Die Vereinigten Staaten als Kernmacht eines seegestützten Bündnisses hießen damals Athen, und der Herrschaftsraum dieses Bündnisses waren nicht die westlich und östlich des Atlantiks gelegenen Landmassen, sondern der Küstensaum der Ägäis. Der große Antagonist und also das antike Russland war das westlich von Athen auf der Peloponnes gelegene Sparta, eine Militäroligarchie, die als Landmacht die meisten Poleis der Peloponnes im Peloponnesischen Bund hinter sich gebracht hatte.

Schon Thukydides war aufgefallen, dass aus dem Unterschied zwischen einer See- und einer Landmacht auch eine unterschiedliche Mentalität der Menschen folgt: Die Seemacht prämiert eine situative Wendigkeit, weshalb die Athener als „die ewigen Neuerer“ gelten, „rasch im Planen und in der Ausführung dessen, was sie erkannt haben“; die Landmacht hingegen tendiert eher zu einem Bestandsschutz, so dass die Bürger dieser Macht „das Bestehende wahren“ und „keine neuen Pläne schmieden“ wollen. Die einen sind tatkräftig, die anderen Zauderer; die einen schweifen in die Ferne, die anderen hocken lieber zu Hause.

So gesehen ist das moderne Lieblingswort von der „Innovation“ eine athenische Erfindung, die aus der Mobilitätsdynamik erwächst, wie sie eine Seemacht nun mal haben muss: Das auf Inseln und Kontinente verteilte Herrschaftsgebiet kann nur zusammengehalten werden, wenn das dazwischenliegende Wasser mit überlegener Technik rasch überwunden werden kann, was nur gelingen wird, solange genügend Geld vorhanden ist, um den Technikvorsprung zu finanzieren. Das aber hängt von der Bereitschaft der Menschen ab, ihre sozialen Verhältnisse und ihr politisches System ständig zu erneuern.

Kurz: Die Seemacht muss die politische, ökonomische und kulturelle Dynamik parallel ausrichten und den Bürgern, die sich darauf einlassen, einen Zugewinn an politischer (Ausweitung des Herrschaftsraumes), ökonomischer (Reichtum) und kultureller (die Kultur der Seemacht ist Weltkultur) Macht versprechen. Die „Tradition“ hingegen ist eine spartanische Sache, die nicht auf Geld angewiesen ist, sondern schlicht darauf, dass die Traditionsbindung der Menschen greift und sie aus dieser Tradition heraus im Konfliktfall dann auch die Kraft zum geschlossenen Handeln gewinnen. Ansonsten wollen sie in Ruhe gelassen werden.

Die Logik des Konflikts nimmt ihren Lauf

Solche ungleichen Mächte mit ihrer ungleichen Lebensform kommen sich solange nicht ins Gehege, solange sie auf Abstand zueinander bleiben. In einer räumlich begrenzten Welt ist das schwierig, noch dazu wenn eine der beiden Mächte auf dynamische Ausweitung ihres Herrschaftsraumes setzt. Also helfen zuletzt nur abstandswahrende Verträge, die Einflusszonen definieren, innerhalb deren die unterschiedlichen Logiken von Innovation oder Tradition zum Tragen kommen können.

Dass aber auch dieses Mittel zuletzt den Konflikt nicht verhindern kann, zeigt Thukydides. Denn auch die auf Traditionswahrung setzende Kraft muss damit rechnen, dass sich der Traditionsraum dynamisch verschiebt, so wie die auf Innovation setzende Kraft damit rechnen muss, dass ihre Dynamik auf sie selbst zerstörerisch zurückschlägt. Kurz: Die abstandswahrenden Verträge wirken nur solange abstandswahrend, wie sie selbst nicht wiederum von der zwischen Innovation und Tradition spielenden Dynamik der historischen Entwicklung infrage gestellt werden. Sobald das geschieht, ist es vorbei mit dem Abstand, und die Logik des Konflikts nimmt ihren Lauf.

Die Konfliktlogik beginnt ihren Lauf nicht in der Kernzone der Machtbereiche, in der die kulturell jeweils verbindlichen Normen mit wachem Blick und notfalls ausreichender Sanktionsgewalt durchgesetzt werden. Vielmehr beginnt der abstandszerstörende Konflikt in einer Randzone (vom Zentrum der Bündnisse aus gesehen), in der nicht mehr oder noch nicht entschieden ist, in welchen Einflussbereich sie nun eigentlich gehört. Diese Randzone – wenn man so will: die Krim der Antike – war die am Rand der griechischen Welt gelegene Stadt Epidamnos, das heutige Durrës/Durazzo in Albanien, eine Gründung von Siedlern aus Korinth und der Insel Kerkyra (Korfu) unter Führung des Korinthers Phalios, der seine Abstammung auf Herakles zurückführte.

Der Platz für Epidamnos war gut gewählt: Auf der griechischen Seite der Adria lag es gegenüber dem Stiefelabsatz Italiens, so dass es nicht nur die Meerenge beherrschte, die die Adria vom Ionischen Meer trennt, sondern auch eine kurze Überfahrt von und nach Italien erlaubte. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten und wird von Thukydides in einem Satz zusammengefasst: „Im Laufe der Zeit wurde die Stadt der Epidamnier groß und volkreich.“ Wie es scheint, hat dieser Erfolg die Spannungen innerhalb der Stadt erhöht, so dass es um 438 v. Chr. zu einem Bürgerkrieg kam, in dessen Verlauf die Adligen aus der Stadt vertrieben wurden, aber mit Unterstützung von Barbarenstämmen aus dem Hinterland Epidamnos zu belagern begannen.

Neubesiedlung von Epidamnos

Um die drohende Niederlage zu vermeiden, schickten die Epidamnier zunächst eine Gesandtschaft nach Kerkyra mit der Bitte um Unterstützung, die abgelehnt wurde. Dann schickte man in derselben Sache nach Korinth, wo man sich auf eine Unterstützung der in Epidamnos Belagerten einließ. Und damit begann das Unheil, das zu dem über ein Vierteljahrhundert währenden Peloponnesischen Krieg führte.

Um zu verstehen, warum eine lokal begrenzte Unterstützungsaktion sich zu einem Großkonflikt ausweitete, muss man zunächst wissen, dass die Korinther den Epidamniern zu Hilfe kamen, weil sie davon ausgingen, dass Epidamnos als eine korinthische Ko-Gründung ein Recht auf den Schutz durch die Mutterstadt habe. Die Korinther unterstützten Epidamnos aber auch deshalb, weil sie Kerkyra als der anderen Ko-Gründerin von Epidamnos eins auswischen wollten, und das aus zwei Gründen: zum einen, weil Kerkyra selbst wiederum eine Kolonie Korinths war, aber eine, die sich um die Mutterstadt nicht geschert und also Korinth verärgert hatte (wer mag, kann dabei an die heutige Ukraine denken).

Zum andern, weil Kerkyra nicht nur sehr wohlhabend geworden war, sondern inzwischen auch über eine Flotte verfügte, die größer als die korinthische war und damit den Einfluss Korinths im westlichen Griechenland infrage stellte. Die korinthische Unterstützung für Epidamnos war also darauf angelegt, Kerkyras wachsende Macht zurückzudrängen und die Hierarchie zwischen Mutterstadt und Kolonien wiederherzustellen: Wenn Korinth Kerkyra gegründet und zusammen mit Kerkyra Epidamnos gegründet hatte, dann sollte Korinth und nicht Kerkyra das Sagen haben, und zwar sowohl über Epidamnos wie über Kerkyra. Also schickte Korinth auf dem Landweg Truppen und Siedler nach Epidamnos, um die Belagerten zu entlasten.

Da nun aber Epidamnos eine Ko-Gründung der Kerkyraier war, nahmen diese die korinthische Intervention als das, was sie war, nämlich als einen Versuch, den kerkyraischen Einfluss zurückzudrängen. Folglich schickte man eine Flotte vor Epidamnos, um die Belagerungsallianz der Adligen und Barbaren zu unterstützen und Druck auf Korinth auszuüben. Das ließ sich Korinth nicht zweimal sagen und begann sofort mit der Ausrüstung einer Flotte, die von Verbündeten des Peloponnesischen Bundes unterstützt wurde und die Lage in Epidamnos endgültig bereinigen sollte: Man strebte nichts weniger als eine Neubesiedlung von Epidamnos an.

Machtfrage innerhalb des Peloponnesischen Bundes klären

Und an dieser Stelle ist der zweite Punkt zu erwähnen, den man wissen muss, um den Lauf der Dinge zu verstehen: Korinth war nicht nur Mitglied des Peloponnesischen Bundes (Sparta), sondern verfügte auch über eine Flotte, die mit den Flotten von Kerkyra oder von Athen konkurrieren konnte. Der Konflikt zwischen Korinth und der korinthischen Kolonie Kerkyra um die Vorherrschaft über Epidamnos betraf daher zunächst nur den Peloponnesischen Bund und begann aus Sicht Korinths als ein innerbündnischer Konflikt um die Machtverteilung zwischen Mutterstadt (Korinth) und Kolonie (Kerkyra) und um die Vorherrschaft auf See innerhalb dieses Bundes.

Aus Sicht freilich der korinthischen Kolonie Kerkyra war das alles ganz anders. Kerkyra hatte sich nicht nur von Korinth emanzipiert, sondern fand sich auch als so wohlhabend und dank einer großen Flotte als militärisch so potent wieder, dass es keinem der beiden Bündnissysteme, weder dem Attischen noch dem Peloponnesischen Bund, angehörte. Kerkyra war, in der Rechtssprache späterer Zeit gesprochen, „exemt“, stand also als korinthische Kolonie außerhalb der Bündnisverpflichtungen, die Korinth als Mitglied des Peloponnesischen Bundes hatte. Während Korinth mit seiner Intervention vor Epidamnos daher im Hinblick auf die Flotte die Machtfrage innerhalb des Peloponnesischen Bundes klären wollte, war ebendiese korinthische Intervention für Kerkyra die Infragestellung seiner Selbstständigkeit.

Man versteht daher sofort, dass in dem Moment, als Korinth zusammen mit Verbündeten des Peloponnesischen Bundes die Lage in Epidamnos endgültig machtpolitisch bereinigen wollte, die Kerkyraier einen Schiedsspruch des Peloponnesischen Bundes verlangten. Dieser kam nicht zustande, weil sich beide Parteien, die korinthische und die kerkyraische, nicht auf die Verhandlungsmodalitäten für diesen Schiedsspruch einigen konnten. In dieser Lage setzte Korinth auf einen raschen militärischen Zugriff und schickte eine Flotte vor Epidamnos, die sich dort mit der kerkyraischen Flotte eine Seeschlacht lieferte, die Kerkyra zwar gewann, die aber die Lage insgesamt nicht klärte: Korinth war keineswegs so geschwächt, dass es handlungsunfähig geworden war, ganz im Gegenteil machte man sich in Korinth sofort an die Erneuerung der Flotte, wiederum mit Unterstützung aus dem Peloponnes.

Selbstständig, aber auch ohne einen Bündnispartner

Als in dieser Lage den Kerkyraiern klar wurde, dass sie zwar selbstständig, aber auch ohne einen Bündnispartner waren, mit dessen Hilfe sie gegen den zu erwartenden verstärkten Angriff der Korinther bestehen könnten, schickten sie eine Gesandtschaft nach Athen und baten um Aufnahme in den Attischen Seebund, was Korinth nun seinerseits mit einer Gesandtschaft in Athen verhindern wollte. Dabei hatte Kerkyra den Athenern einiges zu bieten: eine eigene Flotte, die zusammen mit der athenischen Flotte den Attischen Seebund zur mächtigsten Seemacht der griechischen Welt machen würde und eines Tages, wenn es zum Krieg zwischen Athen (Attischem Seebund) und Sparta (Peloponnesischem Bund) kommen würde – einen Krieg, dessen Unvermeidlichkeit die kerkyraische Delegation herausstreicht –, kriegsentscheidend sein könnte. Demgegenüber verwies die korinthische Delegation darauf, dass Athen durch das Bündnis mit Kerkyra nicht nur zum direkten Gegner Korinths würde, sondern zugleich den Friedensvertrag zwischen Attischem und Peloponnesischem Bund brechen würde, der es einer bündnisfreien Stadt verbiete, einem der beiden Bündnisse beizutreten, wenn dadurch einem der Vertragspartner geschadet werde.

Spätestens jetzt war klar, dass der ursprünglich lokale Konflikt um Epidamnos den latenten Ost-West-Konflikt zwischen Athen und Sparta befeuern würde. Diesen Konflikt hatte man zwar 446/45 v. Chr. durch einen Friedensvertrag einzuhegen versucht, aber ein Wiederaufleben des Antagonismus zwischen den beiden griechischen Vormächten stand stets im Raum und drohte nun akut zu werden. Vor diesem Hintergrund entschied sich Athen gegen die Aufnahme Kerkyras in den Attischen Seebund, aber für einen Schutzvertrag zwischen Athen und Kerkyra, der im Falle, dass eine der beiden Städte angegriffen würde, gegenseitige Militärhilfe bereitstellte. Damit glaubte man, formal dem geschlossenen Friedensvertrag mit Sparta entsprechen und zugleich die kerkyraische Flotte im drohenden Konflikt mit Sparta auf der Seite des Attischen Bundes einsetzen zu können. Dass man auch wirklich an einem Schutz Kerkyras Interesse hatte, machte Athen durch die Entsendung einer Flotte von zehn Schiffen deutlich, die man zur Abschreckung potenzieller Angreifer nach Kerkyra schickte.

Da die Korinther aber nicht daran dachten, klein beizugeben, schickten sie eine Flotte von 150 Schiffen nach Kerkyra, wo es zu einer Seeschlacht mit der kerkyraischen Flotte kam, an deren rechtem Flügel und zu rein defensiven Zwecken die athenischen Schiffe standen. Dass es in der sich entwickelnden Schlacht nicht bei einer defensiven Zurückhaltung der Athener bleiben konnte, ist wenig überraschend. Dass es in dieser Situation angesichts eines sich abzeichnenden Sieges der Korinther doch noch zu einem Patt kam, das weitere Eskalationen zwischen Athen und Korinth verhinderte, lag daran, dass die Athener der ersten Abschreckungsflotte eine zweite hinterhergeschickt hatten, bei deren Sichtung die Korinther abzogen, zumal die Korinther nun fürchteten, die Athener könnten die Verwicklung ihrer Schiffe in die Kämpfe als einen von Korinth zu verantwortenden Bruch des Bündnisvertrages zwischen Attischem und Peloponnesischem Bund betrachten.

Die weitere Entfaltung der Ereignisgeschichte bis zum förmlichen Ausbruch des Krieges zwischen den beiden Bündnissen wollen wir Thukydides überlassen. Dieser Ausbruch wurde – soviel sei hier rasch ergänzt – getriggert durch zwei weitere lokale Eskalationen, eine um die Stadt Megara am Isthmus von Korinth und eine um die auf der Chalkidike gelegene Stadt Poteidaia. In beiden Fällen wiederholte sich, was in Epidamnos und Kerkyra begonnen hatte, nämlich das Aufbrechen von Loyalitätsspannungen zwischen Attischem und Peloponnesischem Bund, so dass eindeutige Parteinahmen notwendig wurden und diese Parteinahmen den Konflikt weiter anheizten, bis schließlich Sparta, nach sechsjähriger Eskalation und gedrängt von seinen Bündnispartnern, im Jahre 432 v. Chr. den Friedensvertrag mit Athen für gebrochen erklärte.

Militärischer Großkonflikt zwischen zwei Bündnissen

Es sind, wenn ich es recht sehe, drei Lehren, die wir Nachgeborenen aus dem Bericht des Thukydides ziehen können. Zum ersten: Wer sich in einem lokal begrenzten Konflikt als defensive Schutzmacht auf die Seite einer der Konfliktparteien stellt, betreibt strukturell keine Deeskalation des Konflikts, sondern seine Verschärfung und Ausweitung. Denn obzwar das Schutzbündnis abschreckend wirken wird, weil es durch den drohenden Eingriff der Schutzmacht den Gegner vom Angriff zunächst abhält, schlägt nach dennoch erfolgtem Angriff diese Konstellation in eine Konfliktausweitung um. Die Schutzmacht wird vom latenten zum manifesten Kombattanten und zieht, sofern sie in ein Bündnissystem integriert ist, die anderen Mitglieder des Bündnisses unweigerlich in den Konflikt hinein.

Das wiederum wird das Bündnissystem des Gegners aktivieren, so dass am Ende der militärische Großkonflikt zwischen zwei Bündnissen steht. Dabei kommt es nicht nur zu einer räumlichen Ausweitung der Konfliktzone, sondern auch zur Intensivierung des Konflikts nach innen in die Bündnissysteme hinein, mit der Folge, dass die Auseinandersetzung immer brutaler und die Unterscheidung zwischen Freund und Feind zunehmend schwierig wird. Wer mag, kann dazu den berühmten „Melierdialog“ in Thukydides’ Buch lesen. Am Ende steht dann zwar der faktische militärische Sieg einer der Kriegsparteien, aber es ist ein Sieg, der um den Preis der militärischen, ökonomischen und kulturellen Erschöpfung der Konfliktparteien erkauft wurde.

Zum zweiten. Thukydides gibt sich alle Mühe, die hinter der Ereignisfolge stehende Entwicklungsdynamik herauszuarbeiten, die von dem bereits erwähnten Unterschied zwischen See- und Landmacht angetrieben wird. Dabei lässt er keinen Zweifel daran, dass die überlegene Macht zunächst die Seemacht ist, die aufgrund ihrer weitverzweigten Handelsverbindungen die ökonomisch potentere Kraft ist, noch dazu, wenn sie, wie im Falle Athens, zur Finanzierung ihrer teuren und machtsichernden Flotte auf jährliche Tributzahlungen der Verbündeten zurückgreifen kann. In den Worten, die Thukydides dem spartanischen König Archidamnos in den Mund legt: „Es ist doch der Krieg nicht so sehr eine Sache der Waffen wie der Geldmittel, durch die allein die Waffen Nutzen bringen, zumal für Festlandsbewohner im Kampf gegen eine Seemacht.“

Der lachende Dritte

Dass Athen dennoch den Krieg verlor, hat aber in ebendieser anfänglichen Überlegenheit seinen Grund. Athens Erfolg hing davon ab, dass es die kriegsfinanzierenden Mittel entweder selber erwirtschaften oder von den Verbündeten eintreiben konnte. Auch dazu lässt sich Thukydides hören, diesmal in den Worten der Korinther am Tage des Kriegsbeschlusses gegen Athen: „Die Macht der Athener ist ja mehr erkauft als ursprünglich ihr Eigen.“ Wer Athens Macht brechen wollte, musste daher dafür sorgen, dass sich seine Bundesgenossen von ihm abwendeten, so dass nicht nur Truppen fehlten, sondern eben auch die finanzielle Basis für die Kriegsfinanzierung zusammenbrach. Dadurch wurden die „tapferen Bundesgenossen“, von denen im Text des Thukydides einer der spartanischen Ephoren spricht, zum kriegsentscheidenden Faktor. Sprich: Zuletzt entscheidet dann doch nicht das Geld, sondern der Kriegs- und Widerstandswille.

Zum dritten. Der Ablauf eines Konflikts und sein Ende lässt sich nicht kalkulieren. Der Peloponnesische Krieg war, wie unzählige Kriege nach ihm, ein Krieg zur Beendigung aller Kriege, beschlossen, in den bei Thukydides stehenden Worten der Korinther, „aus dem Verlangen nach einem durch ihn gewonnenen dauerhaften Frieden“. Aber statt eines raschen Sieges brachte er ein Vierteljahrhundert Krieg fast über den gesamten damals von Griechen bewohnten Raum, von Sizilien im Westen bis zur kleinasiatischen Küste im Osten.

Und er endete erst mit der Erschöpfung der Konfliktparteien, so dass noch der Sieger geschwächt aus dem Konflikt hervorging. Der eigentliche Gewinner in solchen Konstellationen ist daher immer der lachende Dritte, der von außen zusieht, wie sich die Konfliktparteien zerfleischen. Und dieser Dritte, gleichsam das China der Antike, war das Persische Reich, das von Osten aus ungerührt zusah, wie an seinem Westrand die Griechen ihre Vormachtstellung durch innere Konflikte verloren. Am Ende sah sich Persien für einige Jahrzehnte als ungefährdete Vormacht in Kleinasien, während weit im Westen, hinter dem Horizont der damaligen Beobachter, sich die unscheinbare Bauernsiedlung Rom daran machte, ihren Einfluss auszubauen.

Foto: Pixabay

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giesemann gerhard / 11.04.2022

Ich wäre schon froh wenn der Russe in seinem Riesenland hocken bliebe, das Gas liefert und basta.

Jörg Nestler / 11.04.2022

Man sollte über eine Politikerausbildung nachdenken. Wer für den Bundestag kandidiert, muss das Absolvieren von Kursen, die Kenntnisse der Geschichte, der Sozialwissenschaften, des Rechts und der Philosophie vermitteln, nachweisen. Schwerpunkt der Schulung sollte sein, welches die Prinzipien einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen Gesellschaft sind, wie sie erfolgreich geführt und verteidigt wird. Es sollte eine Abschlussprüfung stattfinden, deren Ergebnis öffentlich gemacht wird. So bekäme man die Politiker aus dem System, die sich durch nichts qualifizieren – der Grund, warum sie in die Politik gegangen sind.

lutzgerke / 11.04.2022

Die Russen sind nur 5 Minuten früher einmarschiert als die USA. Das ist es, was den Westen besonders wurmt. Die USA wollten einen Regime-Change und nun ist er da. Das Kriegsrecht der Athener und Römer war hart. Der Krieg galt als ein Göttergericht. Der Besiegte galt als ein von den Göttern selbst gerichteter, fluchbeladener Mensch. Was Putin will oder nicht will, weiß keiner so genau. Mir scheint, der Kriegsverlauf und -ausgang werden allzumal zu einem Wunschkonzert. Vielleicht will Putin einen Aufzehrungskrieg? Vielleicht will er gar nicht gewinnen, sondern die Ukraine bis Sankt Nimmerlein belagern? Dann läßt Umstand grüßen und keiner kommt mehr auf die Beine.  

H. Meier / 11.04.2022

Der Verweis auf Antike, vermeidet geschickt die Kolonial-Geschichte, enthält aber wichtige Bezüge zur Zeit-Realität. In der momentanen, uns näherliegenden kriegerischen Aufgeregtheit ist ja die Tatsache, dass das Empire sehr viel Zeit brauchte, um hübsche Kapitalpyramiden in London anzulegen, aber dann von denen, übertrumpft wurden „die vor nur erst 8 Generationen“ die USA gründeten, um noch viel höher Kapitalpyramiden in New York, aufzutürmen. Also in absoluter Rekordzeit. Ohne über tausende Generationen Kulturen wie andere alte Nationen auf der Welt, sich entwickeln konnten, sondern Zack Zack. Bei all der aktuellen Kriegswut, kann es nicht etwa „ein systemisches Prinzip der Ausdehnung“, über sämtliche Länder und Völker der Erde sein, um das Ziel der Weltherrschaft zu erobern? Also als „Nimmersatt“ alle aufzufressen. Alle mit BUMBUM zum Zahlen zu zwingen usw. Ich schaue deshalb darauf, wie Russland, China, Indien, Arabien usw. auf die Kapitalpyramiden-Halter reagieren, weil denen die Achilles-Sehne der Empire-Champions bekannt und klar ist. Übrigens sind das Länder mit sehr alten konservativen familiären Traditionen, wie bei den antiken Griechen und natürlich entwickeltem nationalen Selbstbewusstsein, ohne jede Übertreibung. Die 8 Generationen alte USA haben, selbst ihren eigenen Bürgerkrieg gemeistert, in dem die Südstaaten die Sklaverei und Apartheid nicht aufgeben wollten, aber von den Nordstaaten besiegt wurden. Wobei die aktuelle US-Bevölkerung eher von einer hauchdünnen Schicht alter heller Dame + Herren dominiert wird, die mit „Moral, Menschenrechten + Demokratie“ werben und als Weltschutzmacht des Klimas, auftreten, um die Temperatur zu regeln. Die sind so clever, die haben sogar die „wissenschaftliche Diversity“ entdeckt. Also ich bin feiger Pazifist, war glücklich, als es mir gelang bei der Musterungs-Kommission, mit „Ersatzreserve V“ davon zu kommen. Schon damals war es mir wichtiger erst mal abzuwarten, statt mich in Sachen einmischen zu lassen, bei de

Dr. med. Jesko Matthes / 11.04.2022

Kτῆμα ε(ἰ)ς ἀεί, (geistiger) Besitz für immer, schreibt Thukydides. Über die Vermeidung der Wiederholung schreibt er - nichts. Sein Buch ist wohl auch unvollendet. Er blickt zuerst zurück auf das mythische, erste Seereich des Minos und auf den trojanischen Krieg. In der Eskalation scheint er etwas Unvermeidliches zu erkennen, die berüchtigte “Thukydideische Falle”. Und im Melierdialog schildert er den zynischen Übelegenheitsgestus des Stärkeren, in den dann auch das ebenso nach innen demokratische wie im Bündnis ausbeuterische und brutale Athen verfällt, dessen Regierungen nach Perikles’ Ende an der Pest in Athen wechseln, ohne dass je wieder eine klare Strategie in athenisches Handeln käme; und mit der sizilianischen Expedition erlebt Athen sein Stalingrad. Nicht ganz vergleichbar sind die Spartaner: Sie wollen ihre Ruhe in ihrem begrenzten Einflussgebiet, rauchen sich aber in der Automatik ihres Bündnisses fast ebenso auf wie Athen, das in der Nachkriegszeit sogar noch eine kurzes Wirtschaftswunder erlebt. - Und unter den Gewinnern wird zuerst der glänzende Makedonenkönig Alexander derjenige, der das Perserreich vom Platz fegt bis zum Hindukusch; erst seine Diadochen bereiten den Weg Roms. Allerdings: Alle genannten Akteure hatten anfangs eine hohe Geburtenrate und Nachwuchs an Soldaten. Das hat heute niemand mehr: Der Krieg wird eskaliert durch Technik, oder er erschöpft sich schwelend; zuweilen sogar beides parallel. Und er hinterlässt frustrierte Philosophen wie Platon, der mit kaum etwas mehr hadert als mit der Demokratie.

Stefan Tops / 11.04.2022

Schön, was Sie alles wissen.

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