Jesko Matthes / 28.08.2017 / 15:03 / Foto: Michael / 2 / Seite ausdrucken

Kreta - Europa, seit viertausend Jahren

Von Jesko Matthes.

… großherzige, eingeborene, echte Kreter. (Homer)

Die Schnauze voll von „Leitkultur“? Lust auf Bildungsurlaub? Ich empfehle Kreta. Archäologisch interessierte Kreta-Touristen besuchen die Paläste von Knossos, Phaistos, Malia, Kato Zakros, die minoische Stadt Gournia; so auch ich. Sie drängeln sich im Museum von Iraklion, sie steigen hinab in die diktäische Grotte, eine der beiden auf Kreta behaupteten Geburtsstätten des Gottes Zeus. Sie baden in dem Meer, das Homer besingt, und das Herdodots Soldaten ersehnen: thalatta. Per Schiff kann man in ein paar Stunden auch das wunderbare Santorin, das antike Thera, erreichen, und in Akrotiri ganze Straßenzüge sehen und Gebäude aus dem 17. Jahrhundert vor Christus, die durch die Asche eines entsetzlichen Vulkanausbruchs bis zur ersten, gar zweiten Etage erhalten sind.

Sehr nah und sehr fern liegt das - so dachte ich. Rätselhaft sind die Minoer noch immer, seit Arthur Evans, dessen glänzende Biographie aus der Feder des Archäologen Sandy McGillivray stammt, sie ausgegraben hat. Evans, der ihnen, heftiger als Heinrich Schliemann den Trojanern und Mykenern, den Stempel der alten Mythen aufgedrückt hat - mangels für ihn lesbarer Überlieferung größtenteils seinen eigenen Stempel, den einer Jugendstil-Rekonstruktion.

Seither beißen sich Archäologen und Frühgeschichtler die Zähne aus an diesem seltsamen Volk der Minoer, dessen Sprache unbekannt, dessen Riten nur durch Fresken überliefert, dessen labyrinthische Architektur verwirrend ist. Ich bereiste Kreta in dreißig Jahren fünfmal. Immer zog es mich zu den Ruinen der Minoer und in die Museen. Den Kouros von Palaikastro muss man dabei gesehen haben. Ein ganzer Haufen Sekundärliteratur hat sich bei mir angesammelt. Um es vorweg zu nehmen: Über die Minoer herrscht immer noch keine große Einigkeit unter den Forschern.

Mächtig und ethnisch inhomogen

Die Altphilologen halten sich an den Überlieferungen Homers über ein keineswegs ethnisch homogenes Kreta fest, an denen des Thukydides – nachzulesen in Kapitel 1,4 - über ein dennoch zentralistisches ägäisches Imperium des minoischen Königs. Minoische Artefakte und wahrscheinlich auch Ortsnamen fanden sich in Gaza, auf dem Balkan, in Israel, auf dem Kaukasus, auf Sizilien und sogar im westlichen Mittelmeer. Ganz Mutige glauben, minoische Gussformen in Nordamerika gefunden zu haben. Die Minoer wären die ersten Europäer, den globalen Anspruch inbegriffen.

Die Linguisten schlagen sich semitische und indoeuropäische, etruskische, kaukasische und afrikanische Theorien um die Ohren – obwohl sich in letzter Zeit die Anzeichen für einen indoeuropäischen, anatolischen Ursprung der auf den Linear-A-Täfelchen und hieroglyphischen Inschriften überlieferten Texte mehren; Beispiele für ein vorgriechisches Substrat des Griechischen gibt es dabei reichlich, sicherlich aus verschiedensten Sprachen, nicht nur indoeuropäischen. Dabei ist es Arthur Evans zu verdanken, dass er auch auf die vielfältigen symbolischen Beziehungen zum alten Ägypten hingewiesen hat.

Seit Arthur Evans ist es üblich, die minoischen Großbauten als „Paläste“ zu bezeichnen. Laien sahen das schon lange anders. Auch mein Altgriechischlehrer, Erhart R. Rübenach vom Berliner Goethe-Gymnasium, war skeptisch. Bereits 1982 sah er die „Paläste“ in Analogie zu mittelalterlichen Klöstern, und die Oberpriester und Priesterinnen in Analogie zu Fürstbischöfen und Fürstinnen, für die eine Trennung der geistlichen und weltlichen Macht ein Gegenstand der Absurdität war. Den Investiturstreit hielt er im vorantiken Kreta für eine Unvorstellbarkeit. Er argumentierte, die Paläste seien voller religiöser Konnotationen, und außer den Werkstätten und Warenlagern, die doch völlig in die „Paläste“ integriert seien, gebe es keinen einzigen Beleg für eine Trennung geistlicher und weltlicher Macht.

Vielmehr seien die „Paläste“ die Orte des Kults, der Liturgie, der Regierung, der Produktion, des Fiskus und der Warendistribution gleichzeitig gewesen, mit öffentlich zugänglichen und streng abgeschiedenen Bereichen. Er sagte bereits, dass die Minoer die Kultzentren aus ihren Höhlen- und Bergheiligtümern an einem Ort zusammengeführt hätten; die „Kulthörner“ assoziierte er ebenso mit dem Stier wie mit der Sonnensymbolik, die oft das Sonnenrad zusätzlich zeigt, auch über den Enden der Doppelaxt und später auf der Stirn der Stierkopfgefäße für das. Den Thron in Knossos bezeichnete er als den eines Priesters oder einer Priesterin, und jenes nahe gelegene, abgesenkte „kultische Bad“ als ein Symbol für den Zugang zu den Erdgottheiten. Die Minoer hätten so ihr gesamtes Weltbild in einem Gebäude zusammengefasst. Er lag dabei grob auf einer Linie mit Nanno Marinatos, die am Begriff der „Paläste“ festhält – aber jenen eines Priesterkönigs, mit sehr weiten Teilen, die nur dem religösen Kult gewidmet waren.

Minos und die Integration

Mein Lehrer nannte diese Mischnutzung, die den Minoern als solche noch nicht einmal aufgefallen sein dürfte, einen Akt der Integration und des sozialen Friedens, der eine polytheistische Religion und eine am ehesten als feudal zu bezeichnende Regierung und Wirtschaft zu einem gemeinsamen System an einem Ort zusammengeführt hätte. Darin sah er auch die Bedeutung des Mythos, nach dem den einzelnen „Palästen“ die Namen der Fürsten zugeordnet waren, Minos, Rhadamanthys und Sarpedon, mit Minos als dem primus inter pares. „Minos“ bezeichnete er als einen Titel, nicht als einen Eigennamen, und er erinnerte an den ägyptischen Pharao Narmer oder Menes. Die gemeinsame Wurzel seien die Konsonanten mns. So hätten die alten Ägypter ohnehin keine Vokale geschrieben. Mns - das bedeute nichts anderes als „Priesterkönig“.

Das habe es den Mykenern vor dem Ende der Bronzezeit erleichtert, die kretischen Paläste zu übernehmen. Krieg, so sagte er, mag es gegeben haben; der Austausch der Führungsschicht könne aber einfach gewesen sein. Den größeren kulturellen Umbruch habe der Seevölkersturm bedeutet; er hielt ihn für eine Art gewaltsame Migration aus der Ägäis in die Levante unter der Führung heimatloser Offiziere des zusammengebrochenen Feudalsystems, deren Auslöser der dorische Migrationsdruck auf das griechische Festland gewesen sein könnte. Es sei kein Zufall, dass die Krieger auf den ägyptischen Reliefs von Medinet Habu aussähen wie die Mykener auf der „Kriegervase“.

Zwischen der Symbolik spätbronzezeitlicher und protogeometrischer Kunst sah mein Lehrer mehr Kontinuitäten als Brüche, und der mykenische und kretische Adel habe in Teilen sogar überlebt, nur die Zentralstaaten seien zusammengebrochen, damit auch der Handel; für das alte Warendistributionssystem habe es keine Grundlage mehr gegeben, wodurch auch die ägäischen Schriftsysteme weitgehend in Vergessenheit geraten seien. Es sei aber kein Zufall, dass man in „Linear Aa-ta-no dwe-wa-ja, in „Linear Ba-ta-na po-ti-ni-ja und im klassischen Griechisch Athene potnia (Göttin Athene, Herrin Athene) entziffern könne.

Der Umbruch am Ende der Bronzezeit sei viel mehr ein sozialer und ein wirtschaftlicher als ein kultureller und religiöser gewesen, sagte mein Lehrer. So erklärte er auch, dass beispielsweise bei den eleusinischen Mysterien in klassischer Zeit Gesänge üblich waren, die niemand mehr verstand. Er bezeichnete sie als die liturgischen Selbstverständlichkeiten aus minoischen Zeiten. Wer je Teile einer katholischen Messe in lateinischer Sprache gehört hat, wird das verstehen.

Es kristallisiert sich langsam heraus, dass das Gefühl meines Lehrers vor 35 Jahren immer mehr den archäologischen, frühgeschichtlichen und linguistischen Erkenntnissen zu gleichen beginnt; er war ein weiser Mann.

Ich gebe zu, es liegt wenig Politisches in diesen Dingen

Diese seltsame Kontinuität kann man auf Kreta heute noch finden; ich empfehle, die Akropolis von Smari zu besuchen, einen mystischen Ort. Westlich des kleinen modernen Städtchens führt eine einigermaßen befestigte Straße den Hügel hinauf bis zu einem schmalen Parkplatz, oberhalb dessen eine seltsame, kleine, doppelte Kirche steht. Aus dem rechten Teil des Kirchleins fließt eine heilige Quelle. Vor der Kirche stehen Bänke und mehrere Grillroste. Sie zeugen von der jährlichen Wallfahrt und dem anschließenden Fest mit gemeinsamem Mahl. Keine fünfzig Meter weiter rechts steht eine weitere, einsame weiße Kapelle in einem Garten, und weiter rechts beginnt der sanft gewundene Aufstieg zur Akropolis, vielleicht weitere dreißig Höhenmeter. Am Ende ein vergittertes Tor, das man bei meinem letzten Besuch leicht umgehen konnte; unmittelbar rechts davon war der Zaun brüchig. Es beginnt eine uralte, am Ende gut befestigte Straße aufwärts. Sie endet vor den Grundmauern eines minoischen Bergheiligtums.

So ziehen also die Bewohner von Smari seit vielleicht viertausend Jahren mindestens zweimal jährlich auf ihren heiligen Berg und verehren ganz andere Götter und Heilige als damals – oder auch nicht. Am Werden und Vergehen, an den Zuständigkeiten der Gottheiten hat sich nichts geändert, wenn man sie kennen möchte. Der Blick von der Akropolis von Smari auf die satten Täler und die kargen Gipfel ist wunderbar, die Stille fast unheimlich, bis auf den konstant pfeifenden Wind.

Ich gebe zu, es liegt wenig Politisches in diesen Dingen. Was soll das auch, wenn es zum Abend eine griechische Meze-Platte (ta pikilia) und kretischen Wein gibt, dazu sehr kretische Musik. Ich kann mich täuschen. Es war die Rede von Sprachen, Kulturen, Religion, Handel, Wirtschaft, Migration, Imperien, Kriegen; dem was vergeht, dem, was bleibt.

Und davon, dass mein Lehrer geneigt war, Europa an seinen Wurzeln und Kontinuitäten fest zu machen, weniger an seinen Brüchen und Katastrophen. Vielleicht bin ich auch deshalb ein Konservativer.

Einer, der Kreta liebt, einer, der Europa ungern aufs Spiel setzt für noch Unbekannteres als die eigene Tradition.

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Winfried Sautter / 28.08.2017

Wunderbar, diese Reflexion. Und zugleich ein Abgesang.

M. Koecher / 28.08.2017

Sehr geehrter Herr Matthes, herzlichen Dank für Ihren interessanten Artikel! Ich beneide Sie ein wenig um Ihren Lehrer - und muss Ihnen leider doch in einem Punkt widersprechen: Ihr Thema ist ein durch und durch politisches. Es beschreibt das gesellschaftliche Umfeld vor dem ersten großen Zusammenbruch der europäischen Zivilisation. In dieser Zeit fand im heutigen Norddeutschland die Schlacht an der Tollense statt, eine Schlacht mit epischen Ausmaßen - gemessen an der damaligen Zeit. (Ein über tausend Krieger starkes Heer aus dem heutigen Böhmen versuchte wohl, einen Flussübergang zu erobern.) In diesen Jahrhunderten fand auch ein Wechsel der landwirtschaftlich genutzten Tiere im heutigen Süddeutschland statt (und vllt nicht auch der Menschen). Ohne die alten Kulturzeugnisse des östlichen Mittelmeers entstand dennoch europaweit der Kern der späteren keltischen Kultur, die zumindest an der Donau der damaligen griechischen in nichts nachstand. Erst mit den Raubzügen und späteren Eroberungen der Germanen ging diese Kultur unter und versank im Dunkel. Und wenn Mark Twain meinte, Geschichte wiederhole sich nicht, sie reime sich nur, bekommt Ihr Artikel sogar eine “aktuellpolitische” Komponente.

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