Roger Letsch / 26.03.2021 / 06:15 / Foto: Bundesregierung/Bergmann / 61 / Seite ausdrucken

Ich entschuldige gar nichts mehr

Jetzt rede ich doch tatsächlich vom „Ende aller Verantwortung“, wo doch die Kanzlerin gerade höchstselbst und noch dazu die volle und alleinige übernommen hat für den Versuch, den Arbeitgebern ihrer Regierung (ja, das sind Sie, Sie und auch Sie!) für ein paar Tage Hausarrest zu verpassen. Gründe wurden in einer elfstündigen Sitzung am Vortag gefunden, die Ministerpräsidenten trugen die Entscheidung mit, welche die Kanzlerin in einer dürren, nur wenige Minuten langen Presseerklärung am nächsten Tag wieder einkassierte. Ich habe entschieden, ich kann mich auch anders entscheiden, ich trage schlussendlich die alleinige Verantwortung, es war mein Fehler.

Von all den fehlgeleiteten, aber erhellenden ich-Bezügen bemerkte das Publikum offenbar nur den letzten: Mein Fehler. Verdutzt erkannte der Bürger einen gänzlich neuen Charakterzug an seiner Gottkanzlerin. Sie kann Fehler eingestehen! Toll! Wirklich? Natürlich nicht! Den Weg, den Generationen von Politikern vor ihr gegangen waren, wenn sie Fehler eingestehen mussten, geht Merkel nicht. Ebenso wenig wie alle dickfelligen politischen Ziehkinder in ihrer Reichweite. Man „übernimmt Verantwortung“, wie man das Wort „Mist“ auf einen Zettel schreibt, den man zusammenfalten und in der Hosentasche verschwinden lassen kann. Immerhin: kein „nun sind sie halt eingesperrt“, kein „ihr schafft das“. Ein Fehler ist passiert, das ist auch schon alles.

Es ist jedoch ein Fehler, der perfekt ins Gesamtbild der vielen anderen Fehler des letzten Jahres passt. All die Fehleinschätzungen, die Anmaßungen, das Wegsehen, das Zu-Genau-Hinsehen, die Beschaffungsdebakel. Tausende zusammengefaltete Verantwortungszettel in Politikerhosen, und Samstag ist immer Waschtag. Dort, wo Politik im Ergebnis funktionierte, weil Eigeninteressen mit den Tageslosungen der kopflosen Politik auf wundersame, aber egoistische Weise in Einklang gebracht werden konnte, war es auch wieder nicht recht, wie die Affären um einige Unionspolitiker zeigen, die sich bei der Maskenbeschaffung nur deshalb bereichern konnten, weil ihre Politikerkollegen an Hybris grenzende Geldmittel dafür bereitstellten und gar nicht so genau wissen wollten, wer wie wo und zu welchen Konditionen liefern konnte.

Über Nacht ist es ihr dann eingefallen?

„Ich zahle jeden Preis“ ist nicht gerade ein Merkmal guter Kaufmannschaft und Weitsicht und zeugt eher davon, dass viele Politiker (siehe Energiewende, siehe Verkehrswende, siehe Wohneigentumswende…) bis heute nicht verstehen, wie Märkte funktionieren. Die beiden, die das offenbar wussten, sind als „Depp der Woche“ nun ihre Ämter und Mandate los, dürfen sich als Problemablenkungspinatas aber noch eine Weile durch die Empörungsarena prügeln lassen. Für die Summen, die sich Nüsslein und Konsorten ins eigene Täschlein leiten wollten, könnte man im NGO-Zirkus Berlin nicht mal ein Jahr lang die Kaffeemaschinen betreiben.

Doch zurück zur dürrlippigen Erklärung der Kanzlerin, die mal wieder etwas rückgängig gemacht hat. Diesmal ihre Idee von gestern. Ein weiterer Ausstieg aus dem Ausstieg gewissermaßen. Die Frage nach dem „warum“ hat sie beantwortet, wenn auch nur in einem Halbsatz. Die erste Frage, die ich mir und Freunden stellte, als ich von dem geplanten „Hausarrest für alle“ hörte, lautete nämlich „Ist das Urlaub? Ein gesetzlicher Feiertag? Wer bezahlt das eigentlich?“ In elf Stunden Verhandlung scheint in der Montagsrunde der Kanzlerin seltsamerweise niemand diese Frage gestellt oder damit Gehör gefunden zu haben. Über Nacht ist es ihr dann eingefallen? Hat sie „nochmal drüber geschlafen“ wie über den Atomausstieg? Oder gingen spät noch Fragen ein, an wen genau im Kanzleramt die Rechnungen zu adressieren und wie das Zahlungsziel anzusetzen sei?

Schadensersatz, verdammt noch mal! Damit konnte ja keiner rechnen! Während die Gastronomie, die Reisebranche, Künstler und Freiberufler auf dem letzten Loch pfeifen und im März noch brav auf Novemberhilfen warteten, kam wohl irgendwer auf die Idee, nicht von Kurzarbeit, von Hilfsgeldern oder von Gnadenakten zu träumen, sondern Scha-dens-er-satz zu verlangen! Merkel bekannte, dass es völlig unklar sei, wer bezahlen müsse und wieviel. Als ob sie diese entscheidende Frage bisher interessiert hätte!

Der nächste Lapsus in der Kurzmitteilung der Ewigen, an deren Klang wir uns fatalerweise schon gewöhnt haben, ist der oft missbrauchte Begriff „Verantwortung“ an sich. Der Amtseid der Kanzlerin beinhaltet eine recht klare Jobbeschreibung: Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Das betrifft das Ganze, nicht das Einzelne bzw. den Einzelnen. Wäre es anders, schlösse jeder Bürger einen separaten Vertrag mit der Kanzlerin ab, was er bekanntlich nicht kann, nicht tut und um Himmels Willen nicht wollen sollte. Dennoch wird diese imaginäre, aufs große Ganze gerichtete Aufgabe leider immer mehr auf das Kleine uminterpretiert: Als Verantwortung für alles, Alle, jedes und Jeden.

Ich verbitte es mir, dass Merkel bestimmt, wen ich treffen darf

Als die innere Sicherheit in den letzten Jahren so arg in Bedrängnis geraten war, dass auch der einzelne Bürger sich berechtigten Ängsten vor Parks, Dunkelheit oder gewissen Gegenden und Situationen ausgesetzt sah, wollte die Regierung Merkel von Verantwortung nichts wissen. Einer aus ihrer Ministerriege erdreistete sich sogar, uns mitzuteilen, dass es so etwas wie ein Recht auf innere Sicherheit nicht gebe.

Jetzt, wo die Bedrohung – sei sie nun groß oder nicht mehr so groß – die Gesundheit des Einzelnen betrifft, entdeckt die Kanzlerin plötzlich gesundheitliche Verantwortungen, die sie übernehmen kann. Seit einem Jahr reißt sie sie uns buchstäblich aus den Händen, wo sie ja eigentlich hingehört. Individuelle gesundheitliche Risiken sind kein Spielfeld für den Staat, der gern die Linien ziehen und Eintritt kassieren darf, aber weder Spieler noch Schiedsrichter sein sollte.

Ich verbitte es mir, dass die Regierung oder eine Ministerkonferenz oder eine Kanzlerin oder das Sams mir sagen wollen, wen ich treffen darf, wo und wann ich das tue und welche gesundheitlichen Risiken ich, meine Freunde und Familie dafür einzugehen bereit sein dürfen. Ihr wollt Regeln aufstellen? Bitte sehr, wir werden sie befolgen, wenn sie vernünftig sind, aber wir werden sie diskutieren und infrage stellen, wann immer uns danach ist. Ihr wollt strengere Regeln? Bitte sehr, in eurer Jurisdiktion, in Bundesgebäuden und Ämtern habt ihr die Vollmacht dazu. Ihr habt begründete Annahmen bezüglich Infektionsquellen, Hot-Spots und Empfehlungen für den Umgang damit? Lasst es uns wissen, aber hört damit auf, uns Angst einjagen zu wollen. Ihr wollt, dass wir die Bedrohung ernst nehmen? Dann solltet ihr glaubhaft machen, dass ihr selbst diese Bedrohung ernst nehmt, statt jede einzelne Empfehlung und Regel und Maskenpflicht, jede Reisewarnung und jedes Abstandsgebot selbst zu ignorieren und zu unterlaufen, sobald ihr glaubt, dass keine Kameras auf euch gerichtet sind.

Rousseaus Pädagogik als Leitbild von Merkels Politik

Merkels spröde Fürsorge für die Bürger scheint direkt von Rousseau inspiriert zu sein, welcher sinngemäß meinte, bei Kindern brauche man Gewalt (im Sinne von Führung), bei Erwachsenen Vernunft und nur der Weise brauche gar kein Gesetz. Und jetzt überlegen Sie mal, liebe Leser, als was Sie von der Regierung Merkel angesprochen werden. Wir werden behandelt wie unmündige Kinder statt wie erwachsene, selbst denkende Menschen. Die Regierung ist nach einem verlorenen Jahr und mit nun millionenfach greinenden Mündeln, denen sie jedes kritische Denken abzutrainieren versucht, sichtlich überfordert.

Rousseau, der sich auch für einen bedeutenden und vor allem weisen Pädagogen hielt, gab seine leiblichen Kinder ins Waisenhaus. Er war mit dem Basteln an der „Idee“ vom Kind zufrieden wie er sich auch mit der Idee „Volk“ im Gesellschaftsvertrag begnügte. Das tatsächliche Kind und der echte Mensch mit ihren Individualismen, Eigensinnigkeiten, Liebenswürdigkeiten und Defekten beugt sich aber nicht so leicht einer glatten Idee – und sei sie noch so fürsorglich gemeint. Drückt man stark genug, passen sicher manche in die Formen und krümmen sich, andere jedoch zerbrechen. Die einen bleiben dank Gehorsam und Angstmacherei von Corona verschont, die anderen sterben einsam an den Corona-Maßnahmen, verzweifeln, geben auf oder lassen sich fallen in den infantilen Zustand des Kontrollverlustes und des Nicht-mehr-wissen-wollens, weil sie die Unsicherheit nicht mehr ertragen können, auf der sie ihre wohlüberlegten und intelligenten Entscheidungen für gewöhnlich treffen.

Initiative, Verantwortung und Freiheit sind in Deutschland durch Regierungshandeln ganz im Geiste Rousseaus sturmreif geschossen, in wenigen Monaten werden sehr wahrscheinlich die Bannerträger und Vorbeter der Parteiencombo „Fifty Shades of Green“ ihre Fahne auf den Trümmern des Selberdenkens und der Eigenverantwortung pflanzen. Corona ist gewissermaßen die Unreifeprüfung für eine Gesellschaft, die bei Wahlen mit ihrer Stimme immer mehr auch ihre Verantwortung für das eigene Leben an eine von Negativauswahl und ideologischer Verblendung befallene Mandats- und Ämterkaste abgegeben hat. Merkel mag einen Fehler zugegeben haben. Für ihre Anmaßung, ihr Amt bestimme und befähige sie dazu, Verantwortung für unsere Leben im allerkleinteiligsten Sinne zu haben, hat sie sich nicht entschuldigt. Ich will nicht, dass mir der Staat in Gestalt der Regierung den Rücken kratzt. Diese Hand ist einfach zu grob für einen einzelnen Menschen.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Roger Letschs Blog Unbesorgt.

Foto: Bundesregierung/Bergmann

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Wilhelm Lohmar / 26.03.2021

Apropos Rousseau: Die Volonté générale darf auf keinen Fall mit Common Sense verwechselt werden.

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