Peter Grimm / 03.03.2017 / 14:31 / 11 / Seite ausdrucken

„Höchstmögliche Wertungsfreiheit“ beim Erlebnis Gewalt

Der Umbau der deutschen Sprache durch die Erfindung besserer und gerechterer Begriffe hat ja schon eine Weile Konjunktur. Das gute Vorhaben zur sprachlichen Verbesserung der Welt gilt auch etlichen Verantwortungsträgern als förderungswürdig. Manchmal allerdings scheinen sich die Worterfinder_*innen – um an dieser Stelle eine ihnen gemäße Form zu verwenden – dann doch etwas zu vergaloppieren. Die Kulturwissenschaftlerin und Journalistin Dr. Mithu Melanie Sanyal beispielsweise fand es angemessen, auch für Vergewaltigungsopfer einen Ersatz für die Bezeichnung „Opfer“ zu suchen, denn die sei zu passiv und erduldend. Sie schrieb u.a. in der taz:

„Da das Substantiv ‚Opfer‘ aus dem Verb ‚opfern‘ gebildet wurde, ist es nur naheliegend, aus dem Verb ‚erleben‘ das Substantiv ‚Erlebende‘ zu bilden. Denn das Einzige, was Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, teilen, ist ja eben dieses Erlebnis.“

Vergewaltigung soll wertfrei als Erlebnis und nicht als Verbrechen verstanden werden? Warum? Laut Sanyal dient das nur den Opfern, die vor allem deshalb nicht mehr so heißen sollen, weil sie als „Erlebende“ ihre Rolle nach einer Vergewaltigung selbst definieren können:

„Schließlich wird Erlebnis erst durch ein beigefügtes Adjektiv (wunderbares Erlebnis, grauenhaftes Erlebnis, langweiliges Erlebnis) näher bestimmt und lässt sogar Raum für Ambivalenzen (ein schreckliches, aber auch banales Erlebnis). Durch die Substantivierung „Erlebende sexualisierter Gewalt“ kann somit jede*r selbst bestimmen, wie er*sie das Erlebte bewertet. Gleichzeitig findet ein Perspektivwechsel statt: Die Formulierung lädt ein, über die Wahrnehmung der erlebenden Person nachzudenken, und nicht, was ein anderer Mensch mit dieser Person macht.

Außerdem trifft das Wort ‚Erlebende‘ noch keine Aussagen über Motivationen und Rollenverteilungen. Klassische Binaritäten wie aktiv/passiv werden aufgebrochen. Das Verb ‚leben‘, das im Wort steckt, macht trotzdem deutlich, dass das Erlebte durchaus lebensrelevant sein kann. Manche Erlebnisse müssen überlebt werden, mit manchen wird gelebt, manche werden durchlebt und dann abgeschlossen …“

Wer allerdings als „Erlebende sexualisierter Gewalt“ gar nicht darüber nachdenken möchte „wie er*sie das Erlebte bewertet“, sondern sich selbst als Vergewaltigungs- und Verbrechensopfer sehen will, darf dies, nach Sanyal, weiterhin tun.

„Selbstverständlich soll ‚Erlebende‘ andere Bezeichnungen nicht ersetzen. Wer sich als Opfer, Überlebende*r oder Be­trof­fe­ne*r wahrnimmt, hat jedes Recht sich auch so zu beschreiben! Nur können wir das im Vorhinein ja nicht wissen. Deshalb ist es wichtig, einen Begriff zur Verfügung haben, der eine höchstmögliche Wertungsfreiheit gewährleistet. Aus diesem Grund setzen wir uns dafür ein, ‚Erlebende‘ in den Duden aufzunehmen.“

Wenn ich es richtig verstehe, dürfen Menschen, die keine „Erlebende sexualisierter Gewalt“ sind, diese Zuschreibung nicht vornehmen.

Gibt es auch "Erlebende tödlicher Gewalt"?

Hat sich Frau Dr. Sanyal mit dieser Form der „höchstmöglichen Wertungsfreiheit“ bei Vergewaltigungen nun vergaloppiert oder gehört das zur neuen politisch-korrekten Welt? Wo, wenn nicht bei „Emma“ sollte man in dieser Frage Orientierung finden? Und hier wird dem Unmut über solche Umdeutungsversuche Raum gegeben. Die Zeitschrift berichtet, dass sich verschiedene Organisationen in einem Offenen Brief gegen die Vergewaltigungs-Verharmlosung ausgesprochen haben:

„Zu den ErstunterzeichnerInnen des Offenen Briefes gehören Mitglieder zahlreicher Organisationen und Initiativen, von Terre des Femmes bis #ichhabenichtangezeigt, von der ‚Initiative für Gerechtigkeit bei sexueller Gewalt‘ bis Sisters, von Femen bis „One Billion Rising“. Sie erklären: ‚Es ist nicht der Opferdiskurs, der Opfer degradiert. Es sind die Täter, nicht die Selbstbeschreibung der Opfer. Keine noch so euphemistische Umdeutung kann die Tat für ein Opfer ungeschehen machen, sehr wohl aber für den Rest der Gesellschaft – wie außerordentlich praktisch!‘ Und schließlich: ‚Sexuelle Gewalt ist kein Erlebnis. Sexuelle Gewalt ist ein Verbrechen.‘

Wäre es nicht so ernst, wäre es einfach nur noch komisch.“

Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen. Außer vielleicht die Befürchtung, dass Sanyals Sprachmodell ausgeweitet wird. Jedes Opfer eines Gewaltverbrechens wäre dann nur ein Gewalt-Erlebender, solange er sich nicht selbst zum Verbrechensopfer erklärt. Die Täter würden quasi zu „Verursachern eines Gewalt-Erlebnisses“. Aber das Neusprech-Modell stößt auch an Grenzen. „Tötungs-Erlebende“ geht nun wirklich nicht.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf Peter Grimms Blog Sichtplatz hier

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Leserpost

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Jochen Selig / 03.03.2017

Hier zeigt sich das Problem: Die Linke setzt seit Jahrzehnten die Begriffe, mögen sie auch noch so schwachsinnig sein wie im vorliegenden Fall. Der letzte, der dies aus konservativer Ecke probierte, war meines Erachtens Helmut Kohl mit der “geistig-moralischen Wende”. Das Ruck-Geschwafel Roman Herzogs verdampfte schon ins Nebulöse. Sehen wir dagegen die Parade der linksgrünen Begiffe vorbeidefilieren: bio, öko, Migrationshintergrund, Kita, Refugee, Studierende, LBQTBXDPDJSG oder was auch immer, Gender uswusf. Dem steht kein einziger positiv besetzter Begriff aus konservativ-bürgerlicher Richtung gegenüber. Die Kritik an diesen Begriffen hat den Nachteil, dass sie dadurch in der Diskussion sind und nicht mehr wegzubekommen.

Dr. Klaus Rocholl / 03.03.2017

Zu “Frau Doktor” und ihren Absonderungen - wie zu der gesamten Neusprech- und “Gender-” Diskussion - fällt mir nur der alte Satz ein: Richtig gefährlich wird es, wenn die Dummen anfangen, fleißig zu werden!

Heiko Stadler / 03.03.2017

Sprechen wir doch einfach ganz neutral von Gewalt-Anbietern und Kunden, die das kostenlose Angebot nicht abschlagen.

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