Für Gesetzgebung und Justiz im "Dritten Reich" war neben dem Willen des "Führers" das "gesunde Volksempfinden" maßgebend. Es galt im Strafrecht, im Erbrecht, bei Ansprüchen wegen Schadenersatz. Das Ermessen von Justiz und Verwaltung konnte vorhandenes Recht ergänzen oder auch gültiges Recht obsolet machen. So konnte es geschehen, dass Menschen in "Schutzhaft" genommen wurden (also ins KZ kamen), unmittelbar nachdem sie von einem ordentlichen Gericht freigesprochen worden waren. So konnte es auch geschehen, dass der Staat im November 1938 nach der Reichsprogromnacht die Lebensversicherungen der Juden beschlagnahmt und die Versicherungswirtschaft dabei mitgewirkt hat.
Elemente dieses Denkens kehren heute zurück - natürlich aus besten Absichten und getragen vom Drang, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Die Mehrheit der Politiker und Abgeordneten scheint es nicht einmal zu merken. Das wird deutlich an zwei Gesetzen, die der Deutsche Bundestag am 30. Juni in seiner letzten Sitzung vor der Bundestagswahl verabschiedete: Mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz sollen soziale Medien wie Facebook oder Twitter verpflichtet werden, Inhalte zu löschen, wenn diese "offensichtlich rechtswidrig" sind. Bundesjustizminister Maas erklärte dazu, Beleidigungen und "Hassposts" seien wahre Angriffe gegen die Meinungsfreiheit.
Und was ist, wenn eine Karikatur Mohammed "beleidigt"?
Ich fragte mich sogleich, ob dies auch für die Beleidigungen gilt, die ich in den letzten Jahren erfahren habe und gegen die ich mich, mal erfolgreich und mal erfolglos, presserechtlich zur Wehr setzte. Wenn die "taz", ein Kommentator im öffentlich-rechtlichen Rundfunk oder ein Politiker einen Autor beleidigt und mit Hassreden verfolgt, so ist dies offenbar nicht regelungsbedürftig, dazu reicht das Presserecht.
Wenn sich aber einer auf Facebook unflätig äußert, sollen andere, schärfere Maßstäbe gelten? Wenn jemand künftig erneut Mohammed mit einer Karikatur "beleidigt", muss diese dann auch auf Facebook gelöscht werden? Dem Gesetz fehlen alle konkreten Maßstäbe, die über das geltende Presse- und Äußerungsrecht hinausgehen. Ohne es so zu nennen, bezieht es sich auf das "gesunde Volksempfinden", so wie es in der Meinung von Justizminister Maas und seinen Gesinnungsgenossen über die "Grenzen der Meinungsfreiheit" zum Ausdruck kommt.
Mit dem Gesetz zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts wurde die "Ehe für alle" eingeführt. Das Problem ist dabei nicht die streitige Ausdehnung der Ehe auf Partner gleichen Geschlechts. Das Problem liegt im eindeutigen Verstoß gegen das Grundgesetz, wonach, so das Bundesverfassungsgericht, die Ehe ein "allein der Verbindung zwischen Mann und Frau vorbehaltenes Institut ist". Eine Klage beim Verfassungsgericht aus dem Kreis jener 220 Abgeordneten der Union, die gegen das Gesetz stimmten, ist sicher zu erwarten.
Auf die Auslegung kommt es an
Auch zur Begründung dieses Gesetzes brachte Justizminister Heiko Maas seine Version des "gesunden Volksempfindens" ins Spiel, indem er sagte: "Wir sehen einen Wandel des traditionellen Eheverständnisses, der angesichts der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers die Einführung der Ehe für alle verfassungsrechtlich zulässt." Im Klartext: Der Wortlaut der Verfassung und die Absichten des Gesetzgebers bei ihrer Verabschiedung spielen keine Rolle. Wenn wir anders empfinden als früher, so müssen wir die Verfassung nicht ändern. Es reicht, wenn wir sie anders interpretieren.
Dieses Verfahren wurde auch in der DDR geübt: In ihrer Verfassung stand "Die Freiheit der Meinungsäußerung ist gewährleistet", und diejenigen, die davon Gebrauch machten, sammelten sich im Zuchthaus Bautzen. Das war die Verfassungsinterpretation der DDR-Justizministerin Hilde Benjamin.
Man muss den Gedanken weiterführen, um seinen verderblichen Charakter zu erkennen. Am Ende gilt der Wortlaut von Gesetzen gar nichts mehr. Entscheidend ist vielmehr die wertende Einschätzung dessen, der das Gesetz anwendet oder über seine Anwendung entscheidet. Was der Machthaber oder die Mehrheit für das "gesunde Volksempfinden" hält, ist dann das neue Recht. Das bedeutet praktisch das Ende einer "rule of law", wie sie sich im westlichen Rechtsstaat herausgebildet hat.
Merkels zentrale Rechtsbrüche
Das Recht wird damit quasi "erdoganisiert". In der gegenwärtigen Türkei bestimmt ja der Präsident, was das "gesunde Volksempfinden" ist. Deshalb konnten Hunderttausende von Beamten ohne Rechtsgrund entlassen und das Vermögen angeblicher Gülen-Anhänger konfisziert werden. Der jüngste Fall war die Beschlagnahme zahlreicher Kirchen und Ländereien der syrisch-orthodoxen Kirche durch den türkischen Staat und deren Übereignung an die islamische Religionsbehörde. Hier wurden Eigentumstitel kassiert, die seit dem Untergang des Oströmischen Reiches unangetastet geblieben waren.
Beim Umgang mit dem Recht begeben wir uns in Deutschland seit einigen Jahren auf eine schiefe Ebene, die künftige Erdogans in ihrem Sinne nutzen können. Für die drei zentralen Rechtsbrüche der von Angela Merkel geführten Bundesregierungen musste jedesmal das "gesunde Volksempfinden" herhalten, auch wenn man den Namen vermied und den Sachverhalt blumig umschrieb.
Unentschlossen und schwach blieben die Versuche, den Rechtsbruch zu kaschieren. So geschah es im Mai 2010 beim Bruch des Maastricht-Vertrags anlässlich des ersten Hilfspakets für Griechenland, im März 2011 beim Ausstieg aus der Kernenergie nach der Flutwelle, die das Kernkraftwerk Fukushima zerstörte, im September 2015 bei der bedingungslosen Grenzöffnung für Flüchtlinge und illegale Einwanderer
So gesehen kann man im heutigen Deutschland durchaus am Rechtsstaat zweifeln. Es ist jedenfalls nicht mehr die "rule of law", an die ich glaube und mit der ich aufgewachsen bin.
Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche