Noch 14 Tage Kernkraft in Deutschland: Einladung zum „Selber den Abschaltknopf drücken“. Unser Autor Manfred Haferburg nimmt auf seine Weise Abschied.
Am 21. März 2023 habe ich folgende E-Mail an den ehemaligen Umweltminister Dr. Norbert Röttgen geschrieben, der mir gegenüber aus seiner ablehnenden Haltung zur Kernenergie nie ein Hehl gemacht hat. Kurz nachdem sich die Nuklearkatastrophe von Fukushima ereignet hatte, stellte Merkel ihre Sicht des verbleibenden Sicherheitsrisikos von Kernkraftwerken und somit ihre Atompolitik infrage und verkündete im Einklang mit ihrem Umweltminister Röttgen den Atomausstieg, der mit überwältigender Mehrheit im Bundestag im Juni 2011 beschlossen wurde. Die sofortige Abschaltung von acht Altanlagen wurde damit Bestandteil der Energiewende. Röttgen, der aufgrund seines guten Verhältnisses zu Merkel als „Muttis Klügster“ bezeichnet wurde, war als Umweltminister mit dem Kernkraftausstieg betraut, bis die Kanzlerin ihn 2012 völlig überraschend entließ, weil er in ihren Augen für „schwarz-grün“ stand.
Der Brief
Sehr geehrter Herr Dr. Röttgen,
leider haben wir beide in der letzten Zeit wenig miteinander kommuniziert. Dabei haben wir uns in den letzten Jahren doch so demokratisch über den Kernenergieausstieg auseinandergesetzt. Ich habe versucht, mit der Physik und der Ökonomie zu argumentieren, und Sie haben den Ausstieg leidenschaftlich vertreten.
Doch nun, in zwei Wochen, haben Sie unsere kleine Debatte um die Kernenergie gewonnen. Sie haben recht behalten. Die letzten drei Kernkraftwerke Deutschlands werden am 15. April verschrottet.
Ich muss neidlos zugeben, dass Ihr Sieg endgültig und vollständig ist. Nach diesem Datum wird es, so wie Ihre Große Koalition es im Atomgesetz festgelegt hat, in Deutschland keine kommerzielle Stromerzeugung aus Kernenergie mehr geben. Das ist endgültig. Und spätestens in drei Jahren wird eine Umkehr auch nicht mehr möglich sein, selbst wenn es eine gegenteilige politische Entscheidung geben sollte. Das Personal wird weg sein – schon heute ist die halbe Mannschaft in den Schweizer KKW deutsch – die Behörde wird verlernt haben, eine Atom-Aufsicht zu führen, die Hersteller, Zulieferer und Kontraktfirmen werden sich neu orientiert haben. Eine Rückbesinnung würde Jahrzehnte dauern.
Ihr Sieg ist also vollständig und wohlverdient. Da muss ich Ihnen wohl als Entschuldigung für meinen hartnäckigen Widerspruch eine kleine Kompensation anbieten: Sie können selbst den Abschaltknopf drücken.
Ich könnte das für Sie organisieren. Sie können selbst den Abschaltknopf auf einer der drei Anlagen drücken. Er ist auf der Leitwarte am Hauptfahrpult in der Mitte unter einer roten Klappe angebracht. Kein Problem, ihn zu finden – die Anlagen sind nahezu baugleich. Sie klappen den roten Kunststoffdeckel hoch, drücken fest und kurz auf den darunter liegenden roten Knopf und dann fallen die Abschaltstäbe in den Reaktorkern und sie können sehen, wie die Leistungsanzeige dann von 1.000 MW (statt 1.450 MW, die Anlagen sind ja im Streckbetrieb) schnell auf null fällt. Alle notwendigen Schalthandlungen erfolgen danach vollautomatisch.
Ich habe noch ein paar gute Beziehungen und kann das eigenhändige Abschalten für Sie organisieren. Falls noch weitere Spitzen-Kollegen der CDU oder befreundete führende Kollegen von den Grünen – Ihren künftigen Koalitionspartnern – dazu Lust haben, es sind ja noch drei Anlagen. Ich kann auch die Presse dazubitten, damit Ihr Anti-Kernkraft-Engagement gebührend in den Medien gewürdigt wird.
Beim Selbstabschalten können Sie nichts falsch machen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, das höchstausgebildete Leitpersonal wird Ihnen über die Schulter schauen und Sie können fragen, falls Sie bei der historischen Schalthandlung unsicher sind.
Sollten Sie sich entscheiden, mein Angebot nicht anzunehmen und den Abend lieber bei Ihrer Familie zu Hause zu verbringen und zur Feier des Tages mit ein paar gleichgesinnten Freunden eine gut gekühlte Flasche Champagner zu genießen, dann wird der Abschaltvorgang etwa zwei Stunden dauern. Die Operatoren werden auf den Leitwarten manuell per Knopfdruck die Generatorleistung 10 MW pro Minute absenken. Die automatische Leistungsregelung des Reaktors wird im gleichen Maße die Regelstabgruppen in den Reaktorkern einfahren, so dass die Reaktorleistung mit sinkt. Nach zwei Stunden erfolgt dann die letzte Netztrennung des großen 1.450 Megawatt-Generators. Die Fahrschicht wird dann damit beginnen, das Kraftwerk zwecks kommender Verschrottung kaltzufahren. Schon am 16. April werden keine Dampfschwaden mehr am Kühlturm sichtbar sein.
Es ist davon auszugehen, dass auch in der Nacht vom 15. zum 16. April die Sonne nicht scheinen wird, so dass Solarstrom als Ersatz nicht zur Verfügung stehen wird. Weiterhin ist mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass auch der Wind in der Nacht vom 15. April nicht um 22:00 Uhr gerade in dem Moment auffrischen wird, um die nunmehr fehlenden 3.000 Megawatt passend auszugleichen. Doch keine Sorge, Herr Dr. Röttgen, das Licht bei Ihrer kleinen Champagnerparty wird nicht ausgehen. Der Lastverteiler wird parallel zum Herunterfahren der drei großen Kernkraftwerke exakt dieselbe Leistung an Kohlekraftwerken oder vielleicht auch Gaskraftwerken hochfahren lassen, beziehungsweise dieselbe Leistung aus Frankreich an Kernkraftstrom oder aus Polen an Kohlestrom importieren. Ab dem 15. April 2023 wird dieser Ersatz der heruntergefahrenen Kernkraftwerksleistung durch Kohle oder Import verstetigt. Da ist es an der Zeit, gleich noch ein weiteres Gläschen Schampus zu erheben.
Bitte antworten Sie mir schnell, denn ich muss meine Beziehungen spielen lassen, damit es organisiert werden kann. Bis dahin wünsche ich Ihnen alles Gute.
Herzlichst Ihr
Manfred Haferburg