Von Mića Stejić und Eric Angerer.
Westliche Staaten rufen Israel verstärkt zur Mäßigung auf, westliche Medien übernehmen arabische Narrative – so wie die Hamas es einkalkuliert hat. Die Autoren ziehen in diesem 4-Teiler eine Zwischenbilanz des Krieges, erörtern die Folgen eines Waffenstillstands und die Perspektiven des Konflikts.
Mindestens 1.200 Israelis kamen bei dem von der Hamas, dem Islamischen Dschihad und palästinensischen Zivilisten durchgeführten Überfall am 7. Oktober ums Leben. Nach zwei Monaten israelischer Gegenschläge wurde in den internationalen Medien die Zahl von über 19.000 getöteten Palästinensern kolportiert. Bei diesen Bodycounts und ihrer Interpretation sind mehrere Aspekte bemerkenswert und zu diskutieren.
In den letzten Wochen wurde gerade in alternativen Medien versucht, das Ausmaß des bestialischen Massakers an israelischen Zivilisten zu relativieren. Auch Blogs, die etwa gegen das Corona-Regime viel Gutes geleistet haben, haben Beiträge veröffentlicht, in denen das Agieren der Hamas beschönigt und suggeriert wird, dass ein großer Teil der israelischen Toten auf Aktionen der israelischen Armee zurückzuführen sei (siehe hier).
Nun wird es sicherlich stimmen, dass die Hamas bei ihrem Angriff auch israelische Soldaten attackiert hat und dass bei den ersten Gegenschlägen der Israel Defense Forces (IDF) auf flüchtende Terroristen auch mitgeführte israelische Geiseln und in Siedlungen nicht nur Hamas-Kämpfer, sondern auch Zivilisten getroffen werden. Für die israelischen Soldaten war es gegenüber dem palästinensischen Überraschungsangriff wohl sehr schwierig, immer die richtige Entscheidung zu treffen.
Die Verantwortung für die Toten trägt jedenfalls die Hamas, ohne deren Überfall es in Israel keine zivilen Toten gegeben hätte. Und vor allem kann mit den erwähnten Aspekten nicht unter den Tisch gekehrt werden, dass grausame Massaker an Zivilisten stattgefunden haben und es den Angreifern darum ging, Juden zu töten und zu verschleppen. Die erschreckenden Belege dafür sind zahlreich. (siehe etwa hier oder hier oder hier oder hier). Viele Videos davon stammen von den Body-Cams der Terroristen der Hamas, die diese stolz verbreitet haben. Diese Dinge verschleiern zu wollen, zeugt von einer kaltschnäuzigen Verachtung für die Ermordeten.
Ziel der Hamas: maximale Opferzahlen
Von der gemeldeten Zahl von 19.000 toten Palästinensern wird vielfach abgeleitet, dass Israels Gegenschlag unverhältnismäßig sei oder gar, dass Israel in diesem Konflikt der eigentliche Täter sei. Tatsächlich sind zu dieser Zahl mehrere Dinge anzumerken.
Erstens stammt diese Zahl von der Hamas. Konkret sind das die von der Hamas befehligten Gesundheitsbehörden in Gaza oder von der United Nations Relief and Works Agency (UNRWA). Auch diese UNO-Struktur, die 30.000 überwiegend palästinensische Beschäftigte hat, wird im Gaza-Streifen von der Hamas beherrscht; bei einer Art Betriebsratswahl stimmten vor einigen Jahren 95 Prozent der UNRWA-Mitarbeiter für die Hamas. Diese hat jedenfalls ein Interesse an möglichst hohen Opferzahlen, helfen sie doch dabei, die Öffentlichkeit für die palästinensische Seite zu mobilisieren und in muslimischen und europäischen Ländern Menschenmassen auf die Straße zu treiben. Man kann davon ausgehen, dass die Hamas-Zahlen auch getötete Hamas-Kämpfer, die Opfer fehlgeleiteter palästinensischer Raketen und frei erfundene Todesopfer beinhalten.
Zweitens legt es Israel, anders als die Terroristen der von Katar aus gelenkten Hamas oder des dem Iran nahestehenden Islamischen Dschihad, nicht darauf an, gegnerische Zivilisten umzubringen. Israel hat sogar wiederholt die Bevölkerung des Gaza-Streifens dazu aufgefordert, die Kampfzone im Norden zu verlassen. Die IDF bombardiert oder beschießt nicht gezielt zivile Ziele, sondern militärische Einrichtungen, wobei teilweise auch Zivilisten getroffen werden.
Drittens trägt dafür, nämlich für die palästinensischen zivilen Todesopfer durch IDF-Angriffe, ebenfalls die Hamas die Verantwortung. Die Hamas hat ihre Abschussrampen und anderen militärischen Einrichtungen in Wohngebieten und Kommandozentralen gar unter Krankenhäusern installiert, was Kriegsverbrechen sind, und sie damit zu legitimen Zielen gemacht. Sie benutzt die Zivilbevölkerung systematisch als Schutzschilde, um israelische Angriffe zu erschweren und um bei zivilen Toten dann den jüdischen Staat beschuldigen zu können. Um diese zynische Taktik fortsetzen zu können, hat die Hamas sogar hunderttausende Zivilisten daran gehindert, in den südlichen Teil des Gazastreifens abzuziehen.
Frieden zwischen Israelis und Saudis torpediert
Die Hamas nimmt dabei auch kein Blatt vor den Mund. Hamas-Führungsmitglied Chalil al-Haja sagte der New York Times in Doha, es sei notwendig gewesen, „die gesamte Gleichung zu ändern und nicht nur einen Zusammenstoß zu haben“. Mit dem Angriff am 7. Oktober sei es „uns gelungen, die Palästinenserfrage wieder auf den Tisch zu bringen, und jetzt kommt niemand mehr in der Region zur Ruhe.“ Die vielen Opfer auf palästinensischer Seite durch die Reaktion Israels sei der notwendige Preis dafür. „Ich hoffe, dass der Kriegszustand mit Israel an allen Grenzen dauerhaft wird und dass die arabische Welt auf unserer Seite steht“, zitierte die New York Times Taher al-Nunu, den die Zeitung als Medienberater der Hamas bezeichnet. „Was die Gleichung ändern könnte, war eine große Aktion, und es war zweifellos klar, dass die Reaktion auf diese große Aktion groß sein würde“.
Während die EU und die USA Milliarden Dollar an die Hamas transferiert haben, meist über die UNRWA, erklärt Chalil al-Haja ganz offen, das Ziel der Hamas sei es nicht, den Gazastreifen zu regieren und diesen etwa mit Wasser und Strom zu versorgen. Mit dem Angriff am 7. Oktober „ging es nicht darum, die Situation in Gaza zu verbessern. Diese Schlacht dient dazu, die Situation komplett umzuwerfen.“
Vor allem sollte eine weitere Annäherung zwischen Israel und Saudi-Arabien verhindert werden. Osama Hamdan, Mitglied im Politbüro der Hamas, sagte der Deutschen Presse-Agentur in Beirut, die Hamas habe mit dem Massaker „den Versuch Israels, unter dem Deckmantel der Normalisierung in die Region einzudringen und die Rechte der Palästinenser zu verletzen, vereitelt“. Mit den Abraham-Accords hatten ja schon 2020 die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) ihre Beziehungen mit Israel normalisiert, zuletzt waren die Saudis auf demselben Weg. Wegen des Gaza-Krieges hat Riad dann aber die Gespräche gestoppt.
Damit ist die Taktik der Hamas und der hinter ihr stehenden Muslimbruderschaft und von Katar bereits ein Stück weit aufgegangen. Und überall in der muslimischen Welt gelingt es den Extremisten, den alten antijüdischen Hass neu anzufachen. Auch in Paris, London, Berlin, Essen und Wien bauen die „Antizionisten“ erheblichen Druck auf. Diejenigen Linken, die die Bodycounts und das gesamte Narrativ der Hamas übernehmen, betreiben letztlich, wenn auch teilweise aus Naivität, das antisemitische und mörderische Geschäft der Hamas, des Islamischen Dschihad und der Muslimbrüder. Sie befördern gewaltsame Eskalationen und das In-Brand-Setzen der gesamten Region.
Die Zivilbevölkerung macht sich mitschuldig
Teile der propalästinensischen Demonstranten in den westlichen Ballungszentren rechtfertigen das Agieren der Hamas als eine Art legitimen Widerstand gegen „den Zionismus“. Andere Teile und jedenfalls der Großteil des politischen und medialen Diskurses im Westen lehnen zwar die Hamas ab, machen sich aber für die Palästinenser und ihre Rechte stark und richten ihre Kritik immer mehr vorrangig gegen Israel, das zu Zurückhaltung und Waffenstillstand aufgerufen wird. Diese Haltung ist oberflächlich und inkonsequent.
Eine klare „Trennung zwischen Hamas und dem palästinensischen Volk“, wie sie UN-Generalsekretär Antonio Guterres fordert, ist unhaltbar. Schon der Überfall am 7. Oktober machte das deutlich. Als die Grenze durchbrochen war, folgten hunderte oder gar tausende palästinensische Zivilisten den Terroristen der Hamas und des Islamischen Dschihad, um selbst ebenfalls Juden zu foltern, zu töten und zu verschleppen. Die Rückkehrer wurden von großen Teilen der Bevölkerung mit Jubel über diesen „Triumph“ empfangen. Die verschleppten jüdischen Geiseln wurden wie Trophäen der Zivilbevölkerung vorgeführt und von zahllosen Palästinensern gedemütigt und misshandelt. Erhebliche Teile der Bevölkerung des Gazastreifens sind keine „unschuldigen Zivilisten“, sondern islamische Extremisten, die einem tiefsitzenden Hass gegen „Ungläubige“ anhängen, der in einer genozidalen Mordlust gegen Juden gipfelt.
Ein genauer Prozentsatz derjenigen, die dieser totalitären Ideologie folgen, ist kaum anzugeben. Mutmaßlich wird es sich um deutlich mehr als die Hälfte der Bevölkerung handeln. Eine gewisse Annäherung an die Kräfteverhältnisse kann eine Studie des „Palestinian Center for Policy and Survey Research“ von Juni 2023 liefern. Demnach glauben 66 Prozent, dass Israel seinen 100. Jahrestag nicht feiern wird, und 51 Prozent denken, dass das palästinensische Volk in der Lage sein wird, ganz Palästina in der Zukunft zurückzuerobern. Nur 28 Prozent unterstützen die Zweistaatenlösung.
Unverändert: Terror als Mittel der Wahl
Schon vor dem Überfall am 7. Oktober waren 53 Prozent für eine Rückkehr zu einer bewaffneten Intifada, aber immerhin 47 Prozent für friedlichen Widerstand. 52 Prozent glaubten, dass bewaffnete Aktionen der beste Weg zur Beendigung der Besatzung seien. 79 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens waren für die Bildung bewaffneter Gruppen, die unabhängig von der Palästinensischen Autonomiebehörde gegen Israel kämpfen.
Wenn neue Präsidentschaftswahlen abgehalten würden und nur zwei Kandidaten, Mahmoud Abbas (PLO/Fatah) und der Hamas-Führer Ismail Haniyeh, anträten, würden sich nur 46 Prozent der Wähler beteiligen, und von diesen würde Abbas im Gazastreifen 30 Prozent und Haniyeh 65 Prozent der Stimmen erhalten. Unter den „Nichtwählern“ sind sicherlich nicht nur politisch Desinteressierte oder Anhänger der „linken“, ebenfalls scharf antizionistischen „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP), sondern vor allem auch Sympathisanten des Islamischen Dschihad.
Das „Washington Institute for Near East Policy“ zeigte im Juli 2023, dass etwa 20 Prozent der Gazabewohner ein „positives Bild“ von der Hamas haben. Weitere 37 Prozent äußerten eine „eher positive“ Meinung, während 25 Prozent die Machthaber „eher negativ“ und 15 Prozent „sehr negativ“ bewerteten. In welche Richtung die Haltung der Kritiker geht, blieb dabei offen, denn beachtliche 40 Prozent unterstützten den noch extremistischeren „Islamischen Dschihad“.
Kinder von klein auf zum Krieg gedrillt
Anfang November 2023 befragte das Institut „Arab World for Research and Development“ (AWRAD) 668 Palästinenser zu ihrer Meinung zu dem Hamas-Angriff am 7. Oktober. Demnach unterstützten 76 Prozent der Palästinenser das Massaker an den Juden. Bemerkenswert dabei: Im Westjordanland befürworten sogar 83,1 Prozent den Terrorangriff, nur 6,9 Prozent sind dagegen. Im Gazastreifen heißen 63,6 Prozent den Überfall gut. Traditionell war der Gazastreifen die Hochburg der Hamas, und möglicherweise war am 7. Oktober auch dort die Zustimmung zum Terrorangriff noch höher. Nach vier Wochen könnte aber die israelische Armee so manchen die Begeisterung vertrieben haben.
Auch die Frauen im Gazastreifen spielen für den islamischen Extremismus eine zentrale Rolle. Als Mütter, Erzieherinnen und Lehrerinnen ziehen sie die nächste Generation von Hamas-Anhängern auf und vermitteln ihnen das ideologische Rüstzeug. Dementsprechend gibt es zahllose Fotos von Volksschuljungen, die stolz als Hamas-Kämpfer kostümiert posieren. Bereits in den Kindergärten bereiten „Pädagoginnen“ Vierjährige auf das „Märtyrertum“ – als höchste Form des Kampfes gegen Israel – vor.
Suha Arraf, eine palästinensische Feministin mit israelischem Pass, hat 2012 für eine sehenswerte Doku vier Frauen der Hamas in ihrem Alltag begleitet und es geschafft, die Mentalität und Ideologie dieser Frauen einzufangen. Huda al-Abud, damals 56 Jahre alt, sagte ihr: „Der einzige Grund, warum wir Kinder in die Welt setzen, ist, um sie Gott und dem Kampf preiszugeben.“ Von ihren zehn Kindern blieben ihr bis 2012 nur fünf. Zwei starben als Selbstmordattentäter, drei wurden getötet, als israelische Hubschrauber Jagd auf Terroristen machten. Huda ist stolz darauf. Huda al-Abud erzählt über die Beerdigung ihres Sohnes: „Leute kamen aus dem ganzen Gazastreifen, um daran teilzunehmen. Heute nennen sie mich 'Umm als Shahidim', die Mutter der Märtyrer. Andere Frauen beneiden mich und möchten auch so stark sein.“ Ihre Stärke will Huda anderen Müttern vermitteln: Sie hält Vorträge in einer Moschee. Immer wieder zeigt sie das Video, das am Morgen jenes Tages gedreht wurde, an dem ihr Sohn in den Tod ging und das zeigt, wie er sie zum Abschied umarmt. Ohne diese Frauen wäre die Hamas im Gazastreifen nur halb so stark.
Die antijüdische Propaganda war erfolgreich
Insgesamt kann man davon ausgehen, dass mindestens 70, wenn nicht über 80 Prozent der Bewohner des Gazastreifens die Hamas oder den Islamischen Dschihad unterstützen und ihre totalitäre, antisemitische und mörderische Ideologie teilen. Neben dem wortwörtlichen Glauben an die aggressive Botschaft des Islam ist der Hass auf die Juden zu einem Kern der Identität dieser großen Mehrheit geworden. Die Propaganda der seit 18 Jahren herrschenden Hamas hat die Juden entmenschlicht und viele Einwohner Gazas zu noch rabiateren Antisemiten gemacht. Die Hamas und der Islamische Dschihad sind keine Fremdkörper in der Kultur des Gazastreifens, sondern verkörpern den Judenhass und die Mordlust in großen Teilen der Bevölkerung des Gazastreifens.
Ein Großteil der Einwohner Gazas ist also nicht „unschuldig“. Dennoch gibt es wahrscheinlich eine Minderheit von vielleicht 20 Prozent, die mit dem islamischen Extremismus nicht konform geht. Dass es in den letzten Jahren und auch nun angesichts des Zur-Schau-Stellens und Quälens von jüdischen Gefangenen keinerlei öffentlichen Protest gab, belegt – anders als manche meinen – noch nicht, dass es diese Minderheit nicht gibt. In einer mörderischen Diktatur sind solche Proteste eben kaum möglich. Außerdem sind Kinder, auch wenn viele bereits in jungen Jahren antisemitisch verhetzt werden, nicht schuldig für die Taten ihrer Eltern. Insofern ist es richtig, dass Israel immer wieder versucht, Zivilisten aus den Kampfzonen zu bekommen – auch wenn sich dabei auch Hamas-Führer absetzen.
Lesen Sie morgen Teil 2.
Mića Stejić, Jahrgang 1973, ist serbischer Herkunft und arbeitet im Gesundheitswesen. Er war jahrzehntelang in marxistischen Zusammenhängen und zuletzt in der Bewegung gegen das Corona-Regime aktiv.
Eric Angerer, Jahrgang 1974, ist Historiker, Sportlehrer und freier Journalist. Sein politisches Engagement bezog sich lange Zeit vor allem auf die Unterstützung der Selbstorganisation von Beschäftigten in Großbetrieben.