Der zehnte Jahrestag der Tsunamikatastrophe von Fukushima steht unmittelbar bevor, und das heißt, aus Erfahrung: Wir müssen uns auf einiges gefasst machen, was da an erneuten Verdrehungen in der Öffentlichkeit auf uns zurollen könnte. Es wäre nicht das erste Mal, dass dabei aus vielen tausend Opfern ausschließlich von einer Naturkatastrophe kurzerhand Atom-Tote gemacht würden. Wie gerade wieder geschehen, bei den Nachrichten über ein gerade wieder aktuelles Erdbeben vom vergangenen Wochenende.
Was war damals geschehen: Am 11. März 2011 starben zwischen 18.000 und 19.000 Menschen in den Fluten vor der japanischen Küste, von der die Wassermassen durch ein extrem starkes Erdbeben zunächst viele Kilometer weit weggedrückt worden waren und anschließend mit umso größerer Wucht zurückkehrten und das Land großflächig und mehrere Meter hoch überspülten. Die Monsterwellen zerstörten dabei auch ein Atomkraftwerk, das für mehrere Jahre außer Betrieb gesetzt wurde. Die Opfer aber starben ausnahmslos durch die unvorstellbaren Naturgewalten.
Am Wochenende war es wieder so weit, ein erneutes Erdbeben erschütterte die Gegend, bis Montagabend waren drei Tote und über hundert Verletzte registriert, ein Tsunami fand nicht statt. Im Vergleich zu 2011 lief die Katastrophe vergleichsweise glimpflich ab. Der Nachrichtenkanal t-online – nach Reichweite immerhin der Marktführer unter den deutschen Nachrichten-Websites – nahm die Katastrophe zum Anlass, gleich zu Beginn seines Berichtes, bereits ab dem vierten Satz, das Augenmerk auf das Atomkraftwerk zu richten und schrieb am Sonntag:
„Eine Tsunamiwarnung wurde jedoch nicht ausgegeben. Der Betreiber des Atomkraftwerks in Fukushima überprüft jetzt den Zustand der Anlage, in der es 2011 zum GAU gekommen war. Regierungssprecher Katsunobu Kato sagte vor Journalisten, er habe Berichte vom Betreiber Tepco erhalten, denen zufolge die Anlage in Fukushima und das Atomtraftwerk Onagawa "keine Auffälligkeiten" zeigten. Nach einem Erdbeben und einem Tsunami war es am 11. März 2011 in drei der sechs Reaktoren zur Kernschmelze gekommen. Mehr als 18.000 Menschen starben. Es war das schlimmste Atomunglück seit der Tschernobyl-Katastrophe von 1986.“
Wie, bitteschön, soll man diesen Absatz in der logischen Folge dieser Sätze anders interpretieren, als dass der Autor meint, der GAU sei verantwortlich gewesen für alle 18.000 Tote? Oder: Dass er zumindest will, dass der Leser dies meint. Und was die Worte ebenfalls suggerieren, und was ebenfalls nicht wahr ist, dass die Atomkatastrophe von Tschernobyl noch mehr als 18.000 Todesopfer gefordert hätte.
Mail an den Chefredakteur von t-online, Florian Harms
Die Toten sind bei t-online klug eingebettet, vorn und hinten, in die Atomkatastrophe. Klug auch, so könnte man weiterfolgern, dass keine direkte Kausalität geschaffen wurde, denn dadurch würde man sich bei den kundigen Menschen allzu klar angreifbar machen. Aber sollte hier eine ganz subtil bewusste Fehlleitung der Leser vorliegen?
Nun ja, was jedenfalls nicht gegen eine solche Absicht spricht: Ich habe am Montag um 12.38 Uhr, am zweiten Tag dieser Veröffentlichung eine Mail an t-online geschickt:
Sehr geehrte Redaktion, ein Hinweis. In Ihrem Beitrag über das aktuelle Erdbeben lautet Ihr Bezug zum Erdbeben, dem Tsunami und dem Atomunglück von Fukushima vor zehn Jahren so: (es folgt der Textausschnitt siehe oben, ulk) Dadurch, dass Sie die 18.000 Toten mitten in Ihre Nachricht über das Atomunglück platzieren, muss zwangsläufig der Eindruck entstehen, als seien die Toten Atomopfer. Tatsache ist, dass die 18.000 Todesfälle ausschließlich dem Tsunami und keinesfalls dem GAU geschuldet waren. So wie es jetzt dasteht, ist es grober Etikettenschwindel.
Mit freundlichen Grüßen,
Ulli Kulke
Darauf keine Reaktion, weder eine Antwort auf die Mail, noch hat sich in der Nachricht auf der Website von t-online etwas geändert. Deshalb um 16.07 eine weitere Nachricht, diesmal an den Chefredakteur von t-online, Florian Harms (vormals Spiegel-Online-Chef), über den Messenger-Dienst von Facebook:
Lieber Herr Harms, ich hatte vorhin schon mal die Redaktion von t-online angeschrieben (siehe hier unten), aber keine Antwort erhalten, der Beitrag von t-online ist auch nach wie vor unverändert so im Netz. Darf ich Sie auch darauf aufmerksam machen? Hier mein Schreiben von vorhin: (es folgt das Zitat meines Schreibens an t-online, ulk) Mit freundlichen Grüßen, Ulli Kulke".
Uminterpretationen der Fukushima-Katastrophe
Erneut keinerlei Reaktion. Man muss also nach all dem davon ausgehen, dass die Redaktion einschließlich Chefredakteur Florian Harms jenen Absatz genauso korrekt finden, wie er dort steht. Es handelt sich nicht um eine Nachlässigkeit oder um fehlendes Wissen. Perfekt suggeriert: Aus Opfern einer Naturkatastrophe wurden – wieder mal – Opfer eines Atomunfalls.
Ich muss gestehen: Jedes Mal, wenn ich am Sonntag mit halbem Ohr die Nachrichten im Radio hörte, war man bei den Sendern hier und da auch nicht allzu weit von dieser Fehlleitung entfernt, so klar indes wie bei t-online war es nach meiner Erinnerung nirgends formuliert. Und: Im Rundfunk versendet es sich, jedenfalls in den Nachrichten. T-Online dagegen wurde über den auf der Website unkorrigiert verharrenden Fehler von mir wiederholt hingewiesen – ohne die richtigen Konsequenzen daraus zu ziehen.
Man reiht sich damit ein in die unseligen Uminterpretationen der Fukushima-Katastrophe, wie sie Claudia Roth vor acht Jahren bereits gestartet hatte, mit einer komplett verdrehten Wirklichkeit:
„Heute vor zwei Jahren ereignete sich die verheerende Atom-Katastrophe von Fukushima, die nach Tschernobyl ein weiteres Mal eine ganze Region und mit ihr die ganze Welt in den atomaren Abgrund blicken ließ. Insgesamt starben bei der Katastrophe in Japan 16.000 Menschen, mehr als 2700 gelten immer noch als vermisst. Hunderttausende Menschen leben heute fernab ihrer verstrahlten Heimat. Unsere Gedanken sind heute bei den Opfern und ihren Familien.
Die Katastrophe von Fukushima hat uns einmal mehr gezeigt, wie unkontrollierbar und tödlich die Hochrisikotechnologie Atom ist. Wir müssen deshalb alles daran setzen, den Atomausstieg in Deutschland, aber auch in Europa und weltweit so schnell wie möglich umzusetzen und die Energiewende voranzubringen, anstatt sie wie Schwarz-Gelb immer wieder zu hintertreiben. Fukushima mahnt.“
Claudia Roth als geradezu vorbildlich loben
Im Nachhinein allerdings müssen wir sogar Claudia Roth als geradezu vorbildlich loben. Sie, immerhin, hat sich damals nach einiger Zeit dafür wenigstens verhalten entschuldigt. Und sie hat ihre Tatsachenverdrehung gelöscht. Nein, genau genommen hat nicht sie selbst sich entschuldigt. Sondern ein gewisses „Team Roth“, denn das mit dem Fehler war sie ja nicht selbst, sondern irgendein Mitarbeiter. Hat sie gesagt. Und bei t-online? Wer war es da?
Vielleicht war es bei dem Nachrichtenportal ja auch nicht die Redaktion, sondern irgendein Bot. Genügend entsprechende Falschbehauptungen im Netz hätte der jedenfalls herausfiltern können, um sich daraus eine zwar völlig falsche, aber politisch sehr korrekte Meldung fabrizieren zu können.
Mal sehen. Montagabend, 20.30 Uhr (und auch heute, Dienstagmorgen, um 5:50 Uhr Anm. der Red.), war die Meldung bei t-online vom Sonntag jedenfalls noch unverändert zu lesen.
Nachtrag: Einige Stunden nach dem Erscheinen dieses Beitrags am Dienstag ist die Meldung bei t-online still und leise geändert worden, ohne den in solchen Fällen üblichen redaktionellen Hinweis auf eine erfolgte Änderung.