Je lauter Joachim Gauck die Freiheit predigt, desto ungehaltener reagiert das linke Deutschland. Freiheit scheint dort in etwa so populär Jazz auf dem Mond. Linke wünschen sich einen Bundespräsidenten lieber als Gleichheitsapostel, Gerechtigkeitsprophet, Integrationsmissionar oder Emanzipationsguru. Als Freiheitskämpfer ist er ihnen verpönt. Denn sie schätzen Freiheit in etwa so wie Luft – als selbstverständliches Nichts. Wahrscheinlich ist das auch der tiefere Grund, warum linke Weltanschauungen seit Jahren an Attraktivität verliert. Denn alleine, dass die deutsche Jugend massenhaft radikalliberale Piraten wählt, ist nichts als ein Ruf nach Freiheit im Bevormundungsstaat.
Vom Internetkontrollsystem Acta bis zum Glühbirnenbefehl, von der Mülltrennung bis zum ARD-ZDF-Gebühren-Zwang reicht die Alltagserfahrung in einem Staat, der zusehends auftritt wie ein Ober-Sheriff. Alleine die Verkehrsüberwachung ist ein Repressionssymptom: 20 Millionen Straßenschilder prägen Deutschland, alle 28 Meter steht eines, mit jedem Atemzug wird jemand geblitzt, mit jedem Wimpernschlag gibt es ein Strafzettel wegen Falschparkens, 9 Millionen Bürger haben inzwischen Punkte in Flensburg, der Staat drangsaliert mit seinen in Büschen kauernden Polizisten brave Muttis auf Ausfallstraßen und macht damit ein dreistes Milliardengeschäft.
Selbst wenn wir bürokratisch schon halb ersticken, leisten wir uns lieber einen Ordnungshüter, eine Regulierungs- und eine Aufsichtsbehörde mehr. Von der Eröffnung eines Bankkontos bis zur Krankenkassenmitgliedschaft wird das Leben zum Juraseminar. Das Paternalisten-Repertoire macht weder beim E10-Benzin-Befehl noch beim Rauchverbot halt, es erzwingt selbst das nervende Alarmpiepsen im Auto, wenn man seinen Gurt nicht gleich anlegt. Der Konformismus des Guten duldet nicht einmal die kleine Freiheit.
Es dämmert damit eine Tugendrepublik herauf, in der Hohepriester des Gutmenschentums uns mit ihren Geboten umstellen: Du sollst kein Fleisch essen und kein Kaminfeuer anzünden, du sollst nicht Glücksspielen (es sei denn bei staatlichen Lottogesellschaften), du sollst nicht nach Leistung beschäftigen, sondern nach Geschlecht und Herkunft. Mit Quoten und Verboten kommen sie daher, die Verbraucher- und Familienschützer, die Gleichstellungsbeauftragten und Integrationsberater. Sie tragen Menschen teure Bildungspakete hinterher, die gar keine haben wollen, denn sie wissen alles besser. Sie sind Profiteure des Freiheitsentzugs, jene Armutsbekämpfer, Präventionsräte und Klimaretter, Lobbyisten der Gewissheitsindustrie, die ihr Geschäft mit der Besserwisserei so verfolgen, dass sie ihre Nachfrage mit Problemstudien immer selbst erzeugen. Ihre Absicht, das Land in eine gigantische Besserungsanstalt zu verwandeln, folgt einer ganz eigenen Logik, denn dann haben sie als Besserungs-Pädagogen ihr Auskommen.
Jede einzelne Steuererklärung in Deutschland ist ein Beweis für Gaucks These vom Freiheitsdefizit. Deutsche Finanzämter sind Tempel der Bürokratievergötterung, sie huldigen 33.000 (!) Steuerparagrafen, Steuererklärungen können wir gar nicht mehr alleine abgeben, wir brauchen dazu 100.000 Steuerberater, noch einmal so viele Steuerbeamte und wir verschwenden Tag für Tag die Intelligenz einer Kulturnation mit dem erniedrigenden Aufarbeiten von Abschreibungen, Freibeträgen und Bemessungsgrenzen. Kein Mensch blickt mehr durch, und ein dunkler Nebel des Misstrauens legt sich über unsere Steuerbehörden – Zigtausende von Rechtsverfahren sind anhängig, millionenfache Sachverständigenstunden von Juristen sind gefordert in einer absurden Welt, die ihren Sachverstand längst verloren hat. Und die Antwort des Staates darauf: Die Schaffung neuer Aufsichten für einen Bürokratieabbau, der nie kommt.
Ob man Berliner Internet-Hippie oder schwäbischer Mittelständler ist - in Wahrheit formuliert Gauck mit seinem unbequemen Ruf nach mehr Freiheit genau das avantgardistische Programm, das die Republik so dringend braucht.
Zuerst erschienen auf Handelsblatt online, 02.03.2012