Gastautor / 03.12.2022 / 12:00 / Foto: Raimond Spekking / 124 / Seite ausdrucken

Es gibt nichts Besseres als Parteien

Von Kristina Schröder.

Das Konzept Partei ist das beste, das uns Menschen bisher eingefallen ist, um Präferenzen der Bevölkerung in politisches Handeln zu übertragen, behauptet Kristina Schröder in ihrem neuen Buch.

Was passiert, wenn die Parteien als Raum der Artikulation und Aushandlung von Interessen wegfallen, ließ sich 2019 in Frankreich beobachten. Die ungebremste Wucht des Aufstands der Gelbwesten hatte auch etwas damit zu tun, dass Präsident Macron mit „En Marche“ die etablierten Strukturen des Parteiensystems hinweggefegt hat.

Auch ich habe seinen Aufstieg mit viel Sympathie verfolgt. Fand es großartig, wie er in kürzester Zeit 400 000 Menschen für seine Bewegung, die ausdrücklich nicht Partei sein will, gewonnen hat. Junge, hippe Leute, viele bereits in Spitzenpositionen in Wirtschaft und Gesellschaft, ließen sich von Macron elektrisieren. Die Nationalversammlung, die im Sommer 2017 gewählt wurde, war weiblicher, bunter und deutlich jünger als bisher. En Marche hatte gezielt um Politik-Neulinge geworben und war damit erfolgreich: Die Zivilgesellschaft zog ins nationale Parlament ein.

Das bedeutete aber auch: Ganze drei Viertel der Sitze im Parlament wurden neu besetzt. Das tradierte Wissen, wie man als Abgeordneter die so unterschiedlichen Interessen der Bürger eines Wahlkreises aufnimmt, austariert und im Parlament in politisches Handeln umsetzt, konnte kaum noch weitergegeben werden. En Marche versuchte es daher mit Online-Seminaren, fünf Wochen lang täglich eine Stunde: „Was ist eigentlich ein Rathaus?“ lautete der Titel eines Erklärfilms, der in diesem Rahmen an die Mitglieder der neuen Bewegung ging. Ich bezweifle, dass das reicht, um wirksam zwischen den aufgebrachten, von Abstiegsängsten erfassten Bürgern einer sich notorisch abgehängt fühlenden Provinz und den neuen Politstars, die nach einer kühlen Kosten-Nutzen-Analyse umfassende Reformen des üppigen französischen Sozialstaats für notwendig befunden haben, zu vermitteln.

Bild der abgehobenen „Altparteien“

Ich weiß, die Parteien bei uns haben kaum einen besseren Ruf. „Machtversessen und machtvergessen“, so das populäre Testat Richard von Weizsäckers über die Parteien, nachdem er von deren Vertretern zum Bundespräsidenten gewählt worden war. Zwei Drittel der Deutschen würden es wahrscheinlich auch heute sofort unterschreiben. AfD und mit Abstrichen auch die Linkspartei bedienen dieses Ressentiment, indem sie hingebungsvoll am Bild der abgehobenen „Altparteien“ zeichnen. „Wenn wir kommen, dann wird aufgeräumt, dann wird ausgemistet, dann wird wieder Politik für das Volk und nur für das Volk gemacht“, so der heutige AfD-Bundestagsabgeordnete Markus Frohnmaier in einer Rede bei einer Kundgebung in Erfurt 2015.

Dieser vermeintliche Gegensatz zwischen dem, was das Volk „eigentlich“ will, und dem, was in einem politischen System nach langwierigen Aushandlungsprozessen qua Mehrheit beschlossen wird, ist der rote Faden jeder Parteienkritik. Im Geiste Jean-Jacques Rousseaus im Kern antidemokratischer Unterscheidung zwischen volonté de tous, der Summe der Einzelwillen, und volonté générale, dem Gemeinwille, von dem alle Bürger profitierten, wurde diese Denkfigur von Karl Marx bis Carl Schmitt links und rechts munter variiert, aber in ihrer Essenz immer wiederholt. Und wenn mir als Abgeordnete vorgeworfen wurde, die Parteien sollten doch nicht immer streiten, sondern einfach mal das Richtige/Notwendige/Vernünftige tun, ist das exakt dieses Denkmuster.

Der Punkt ist aber: Was das „Vernünftige“ ist, lässt sich nicht objektiv feststellen. Noch nicht mal mit gesundem Menschenverstand. Menschliche Vorstellungen über das Gute rekurrieren auf subjektive Wertvorstellungen, die wissenschaftlicher Erkenntnis prinzipiell nicht zugänglich sind. Parlamentarische Demokratien folgen dieser Einsicht. Es gibt keinen Weg, das objektiv Richtige für einen Staat zu ermitteln. Auch nicht durch „Experten-Kabinette“, mit denen es immer wieder versucht wird. Denn der Experte durchschaut zwar bestenfalls faktische Zusammenhänge besser. Aber dadurch sind seine Wertüberzeugungen nicht von höherer Güte.

Interessen effizient miteinander verhandeln

Die Demokratie hat daher den Anspruch, das „Richtige“ zu tun, durch den wesentlich bescheideneren Ansatz ersetzt, das zu tun, was die Mehrheit für das Richtige hält. Und um diese Auffassungen der Bürger aufzunehmen, zu bündeln und in politisches Handeln umzusetzen, gibt es nichts Besseres als Parteien.

Nur sie sind (immer noch!) in der Lage, Entwicklungen in den unterschiedlichen Schichten und Milieus aufzunehmen. Wer glaubt, Vertreter von Parteien seien abgehoben, soll mal seinen örtlichen Bürgermeister oder Abgeordneten einen Tag lang vor Ort begleiten. Er wird ihn erleben als Ansprechpartner der Drogenhilfe, der Handwerkskammer und der Fluglärmgegner. Im Rahmen meiner Bürgersprechstunde habe ich mich um die Frührentnerin, der die Krankenkasse keine Inkontinenzprodukte zahlen wollte, den Vater, dem nach der Scheidung der Umgang mit seinem Kind verwehrt wurde und den Existenzgründer, der an der Bürokratie verzweifelt, gekümmert. In meiner Partei musste ich mir schon als 19-jährige Kreisvorsitzende der Jungen Union für eine Veranstaltung mit der Vertriebenen-Union Gedanken machen über den richtigen Ton einer Rede vor lauter Menschen, die ihre Heimat verloren haben, und versuchte, mit Arbeitnehmer- und Mittelstandsflügel meiner Partei eine gemeinsame Position zum Thema Rente hinzubekommen. Da ich in meinem engeren Freundeskreis leider keinen Pfarrer habe, behaupte ich, dass ich, die ehemalige Parteipolitikerin, von allen meinen Freunden mit Abstand die vielfältigsten und authentischsten Einblicke in die sozialen Realitäten unserer Gesellschaft habe.

Es gibt auch keinen Ort, wo Interessen derart effizient miteinander verhandelt werden. Insbesondere Volksparteien haben nach wie vor sehr gute Instrumentarien dafür, aus vielfältigen Interessen facettenreiche Positionen zu entwickeln. Und diese Positionen auch wieder zu korrigieren, wenn ihre Mitglieder weiter gedacht haben. Wohin es führt, wenn im Rahmen der vermeintlich demokratischeren direkten Demokratie der Wille des Volkes einmal und kaum korrigierbar feststeht, können wir in Sachen Brexit in Großbritannien studieren.

Schulen der Demokratie

Schließlich sind Parteien auch Schulen der Demokratie. Sie bilden das politische Personal aus, lehren, wie die demokratische Willensbildung funktioniert und welche ganz eigenen Funktionalitäten das politische System hat. Es ist kein Zufall, dass Seiteneinsteiger in die Politik, die diese Ausbildung nicht durchlaufen haben, so oft im politischen Alltagsgeschäft scheitern.

Wer versucht, Parteien durch Bewegungen zu ersetzen, hat daher vielleicht in Wahlen kurzfristig Erfolg. Im Regierungsalltag wird er aber merken, was ihm fehlt ohne diesen Puffer und Vermittler.

Und wer versucht, Parteipositionen gegen die „eigentlichen“ Interessen des Volkes auszuspielen, landet erst recht im Desaster. Denn irgendwoher muss er diese „eigentlichen Interessen“ ja nehmen. Rasse, Klasse, Nation oder Gott – Versuche gab es viele, überzeugt haben sie alle nicht.

Parteien in Demokratien haben dagegen zunächst einmal lediglich einen prozeduralen Anspruch: Interessen aufzunehmen und in politisches Handeln zu übersetzen. In einer immer unübersichtlicheren und komplexeren Welt ist das schon ganz schön viel.

Kristina Schröder, geb. 1977, saß von 2002 bis 2017 als Abgeordnete für die CDU im Bundestag. Von 2009 bis 2013 war sie Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend.


Dies ist ein Auszug aus Kristina Schröders neuem Buch „FreiSinnig. Politische Notizen zur Lage der Zukunft“. Hier bestellbar

Foto: By © Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons), CC BY-SA 4.0, Link

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Lutz Liebezeit / 03.12.2022

Vielleicht scheißen die uns ja gerade im noch größeren Umfang an? Wenn ich das mal ganz krass formulieren darf? Man schaue mal auf den Öl- und den Gaspreis. Die Weltmarktpreise sind im Sinkflug, für Gas rapide. Da muß man doch fragen, was sind das für Preissteigerungen, mit denen die Energiewirtschaft zu kämpfen hat und die sie an uns durchreicht? Wofür braucht es europaweite Preisbremsen, wenn die Nachfrage gar nicht da ist? Von Öl und Gas kommt das jedenfalls nichts? Inflation wird durch steigende Nachfrage vor allem nach den Rohstoffen Öl und Gas verursacht. Weil Öl in irgendeiner Form in jedem Produkt drinnen steckt und dadurch durchschlägt. Dann haben wir Inflation. Aber da steigt gar nichts? Ist die Krise womöglich gar keien Krise und ein reines politisches Theater? Nach den Hintergründen will ich jetzt mal nicht fragen.

Sam Lowry / 03.12.2022

p.s.: “Und schließlich, da bin ich mir doch sicher nach dem Lesen zweier Aufsätze, besteht bei der Autorin ein Selbstgefährdungsrisiko von null.” Ja, das kann man so einfach nie sagen. Da war doch so ein bekannter Torwart, soweit ich mich erinnern kann, der einem Zug die Vorfahrt nahm, von dem es niemals einer gedacht hätte. Denn mit solchen Gedanken geht man besser nicht hausieren. (r.i.p.). Nun, ich habe einem osteropäischem Arzt gesagt, dass ich mich lieber umbringen werde, bevor ich nochmal einen Krankenwagen rufe und mich in diesem Krankenhaus ohne Bett und Getränk wiederfinde. Und schon war ich auf der Geschlossenen, sämtliche Behörden wurden informiert, alles lief schief. Bis ich dann mit Strafanzeige drohte und endlich aus der Klapse wieder rauskam. Ansonsten ich bereits einen Fluchtweg gefunden hatte. 1. Stock, Balkontür offen, Feuerwehrschlauch, notfalls Bettlaken (nass!)...  man kann niemandem in den Kopf schauen!!!

Matthias Pfeifer / 03.12.2022

Si tacuisses, philosophus manisses… Sorry, damit baut Frau Schröder in meinem Ansehen LEIDER wieder ab, Nach vielen guten Beiträgen kann ich diese Schönfärberei LEIDER nicht teilen.

Sam Lowry / 03.12.2022

“Es gibt nichts Besseres als”: Ein Ozora-Video auf Youtube (Psytrance), 6 Meter Bilddiagonale per HQ-Beamer, eine Main-Coon im großen Bett; danach mit über 300 auf einer Yamaha R1 oder BMW S1000RR über die A48 heizen, mit Psytrance auf dem Kopfhörer, und zurück ins Bett. Und das Allerbeste ist, wenn man dann noch ein Rennen mit einem Ferrari fahren kann. Das ist für mich DAS BESTE. MFG. (ja, so unterschiedlich ist “DAS BESTE” bei Menschen)... besonders bei mir!

Martin Stumpp / 03.12.2022

Das Konzept politischer Parteien in Verbindung mit einer im Wesentlichen indirekten Wahl der Abgeordneten, kann bestenfalls als rudimentär demokratisch angesehen werden, insbesondere wenn wie in Deutschland Gewaltenteilung nicht vorgesehen und die Verfassung ohne Beteiligung der Bevölkerung geändert werden kann. Die Tatsache, dass die Parteien sich ein neues Wahlvolk erwählen können und auch tun spricht hier Bände.

Elias Schwarz / 03.12.2022

Parteien? Die sinnlose und gnadenlose Masse, die, wie Gartenschädlinge, nicht anderes gelernt hatte, als fressen, fressen und noch mal fressen. Diese Überbleibsel der sorglosen Jahre soll so schnell wie möglich zu einer rein privaten Angelegenheit werden. Und am besten hat übrigens nicht der Macron gemacht (was hat er eigentlich alles gemacht?), sondern Donald Trump. Und Trump war nicht umsonst in Deutschland so beliebt. Er kann sich nämlich leisten, sich mit fähigen Personen umzugeben und nicht mit Parteiparasiten, die man aus öffentlichen Kassen füttern muß.

Andreas Huber / 03.12.2022

Ein Buch, geschrieben über Vitalität und Nutzen des Pferds. Es erscheint quasi am Todestag des Tieres. Sie können jetzt absteigen, Frau Schröder.

Patrick Meiser / 03.12.2022

@ Armin Reichert - Sie sagen bzw. schreiben es. Allerdings muß man nicht noch Geld zum Fenster rausschmeißen, wenn ein Tisch wackelt. Und bei Ihrer Auflistung fehlt noch diese “Koryphäe” E. Fester - das personifizierte Musterexemplar parteipolitischer Ausbildung.

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