Jetzt hat sich’s aussondiert. Ab jetzt kommt das Elend der Berichterstattung über die echten Verhandlungen auf uns zu. Was ich nicht verstehe – warum sind viele Journalisten nur so scharf darauf, dass es mit einer neuen GroKo genauso weiter wie vor der Wahl vorwärts zum Sieg des Sozialismus auf deutschem Boden geht? Warum waren sie vorher genauso scharf auf Jamaika?
Die Berichterstattung über die Regierungsbildung versetzt mich in die besten Zeiten der DDR zurück. In Zeiten, als der tapfere Wolf Biermann noch seine Gefühle über die Staatsführer aus unserer Seele sang:
„Im ‚Neuen Deutschland‘ finde ich
Tagtäglich eure Fressen
Und trotzdem seid ihr morgen schon
Verdorben und vergessen…“
Es ist wieder ein bisschen wie einst in der DDR – egal, ob man TV einschaltet oder am Zeitungskiosk vorbeigeht, immer dieselben Gesichter (nein, ich sage nicht das F…-Wort) der selbstgefälligen Politgerontologie. Es wird getalkt, kommentiert und geschwurbelt, bis selbst dem hartgesottensten deutschen Wähler schwindlig wird.
24 Stunden Schmierentheater
Die SPD sondierte mehr mit sich selbst. Ihr Vorsitzender dreht einen politisch-medialen Salto mortale (sic) nach dem anderen, hier, hier, hier, hier und hier. So ähnlich pirouettiert auch sein neuer Freund Seehofer, hier, hier und hier. (Es war einfach, all diese Links zu finden. Man gibt nur ein: „Seehofer droht mit“ und findet 431.000 Resultate…)
Und natürlich – nur die Sorge um die kleinen Leute treibt sie um, ein Posten in der Politik interessiert sie nicht. Die Sondierer haben es sich nicht leicht gemacht. Um uns zu beweisen, dass es ihnen nicht um das Kleben an Macht und Pfründen geht, haben sie ein grandioses Schmierentheater von 24 Stunden Dauerfeilschen aufgeführt. Und dabei immer schön um den heißen Brei herumgeredet, als wären Digitalisierung, die Vereinigten Staaten von Europa und die Einheits-Krankenversicherung die Hauptthemen, die das Wahlvolk so umtreibt.
Ob 200.000 oder 260.000 Migranten kommen? Dann sind sie halt da. Nebenbei ist in der Berichterstattung völlig untergegangen, dass die hochtrabenden Klimaziele nach dem Verbrennen mehrerer hundert Milliarden Euro Steuergeld sang- und klanglos begraben wurden. Aber Vorsicht – nur die messbaren Resultate bis 2020 wurden begraben, nicht das künftige Geldausgeben für denselben Zweck.
Nach drei Monaten medialer Erfolgsaufforderungen für die Regierungsbildung habe ich Pofalla-Anwandlungen: „Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen“, sagte der feinsinnige CDU-Politiker und jetzige Bahnvorstand dereinst zu seinem Fraktionskollegen Bosbach und fügte hinzu, nachdem der ihn auf die im Grundgesetz garantierte Entscheidungsfreiheit von Abgeordneten hingewiesen hatte: „Ich kann den Scheiß nicht mehr hören“. Mit der Einhaltung des Grundgesetzes haben sie es seit 2015 in der GroKo nicht mehr so sehr.
Nächster Versuch: Kenia
Ich persönlich kann die Dauersondierer nicht mehr sehen, weder auf dem Balkon noch hinter den verklebten Scheiben der Parteizentralen oder gar im Stile des ZK der SED vor die Presse tretend. Ich kann – wie die halbe SPD – auch das Wort GroKo einfach nicht mehr hören.
Liebe Journalisten, ich bitte um Gnade! Ihr dürft gerne weiter Trump, Kurz, die Ungarn, die Dänen, die Schweden, die Polen und die Tschechen runtermachen. Ihr dürft gerne weiter über „Männer“ mit Messern berichten. Wir ahnen schon dunkel, wer gemeint ist. Ihr dürft weiter gerne die goldene Zukunft der Energiewende herbeischreiben, mit schwarzen Wolken den Klimahimmel verdunkeln und den Fachkräftezuzug zur Rettung unserer Renten begrüßen. Ihr dürft weiter Krisen – ob mit Euro, Migration oder Energie – in Herausforderungen umbenennen. Da mache ich mir keine Sorgen, wir verstehen Euch schon. Die Wessis haben inzwischen die Ossis beim „zwischen-den-Zeilen-lesen“ eingeholt.
Aber, liebe Journalisten, lasst uns bitte, bitte mit den Eskapaden der Entstehung einer neuen GroKo in Ruhe. Wenigstens ein Weilchen.
Wenigstens so lange, bis Markus Söder aus der Deckung kommt und die GroKo womöglich doch noch platzt. Ach nein! Dann kommen wir ja vom Regen unter Umgehung der Traufe direkt in die Sülze. Dann beginnen die CDU/SPD/Grünen-Sondierungen – von Jamaika nach Kenia, Gottseibeiuns!
Manfred Haferburg ist Autor des Romans „Wohn-Haft“ mit einem Vorwort von Wolf Biermann.