Ich wollte eigentlich gar nicht mehr die Begriffe Ost- und Westdeutsche verwenden. Ich habe mich auch zu Zeiten der Teilung unseres Landes strikt geweigert, von „DDR-Bürgern“ zu reden. Für mich waren die Menschen in Sachsen oder Mecklenburg genauso Deutsche wie in Bayern oder Hessen.
Nun aber hat das Bundesministerium des Inneren (BMI) erklärt, es sehe gravierende Versäumnisse bei der Wertevermittlung in Ostdeutschland. Heimatstaatssekretär Merkus Kerber (CDU) sagte der BILD-Zeitung, es müsse genauer untersucht werden, wie es eigentlich um die Ostdeutschen stehe, „die im Moment anscheinend ganz anders über Fragen der Zugehörigkeit und des Zusammenhalts denken.“ Er wolle die Ostdeutschen jetzt besser integrieren: „Unsere Integrationspolitik ist also beileibe nicht nur auf Zuwanderer beschränkt“. „Wir wollen und müssen“, so Kerber, uns vor allem „mit wütenden und enttäuschten Bürgern, die sich abgehängt fühlen“, auseinandersetzen. Auf diese Idee hat ihn möglicherweise diese Dame gebracht.
Nun wäre es in der Tat mehr als löblich, wenn die Bundesregierung ernsthaft darüber nachdenken würde, warum diese Bürger wütend und enttäuscht sind, warum sie „anscheinend ganz anders über Fragen der Zugehörigkeit und des Zusammenhalts denken“. Aber genau darum scheint es Kerber nicht zu gehen, wenn das BMI vor allem gravierende Versäumnisse in der Wertevermittlung in Ostdeutschland sieht. Im Klartext: Die Ostdeutschen ticken falsch, das müssen wir ändern! Daraus aber spräche, mit Verlaub, eine ziemliche Herablassung.
Man darf bezweifeln, dass diese Art vormundschaftlichen Denkens bei den Ostdeutschen auf Verständnis und Begeisterung stoßen wird. Wahrscheinlicher ist indes, dass sie nun erst recht auf stur schalten werden. Eine Bundesregierung, die so tut, als habe sie die Weisheit für sich gepachtet und jeder, der anderer Meinung ist, müsse zur Räson gebracht werden, die leistet dem Eindruck kräftig Vorschub, hier soll das Volk oder sollen Teile eines Volkes wieder einmal umerzogen werden.
Die Ostdeutschen haben 1953 und 1989 um ihre Freiheit gekämpft
Auf diese Idee ist seltsamerweise niemand gekommen, solange jene von Kerber erwähnten Bürger nur auf Parolen der PDS und der Linkspartei hereinfielen. Auch nicht, solange nur das SED-Regime beschönigt wurde und eine groteske Ostalgie sich breitmachte. Erst mit dem Erstarken der AfD fühlt man sich offenbar bemüßigt, das Volk belehren zu müssen, wie und was es zu denken habe.
Nicht einmal die Familien-usw-Ministerin Giffey, eine gebürtige Ostdeutsche, scheint diese Besserwessimanier (Kerber ist in Ulm geboren) zu stören. Sie hat ja das Vorwort zu jener Broschüre geschrieben, die aufzeigt, wie man „völkische Elternhäuser“ erkennt und ihnen entgegenwirkt. Dass die darin aufgezeigten Beispiele wie an den Haaren herbeigezogen oder wie von Empfehlungen für die HJ und den BDM abgeschrieben wirken, ist wohl auch nur den Gescheiteren aufgefallen. So viel Klischee auf einmal geht gar nicht.
Wie wäre es, wenn die Bundesregierung einmal zur Kenntnis nehmen würde, dass wir in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat leben, in dem jede Meinung jenseits extremer politischer Positionen erlaubt ist und niemand wegen seiner politischen Ansichten bevorzugt oder benachteiligt werden darf? Dass Meinungsvielfalt auch bedeutet, heftig streiten zu dürfen, dass es absolute Wahrheiten nicht gibt und dass Denkverbote jeden Fortschritt behindern und ein Rückschritt in die totalitären Ideologien des 20. Jahrhunderts bedeuten?
Die Ostdeutschen haben 1953 und 1989 unter Einsatz von Gesundheit, Leib und Leben für die Freiheit und Einheit Deutschlands gekämpft. Den Westdeutschen wurde nach 1945 dieser heroische Kampf um die Freiheit erspart, weil die Amerikaner ihnen dies weitgehend abnahmen. Zum „Dank“ mussten sich die USA dafür oft von uns beschimpfen lassen, bis heute.
Wo ist der Beleg für das Gefühl des "Abgehängtseins"?
Woraus leitet Kerber den Anspruch ab, dass Ostdeutsche falsch, Westdeutsche aber offenbar richtig ticken? Daraus, dass die Ostdeutschen, rein historisch bedingt, zahlenmäßig gegenüber den Westdeutschen in einer Minderheit sind und weil tatsächliche oder vermeintliche Mehrheiten immer recht haben würden? Mit welchem Recht glaubt er zu wissen, ostdeutsche Ansichten entspringen einzig dem Gefühl des „Abgehängtseins“? Kann es nicht auch die Erfahrung mit zwei aufeinanderfolgenden Diktaturen sein, die die Menschen brutal entmündigt hatte? Oder zählen diese Erfahrungen gar nichts?
Was hält Kerber davon ab, sagen wir mal, zugleich auch jene selbstverliebten, moralisierenden, sich gerne kosmopolitisch gebenden Westdeutschen auf den Pfad der Tugend zurückzuführen, weil sie vergessen haben, wie wertvoll und wie wenig selbstverständlich unsere Freiheit ist, und dass die Bedrohung unserer Freiheit in dem Maße zunimmt, in dem wir nicht mehr bereit sind, für sie einzustehen gegen jedermann, der sie in Frage stellt?
Unsere Vorstellungen von Freiheit und Demokratie sind mit den Vorstellungen vieler Zuwanderer nämlich nur schwer oder gar nicht vereinbar. Geht es hier um die Ursachen, redet man lieber um den heißen Brei herum. Die Wertvorstellungen dieser Menschen liegen viel weiter auseinander als die zwischen Ost- und Westdeutschen.
Wenn Ostdeutsche dies besser erkannt haben als viele Westdeutsche, dann ist das kein Grund, sie dafür zu rüffeln. Es wäre vielmehr ein Grund, sie einmal für jene Sensibilität zu loben, mit der sie noch immer erkennen, wann ihnen wieder ein staatlich verordnetes Weltbild aufgezwungen werden soll. Dieses Weltbild heißt: Gleichmacherei, Konformität. Ähnlichkeiten mit dem Sozialismus, der in den alleinglückseligmachenden Kommunismus führen soll, sind alles andere als zufällig. Nicht zufällig ist auch, dass viele nach dem Krieg geborene Westdeutsche diese Gefahr für unsere Freiheit nie erkannt haben. Sie reden gerne von Vielfalt und Buntheit, meinen aber das Gegenteil. Genuin deutsche Mannigfaltigkeit ist ihnen jedenfalls pfui. Bunt dürfen nur die anderen sein.
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