Kanada gehört zu den führenden Ländern auf dem Gebiet der friedlichen Nutzung der Kernenergie: Sie entwickeln Reaktoren (Terrestrial Energy), bauen eigene Kernkraftwerke (CANDU-Baureihe von Schwerwasserreaktoren) und betreiben sie seit Jahrzehnten sehr erfolgreich (Anteil etwa 15 Prozent an der Stromproduktion). Damit widerlegen sie gleich zwei Argumentationsketten der „Atomkraftgegner“:
Erstens: Kanada zeigt, dass es keinen Zusammenhang zwischen der friedlichen Nutzung der Kernenergie und dem Streben nach Kernwaffen gibt. Man kann sehr wohl erfolgreich Kerntechnik ohne einschlägige Rüstungsindustrie betreiben. In der vollen Bandbreite von Grundlagen-Forschung über Entwicklung bis hin zur Produktion – wie einst auch in Deutschland.
Zweitens: Kanada ist nicht nur mit schier unerschöpflichen Vorkommen an fossilen Energien (Erdgas, Kohle und Öl), sondern auch mit sogenannten „Alternativenergien“ (Wasserkraft, Wind und Holz) reichlich gesegnet. Es wäre damit nahezu frei in seiner Entscheidung, welche Energieformen genutzt werden sollen. Diese Entscheidungsfreiheit haben Länder wie Frankreich, Deutschland, Süd-Korea oder Japan wegen ihrer eingeschränkten Ressourcen leider nicht. Kanada teilt aber mit vergleichbaren Ländern wie Russland oder Brasilien den Nachteil schierer Ausdehnung. Beispielsweise befinden sich geeignete Flüsse nicht unbedingt in der Nähe der großen Städte beziehungsweise der Industriezentren.
In Kanada zeigt sich diese Problematik sehr deutlich: In der Provinz Ontario wird mit 15 CANDU-Reaktoren mehr als die Hälfte der dort verbrauchten elektrischen Energie erzeugt. Andererseits gibt es in vielen Städten im hohen Norden praktisch keine Alternative zu Diesel-Generatoren. Der Dieselkraftstoff muss überdies noch zu extremen Kosten dorthin transportiert werden. Kanada ist und bleibt aber auch ein „Rohstoffland“ mit zahlreichen abgelegenen Förderstätten, für die eine Alternative gefunden werden muss. Eine Analyse ergab folgendes:
- Ölsände: In 96 Anlagen wurde ein Bedarf an Heizdampf und elektrischer Energie für „Steam-Assisted Gravity Drainage“ festgestellt. Im Durchschnitt mit einer Leistung von 210 MWel pro Anlage plus Dampf.
- Dampf für die Schwerindustrie: 85 Standorte der Chemieindustrie und Raffinerien mit einer Leistung von 25 bis 50 MWel plus Dampf.
- Abgelegene Gemeinden und Bergwerke: 79 Standorte mit einem Leistungsbedarf von über 1 MWel plus erheblichem Wärmebedarf für die Nahwärmenetze. 24 Bergwerke ohne Netzanschluss.
- Alte Kohlekraftwerke: 29 Blöcke an 17 Standorten mit einer durchschnittlichen Leistung von 343 MWel. Hier könnten (nur die) Kesselanlagen durch kleine Reaktoren ersetzt werden, wenn die sonstigen Anlagen noch in einem brauchbaren Zustand sind. Dies ergibt besonders kostengünstige Lösungen.
Private Investoren wissen, wovon sie reden
Es verwundert deshalb nicht, dass gegenwärtig 10 verschiedene Kleinreaktoren mit Leistungen zwischen 3 und 200 elektrische MegaWatt zur Genehmigung bei den kanadischen Behörden eingereicht wurden. Es wird von der kanadischen Regierung angestrebt, etwa vier verschiedene Konzepte als Prototypen im nächsten Jahrzehnt zu errichten. Alle Reaktoren stammen aus privaten Unternehmen und sind überwiegend durch Risikokapital finanziert. Dies zeigt deutlich, welche Veränderungen die kerntechnische Industrie momentan durchläuft. Private Investoren wollen ihr Geld zurück und möglichst einen Gewinn oben drauf. Man kann also von der nötigen Ernsthaftigkeit und einem beschleunigten Arbeiten ausgehen – Zeit ist immer auch Geld. Es geht zur Zeit zu wie in der Software-Branche. Allerdings darf man nicht aus den Augen verlieren, dass hier immer der Staat in Form der Genehmigungsbehörden ein ausschlaggebendes Wort mitzureden hat!
Bei dem Reaktor des kanadischen Unternehmens Terrestrial Energy handelt es sich um einen SMR (Small Modular Reactor) von der Bauart „Integral Molten Salt Reactor“ mit einer Wärmeleistung von 400 MWth (etwa 190 elektrische MegaWatt).
Der gesamte Reaktor befindet sich in einem etwa 7 Meter hohen Stahlbehälter mit einem Durchmesser von etwa 3,5 Metern und einem Transportgewicht von 170 Tonnen. Das sind – verglichen mit den heutigen Komponenten von Druckwasserreaktoren – einfach zu transportierende und handhabbare Abmessungen. Solch ein Reaktor kann deshalb komplett in einer Fabrik (in Serie) angefertigt werden und erst anschließend zur Baustelle transportiert werden. Dort sind nur wenige Wochen bis Monate nötig, um die erforderlichen Anschlussarbeiten und die Inbetriebsetzung durchzuführen. Ein Vorteil gegenüber konventionellen Kernkraftwerken, der gar nicht zu überschätzen ist. Das wirtschaftliche Risiko (Baukosten, Finanzierungskosten und das Risiko eines Fremdstrombezuges) bewegt sich plötzlich in einer üblichen und allgemein akzeptierten Größenordnung.
Vielen mag die angestrebte Inbetriebnahme des ersten Kraftwerks in der ersten Hälfte der 2020er Jahren sehr unwahrscheinlich erscheinen. Es handelt sich hierbei aber keinesfalls um einen „Erfinder-Reaktor“, sondern eher um eine konsequente Weiterentwicklung. Man kann auf ein umfangreiches Forschungs- und Entwicklungsprogramm zu Salzschmelze-Reaktoren in den Jahrzehnten 1950 bis 1970 am Oak Ridge National Laboratory (ORNL) in den USA zurückgreifen. Es gipfelte im erfolgreichen Bau und Betrieb des Molten Salt Reactor Experiment (MSRE) und der Konstruktion des Small modular Advanced High Temperature Reactor (SmAHTR), der zur Produktion von Wasserstoff gedacht war. Allerdings sollte man auch nicht die notwendigen Arbeiten unterschätzen, die für die von der Genehmigungsbehörde geforderten Nachweise erforderlich sind. Weltweit sind diese Arbeiten bereits im Gange: Von Bestrahlungsexperimenten in den Niederlanden bis – man lese und staune – zur Forschung an Salzen in Karlsruhe (European Commission’s Joint Research Center).
Störfälle durch Kühlmittel-Verluste ausgeschlossen
Salzbadreaktoren unterscheiden sich grundsätzlich von anderen Reaktortypen: Bei ihnen ist der Brennstoff auch gleichzeitig das Kühlmittel. Störfälle durch den Verlust des Kühlmittels – Fukushima und Harrisburg – sind ausgeschlossen. Es gibt auch keine Begrenzung durch den Wärmetransport innerhalb der Brennstäbe und durch die Brennstabhülle an das Kühlmittel. Der Brennstoff ist bereits während des Betriebs geschmolzen und im „Kühlmittel“ gelöst.
Man verwendet hier die chemische Verbindung Uranfluorid. Dieses Salz wird in geringer Menge anderen Salzen, wie Natriumflourid, Berylliumfluorid beziehungsweise Lithiumfluorid zugesetzt. Die genaue Zusammensetzung ist bisher nicht veröffentlicht. Sie richtet sich wesentlich nach der angestrebten Betriebstemperatur von 625 bis 700°C. Die Salzmischung soll bei möglichst geringer Temperatur bereits schmelzen, aber andererseits muss sie auch langfristig im Betrieb möglichst chemisch stabil sein und bleiben. Das Salz ist bei diesem Reaktor sicherheitstechnisch das wesentliche (zum Beispiel Korrosion) und kritische Bauteil.
Da das Salz im Laufe der Zeit durch die Spaltprodukte hoch radioaktiv wird, ist ein sekundärer Kreislauf mit dem gleichen Salz ohne Brennstoff vorgesehen. Die Wärmeübertragung findet durch Wärmetauscher innerhalb des eigentlichen Reaktorbehälters statt (Integrierte Bauweise). Die Druckverluste (etwa 5 bar) im Moderator und den Wärmeübertragern wird durch Pumpen innerhalb des Gefäßes überwunden. Die Wärmeübertrager sind redundant vorhanden, sodass bei etwaigen Leckagen einzelne Übertrager einfach stillgelegt werden können.
Man beschränkt sich bewusst auf die Verwendung von sehr gering angereichertem Uran für die Erstbeladung und auf Uran mit einer Anreicherung von etwa 4,75 Prozent U235 als Ergänzung während des Betriebs. Damit verwendet man (erst einmal) handelsübliches Material. Prinzipiell ist auch Thorium und Plutonium einsetzbar. Bei solch geringer Anreicherung benötigt man zwingend einen Moderator. Es wird ein Block aus Reaktorgraphit im unteren Teil des Reaktorgefäßes verwendet, durch dessen Kanäle das Salz von unten nach oben strömt. Nur in diesen Kanälen findet die Kernspaltung statt.
Den Reaktor verlässt ein „garantiert nicht strahlendes“ Salz
Die ganze Einheit bleibt nur etwa sieben Jahre in Betrieb. Dann vollzieht sich ein „Brennstoffwechsel“ durch die Inbetriebnahme einer neuen Einheit in einem zweiten Silo. Die alte Anlage verbleibt in ihrem Silo, bis der wesentliche Teil ihrer Strahlung abgeklungen ist. Dieser Vorgang entspricht der Lagerung der Brennelemente im Lagerbecken eines Leichtwasserreaktors. Nach angemessener Zeit wird das Salz in spezielle Lagerbehälter umgepumpt und die restliche Einheit aus dem Silo herausgehoben und ebenfalls in das Zwischenlager auf dem Kraftwerksgelände gebracht:
- Ziel ist ein Betrieb des Kraftwerks (theoretisch) ohne Unterbrechung.
- Möglichst geringer Personalaufwand vor Ort, da (fast) keine Wartung und Inspektion nötig wird. Die Anlage wird zwar auf eine Lebensdauer von 60 Jahren ausgelegt, aber der „Reaktor“ nur sieben Jahre betrieben. Alle Arbeiten können wieder in einer Fabrik durchgeführt werden. Dort kann entschieden werden, was Schrott ist (Vorbereitung zur Endlagerung) oder wieder verwendet werden kann. Das Vorgehen erinnert an den guten, alten „Austauschmotor“ bei Kraftfahrzeugen.
- Die alten Salze können in einer Wiederaufbereitungsanlage behandelt werden und die Spaltprodukte zur Endlagerung verarbeitet werden.
Salzschmelzen haben eine recht geringe Viskosität und lassen sich somit auch über längere Strecken gut pumpen. Wichtig ist hierbei, dass bereits den Reaktor ein „garantiert nicht strahlendes“ Salz verlässt (innen liegende Wärmeübertrager). Die Grenze des nuklearen Teils liegt somit am Rand des Silos. Der Charme eines solchen Reaktors liegt in seiner hohen Betriebstemperatur und seinem sehr geringen Betriebsdruck. Man kann mit relativ kleinem Aufwand noch einen dritten Kreislauf aus sogenanntem „Solarsalz“ anschließen. Damit gelangt man zu zwei völlig neuen Möglichkeiten:
Erstens: Man kann die Hochtemperaturwärme relativ einfach und kostengünstig über eine längere Leitung transportieren. Eine industrielle Nutzung wird damit möglich. Wohl kaum eine Industrie- oder Chemieanlage wird sich nach einem „Atomkraftwerk“ auf ihrem Gelände sehnen. Völlig anders dürfte sich die Situation darstellen, wenn die kerntechnische Anlage „deutlich“ neben dem eigenen Gelände steht und man nur Nutzwärme kauft.
Zweitens: Durch die Verwendung von „Solarsalz“ wie es heute beispielsweise bei Solarturmkraftwerken (manchen auch als „Grill für Vögel“ bekannt) zur Stromproduktion in der Nacht eingesetzt wird. Eine vollständige zeitliche Entkopplung von Strom- und Wärmeproduktion wäre damit möglich. Der Reaktor könnte ständig mit voller Leistung gefahren werden und beim Einsatz einer Turbine mit „Übergröße“ hätte man ein perfektes Spitzenkraftwerk für die Regelung von „Flatterstrom“. Speicher mit geschmolzenem Salz haben nicht nur eine große Speicherkapazität (Phasenumwandlung), sondern weisen auch durch ihre Selbst-Isolierung (zuerst erstarrt eine Schicht an der Oberfläche) geringe Wärmeverluste über längere Zeiträume auf.
Wenn tatsächlich eine Überhitzung eintritt, wirkt das passive Kühlungssystem. Der Reaktorbehälter steckt in einem weiteren Schutzbehälter. Dieser Schutzmantel entspricht dem Containment eines konventionellen Reaktors. Beide Behälter sind nicht isoliert. Steigt die Temperatur im inneren Behälter an, nimmt die Abstrahlung an den Schutzbehälter zu. Die Wärme wird durch Naturkonvektion über den Luftspalt zwischen Schutzbehälter und Silo abgeführt.
Kanadier probieren einfach mal aus
Der Reaktor hat einen so starken negativen Temperaturkoeffizienten, dass er ohne Regelstäbe auskommt. Je höher die Temperatur der Salzschmelze wird – aus welchem Grund auch immer – umso weniger Kerne werden gespalten. Umgekehrt nimmt die Kernspaltung wieder automatisch zu, wenn mehr Wärme abgenommen wird. Es sind lediglich Abschaltstäbe für eine dauerhafte Abschaltung vorgesehen. Als weiteres passives Sicherheitssystem gibt es noch Kapseln, die schmelzen und starke Neutronenabsorber freisetzen.
Konstruktionsvorgabe ist, ein inhärent sicheres, walk-away sicheres Kernkraftwerk zu bauen. Alle treibenden Kräfte, die in einem Störfall radioaktive Materialien freisetzen können (Tschernobyl), werden vermieden. Deshalb werden alle unter hohem Druck stehende Komponenten (Wasser-Dampf-Kreislauf) vom Reaktor ferngehalten. Es muss für keine Druckentlastung gesorgt werden und kein Kühlwasser zum Reaktor gebracht werden. Der Reaktor braucht überhaupt kein Notabschalt- oder Notstromsystem. Somit vereinfacht sich das Genehmigungsverfahren und die wiederkehrenden Sicherheitsprüfungen enorm. Alle Instrumentierungen und Steuerungselemente können konventionelle Produkte (Kostenreduktion) sein.
Das kanadische Genehmigungsverfahren ist vierstufig. Stufe 1 wurde bereits erfolgreich abgeschlossen. Man befindet sich nun in der zweiten Stufe. Der Zeitrahmen von etwa fünf Jahren bis zur Inbetriebnahme einer ersten Demonstrationsanlage scheint sehr ehrgeizig, wenn auch nicht unmöglich. Inzwischen sind alle namhaften kanadischen Ingenieurgesellschaften und die kerntechnische Industrie in das Projekt eingestiegen. Aus dem innovativen Startup mit rund 50 Beschäftigten ist eine schlagkräftige Armee mit zehntausenden Ingenieuren geworden. Es gibt praktisch kein Problem, für das keine erfahrenen Mitarbeiter zur Verfügung stehen. Wer schon mal mit kanadischen Unternehmen gearbeitet hat, kennt deren grundsätzlich optimistische und entschlossene Herangehensweise. Wo deutsche Ingenieurzirkel in endlosen Sitzungen immer wieder neue Probleme erschaffen, probieren Kanadier einfach mal aus.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Klaus-Dieter Humpichs Blog „NukeKlaus".