Es muss in der sechsten Klasse gewesen sein. Im Religionsunterricht, in dem man zwar wenig über Religion, aber stets viel über den Lehrer lernen konnte. Selbiger fragte in die Klasse, wer denn nun von uns bald zur Konfirmandenstunde ginge. Achtundzwanzig Finger schnellten hoch, nur der meine blieb unten. Der Lehrer verbarg seinen Unwillen, so gut es ging und erfuhr, dass ich nicht getauft sei und mitnichten konfirmiert werden würde. Mein Vater war nämlich Atheist. Und darüber hinaus Kommunist. Rrrums, das hat vielleicht gesessen!
Da der Deutsche nichts mehr liebt als sein Kollektiv und infolgedessen nichts mehr hasst als Individuen, die sich demselben bewusst entziehen, wurde ich in der großen Pause von den starken Händen meiner Klassenkameraden auf die Mädchentoilette gezerrt und zügig einer Zwangstaufe unterzogen.
In der dritten Stunde verlangte die Klassenlehrerin zu wissen, warum ich klatschnasse Haare hätte. Schnell war der Sachverhalt ermittelt. Da es damals noch den einen oder anderen fähigen Pädagogen gab, setzte sie der Klasse gründlich den Kopf zurecht: Es sei in der Verfassung unseres Landes garantiert, dass jeder Bürger nicht aufgrund seines Glaubens, seines Geschlechts, seiner Herkunft usw. diskriminiert werden dürfe. Und dazu zähle auch, so wie in meinem Fall, der Atheismus. Passenderweise hagelte es Strafarbeiten zum Thema Menschenrechte, außer für mich, die ich einsam und nass, aber ungebeugt hinter meinem Tisch klemmte und plötzlich zur Heldin des Tages avanciert war.
„Traumatisiert“ war ich durch dieses Erlebnis mitnichten, obgleich es in meiner Schulzeit nicht an traumatischen Erfahrungen mangelte. Schließlich konnte ich nicht nur einstecken, sondern auch austeilen. Der Mob hatte reichlich Ohrfeigen, Fußtritte und nasse Klamotten kassiert. Ich hatte den ganzen Vorfall inzwischen völlig vergessen, so unwichtig war er. Vermutlich ist er nur wieder aus der Versenkung meines Unbewussten aufgetaucht, weil ich allmählich in einem Alter bin, wo man mehrmals am Tag kopfschüttelnd räsoniert: Das war früher bei uns alles ganz anders.
„Piep-piep-piep, wir ham uns alle lieb“
Man gaukelte der Jugend mitnichten vor, die Menschheit sei eine harmonische Stuhlkreisrunde, in der sich die Menschen pausenlos an den Händen halten, sich bekifften Blicks in die Augen schauen und das Mantra „Piep-piep-piep, wir ham uns alle lieb“ herunterbeten. Im Gegenteil – dass das Leben kein Ponyhof war, konnten die Blagen gar nicht früh genug lernen. Hochneurotische Helikoptereltern gab es praktisch noch nicht. Kam man mit aufgeplatzter Lippe oder zerrissener Hose nach Hause und jammerte: „Das war der Sowieso, immer muss der sich kloppen, ewig macht er Streit!“ dann lautete die Antwort: “Ja und? Selbst schuld, wenn du dich nicht wehrst! Lass dir doch bloß nicht immer alles gefallen!“
Spätestens mit der Einschulung lernten wir, dass die Welt voll asozialer Arschlöcher war und man unweigerlich verloren hatte, lernte man nicht, ihnen etwas entgegenzusetzen.
Die berühmte Geschichte, wie man eines Tages seinen Dauerantagonisten endlich die Abreibung seines Lebens verpasste, sich so den nötigen Respekt verschaffte und der beste Feind einen nach Monaten und Jahren endlich in Ruhe ließ, weiß fast jeder aus meiner Generation zu erzählen. Nicht nur deswegen misstrauen wir auch der wohlfeilen pädagogischen Weisheit, dass Gewalt nie eine Lösung ist. Wir erlebten es täglich anders und uns war völlig klar, dass Opa immer noch in seiner SA-Uniform durch die Straßen marschieren und „Juda verrecke!“ schreien würde, hätte man ihm nicht gewaltsam Einhalt geboten.
Vier bis sechs Wochen unterrichtsfreie Zeit
Man stelle sich meine kleine Schulgeschichte nur mal heute vor: Das Mobbing-Opfer würde sofort von dem Schulsozialarbeiter, dem Schularzt, dem Schulzahnarzt und dem Schulpsychologen fachkundig in Obhut genommen. Die Mutter (der Vater natürlich nicht, der hat damit nichts zu tun) würde umgehend per Smartphone aus der der Konferenzschaltung nach Hongkong gerissen werden, um augenblicklich ihrem Kind zur Seite zu eilen. Schließlich sei es ein akuter Notfall und wegen der außergewöhnlichen Schwere der Tat und der drohenden nachhaltigen Traumatisierung wäre es unbedingt erforderlich, das Kind mit Blaulicht in die Notaufnahme zu bringen, und danach zur nächsten stationären Einrichtung für Traumatherapie bei Jugendlichen. Vier bis sechs Wochen unterrichtsfreie Zeit natürlich sowieso.
Die Mutter, totenbleich und mit verheulten Augen, haut die Geschichte noch in der Notaufnahme für facebook, Instagram und Twitter raus. Ein Journalist, wahrscheinlich aber hunderte, wittern den großen Durchbruch!
„Die Zwangstaufe von Barmbek!“ In der Tagesschau sieht der Schuldirektor sich gezwungen, Rechtfertigungen für seine schweren pädagogischen Versäumnisse der letzten zehn Jahre ins Mikrofon zu stottern. Auf dem Schulhof interviewte Schüler geben kompetente Statements ab wie „War voll krass, Digga!“
Die Hamburger Morgenpost titelt: „Zwangstaufe an Hamburger Gymnasium – doch kein Einzelfall?“ Meine über alles geliebten legasthenischen Focus-Onlineredakteure (Neulich erst wieder: „Viertes Horrorfund in Hamburg“) übertreffen sich selbst: „Zwanksgetaufte Schülerin in Bambeck – jetzt redet die Mutter.“
Das Hamburger Abendblatt zeigt einen Monat später mein zaghaft lächelndes Konterfei mitsamt Zöpfen und Haarspange: „Zwangsgetaufte Antje – endlich kann sie wieder lachen“. Und alles wird wieder gut. Nur die Bildungsministerin, die muss natürlich zurücktreten.
Von Antje Sievers erscheint in der Achgut Edition das Buch Tanz im Orient-Express – Eine feministische Islamkritik