Vera Lengsfeld / 20.07.2012 / 18:43 / 0 / Seite ausdrucken

Die Zeitschneise nach Buchenwald

Eher zufällig, wegen eines Interviews, landete ich gestern in Buchenwald. Das Interview war kurz, ich hatte Zeit, also beschloss ich, mir die neu gestaltete Gedenkstätte anzuschauen.
Zu DDR-Zeiten hatte ich sie mehrmals besucht, mit meinen Eltern und mit meiner Schule. Nach dem Mauerfall war ich mal mit Jorge Semprun hier, als er Ehrenbürger von Weimar wurde und ich als Bundestagsabgeordnete des Wahlkreises ihn beim Besuch des Ortes seiner frühen Leiden begleiten durfte.
Ich war gespannt, was sich verändert hatte und wie über die Zeit, da das KZ zum sowjetischen Speziallager umgewandelt war, berichtet wird.
Im Bunker neben dem Lagertor wirkte nüchterner, als in meiner Erinnerung. Es fehlte die bildliche Darstellung einer Stehzelle, die mir, neben den Schrumpfköpfen im Museum, die später als Geschichtsfälschung entlarvt wurden, als Kind schlaflose Nächte bereitet hatte. Das tut dem Grauen, das man beim Anblick der Zellen spürt,die oftmals die letzte Station für die Inhaftierten waren,  keinen Abbruch.
Gleich hinter dem Tor mit der berüchtigten Aufschrift „Jedem das Seine“ überfiel mich beim Anblick des riesigen, leeren, abschüssigen Platzes, mit dem Panorama des Weimarer Landes im Hintergrund wieder das Gefühl der Vergeblichkeit: diese Leere ist das Gegenteil dessen, was Lageralltag war: drangvolle Enge. Selbst Jorge Semprun hatte Schwierigkeiten, diesen Anblick mit seinen Erinnerungen in Übereinstimmung zu bringen. Etwa 20 000 Menschen waren hier zusammengefercht. Die Blocks haben die Landschaft verdeckt..
Ein paar Wachtürme sind erhalten, der Stacheldraht ist neu. Im Krematorium stehen die Öfen der Erfurter Firma Topf und Söhne, deren Enkel in den sechziger Jahren in Erfurt zur Schule gingen. Im Leichenkeller des Krematoriums drängeln sich zwei Schulklassen aneinander vorbei. Den Jugendlichen wird erklärt, dass an den Haken, die unter der Decke an den Wänden befestigt waren, Häftlinge aufgehängt wurden. Am Eingang waren sie an einer DDR-Gedenktafel für den KPD-Chef Thälmann vorbei gekommen, die den Ruhm des Arbeiterführers wie zu DDR-Zeiten verkündet, ohne dass es einen Hinweis gäbe, dass die Rolle Thälmanns als Einpeitscher des Stalinismus und Kämpfer gegen den „Sozialfaschismus“, womit er die Sozialdemokraten in der Weimarer Republik meinte, die er auch nach der Machtergreifung von Hitler noch als die Hauptfeinde ansah, heute kritisch zu bewerten ist.
Im „Pferdestall“ steht der Nachbau der Erschießungsanlage für sowjetische Kriegsgefangene noch so, wie ich sie aus DDR-Zeiten in Erinnerung habe.
Spätestens hier frage ich mich, wie es bei der Neugestaltung der Gedenkstätte mit dem „Überwältigungsverbot“ gehalten wurde, das vehement für jeden Erinnerungsort der zweiten deutschen Diktatur gefordert wird.
Ich gehe weiter in Richtung Außenlager und lande unverhofft an der 1999 wieder hergestellten „Zeitschneise“, ehemals Teil einer barocken zehnstrahligen Jagdschneise, die ihren Mittelpunkt auf dem Ettersberg hatte. Dieser Weg verbindet das ehemalige Konzentrationslager mit dem Schloß Ettersburg, in dem Herzogin Anna Amalia viele Sommermonate verlebte und in dem Goethe seine schauspielerischen Talente, etwa bei einer Aufführung seiner „Iphigenie“, zur Geltung brachte. Heute ist es unter dem neuen Schlossherren Peter Krause wieder ein Ort der Hochkultur. Ein Geheimtipp für Liebhaber literarischer und philosophischer Kostbarkeiten.
Es zieht mich in den Weg hinein. Sobald die eiserne Treppe, die den Abhang hinter dem Lagergelände überwinden hilft, passiert ist, wird es wildromantisch. Mischwald, ein Bergbach, Kalksteinhänge. Einsame Idylle, die von keinem Postenhundegebell mehr gestört wird. Der Weg wird selten begangen. Immer wieder bleibe ich an Himbeergestrüpp hängen. Die Himbeeren sind in diesem nassen, kühlen Sommer rot, aber kaum süß. Der Lehmboden ist glitschig. Als ich endlich in Sichtweite des Schlosses bin, sind meine Schuhe so schlammig, dass ich nicht wage, einzukehren.
Also wieder zurück. Ich setze meinen Rundgang mit der Suche nach dem Speziallager fort. Auf dem Gelände selbst ist von der Nutzung durch die Sowjets nichts zu sehen. Abseits gibt es ein neu errichtetes Gebäude, das eine Ausstellung zum Speziallager beherbergt. Als ich ankomme, scheint niemand da zu sein. Dann erscheint eine Angestellte von irgendwo her und stellt für mich die Anlage an, die Filmausschnitte mit Berichten von Zeitzeugen und andere Erläuterungen zeigt. Es ist inzwischen etwa 13 Uhr. Ich scheine die erste Besucherin des Tages zu sein.
Auf den Tafeln überwiegt die Verharmlosung der sowjetischen Lager. Es wird in aller Ausführlichkeit auf den Vernichtungskrieg verwiesen, den die Nazis gegen die Sowjetunion geführt haben, ohne dass ich eine Erwähnung des Hitler-Stalin-Paktes gefunden hätte. Dann wird ausführlich thematisiert, dass alle Alliierten Lager zur Entnazifizierung eingerichtet hatten, es wird auch auf die Unterschiede eingegangen, aber insgesamt der Eindruck erzeugt, die Sowjets hätten nicht viel anders getan, als die Amerikaner oder die Briten. Am Rande erfährt man, dass sich keine SS-Angehörige unter den Insassen des Speziallagers befunden hätten, die wären als Kriegsgefangene angesehen worden. Neben NSDAP- Funktionären waren viele Unschuldige, Opfer von Denunziationen, im Lager. Das wird erwähnt, aber nicht weiter ausgeführt.
Das diese Lager nicht nur der Entnazifizierung, sondern der Errichtung der zweiten deutschen Diktatur dienten, ist auch kein Thema. Stattdessen wird behauptet, die Zwecke, denen die Speziallager gedient hätten, wären den Sowjets selbst nicht ganz klar gewesen. Harmloser kann man ein Terrorinstrument nicht darstellen.
Der Waldfriedhof, der angelegt wurde, wo man die Massengräber der Toten des Speziallagers gefunden hat, wirkt verlassen. Keine Blume, nicht an den Stelen für die Unbekannten, noch an den wenigen Grabsteinen, die von Angehörigen aufgestellt wurden.
Den Schulklassen wird das Speziallager nicht gezeigt. Der Audioguide, der für Einzelbesucher erhältlich ist, lässt es bis auf eine kurze Erwähnung ebenfalls aus.
In der Buchhandlung gibt es zwar eine kleine Ecke mit Literatur über das Speziallager, die ist aber unscheinbar. Hast Du ein Speziallager gesehen? , fragt ein Mädchen ihre Freundin.
Im Regal für Unterrichtsmaterialien liegt eine einzige Mappe über die Nutzung von Buchenwald durch die Sowjets, neben gefühlten hundert Titeln über die verschiedensten Aspekte der Nazizeit.
Auf meine Frage, warum die Führungen und der Audioguide das Speziallager links liegen lassen, bekomme ich die verlegene Antwort, das müsste und würde noch geändert werden.
Man kann nur hoffen, dass sich die Gedenkstättenleitung damit nicht allzu lange Zeit lässt.

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