Thilo Spahl, Gastautor / 22.10.2022 / 06:15 / Foto: Øyvind Holmstad / 78 / Seite ausdrucken

Die Würde des Huhns ist unantastbar

Deutschland hat sich fast unbemerkt an die Spitze der Bewegung zum Schutz des ungelegten Eies gesetzt.

Falls Sie gelegentlich lesen, was so alles auf Essensverpackungen steht, um uns zu verdeutlichen, wie moralisch hochwertig unser Konsum ist, ist Ihnen sicher schon aufgefallen, dass die Eier in Deutschland inzwischen „ohne Kükentöten“ erzeugt werden.

Noch vor Kurzem sah das ganz anders aus. Am 14. Dezember 2021 teilte die Bundesregierung mit: „Jährlich werden in Deutschland etwa 45 Millionen Hühnerküken getötet. Dem setzt die Bundesregierung ein Ende. Ein entsprechendes Gesetz tritt 2022 in Kraft. Damit ist Deutschland das weltweit erste Land, das diese Praxis verbietet.“

Und so sieht das Verbot aus: Seit dem 1. Januar 2022 ist es laut §4c des Tierschutzgesetzes verboten, Küken von Haushühnern der Art Gallus gallus zu töten. Die Gesetzgebung wurde notwendig, nachdem das Bundesverwaltungsgericht im Juni 2019 die Praxis nur für eine Übergangsperiode für zulässig erklärt hatte. Doch damit nicht genug. Ab dem 1. Januar 2024 wird zudem das Töten von Hühnerembryonen im Ei nach dem 6. Bebrütungstag untersagt. Denn ab diesem Zeitpunkt sei „die beginnende Entwicklung des Schmerzempfindens nicht auszuschließen.“

Deutschland hat sich also an die Spitze der Bewegung zum Schutz des ungelegten Eies, äh, des ungeschlüpften Kükens gesetzt. Um das zu erreichen, haben wir tief in die Tasche gegriffen. Mit vielen Millionen Euro förderten Bundesregierung und EU die Entwicklung von Verfahren, um das Geschlecht der Hühner bereits im Ei bestimmen zu können. Zwei davon sind mittlerweile in den Brütereien des Landes im Einsatz. Entweder schaut man auf die Hormone (REWE) oder auf die Gene (Aldi). Dafür muss jedem Ei nach einigen Tagen des Anbrütens eine kleine Probe entnommen werden, die dann biochemisch analysiert wird. Damit der Käufer weiß, dass er Gutes tut, sind die Eierkartons mit den Schlagworten „respeggt“ oder „ohne Kükentöten“ gekennzeichnet.

Jedes einzelne Ei invasiv untersucht

Noch nicht praxistauglich ist die spektroskopische Bestimmung, die schon, wie ab 2024 verlangt, vor dem 6. Bebrütungstag Resultate liefern kann. Hierfür wird in jedes Ei ein kleines Loch gebohrt und durch dieses ein Lichtstrahl auf eine Blutader am Dotter gerichtet. Anhand der Streuung des Lichts lässt sich das Geschlecht des Embryos spektroskopisch bestimmen. Eine weitere Alternative wäre das Durchleuchten in Kernspintomographen. Zeigt sich beim Blick ins Ei, dass der Embryo weiblich ist, wird das Ei weiter ausgebrütet. Heraus schlüpft eine zukünftige Legehenne. Ist der Embryo indes männlich, wird er vor dem Tod nach dem Schlüpfen gerettet, indem das Ei vorher „industriell verwertet“ wird.

In unseren Brütereien wird also jedes einzelne Ei invasiv untersucht. Und ich muss sagen: Es ist eine gute Sache. Nicht, weil damit irgendwelchen Küken geholfen würde. Denen ist es piepegal, ob sie vor oder nach dem Schlüpfen abgemurkst werden. Sondern weil hier Arbeitsplätze wegrationalisiert wurden, auf die man gerne verzichtet. Die Geschlechtsbestimmung bei Küken in Handarbeit ist ein monotoner, harter, unangenehmer Job, der nur wenigen Menschen Freude bereiten dürfte.

Warum ein solcher Fortschritt von unserem obersten Gericht im Namen des Tierschutzes angeordnet wurde und wir Käufer uns nun gut fühlen sollen, weil uns suggeriert wird, wir ersparten kleinen Tieren großes Leid, ist allerdings rätselhaft. Nein, nicht rätselhaft, es ist bezeichnend.

Huhn ist nicht gleich Huhn

Wer bis hier nur Bahnhof verstanden hat, dem sei kurz erläutert, was es mit dem vorgeburtlichen Kükenschutz überhaupt auf sich hat: Bei der Aufzucht von Legehennen nutzen wir Hühnerrassen, die besonders gut im Eierlegen sind, die also viele und große Eier legen. Das Problem ist: Legehennen müssen immer weiblich sein. Legehennen legen aber genauso viele männliche wie weibliche Eier. Die Hälfte des Nachwuchses, der in den Brütereien aus dem Ei schlüpft, besteht somit aus Hähnen. Die sind als Legehennen nicht zu gebrauchen, taugen aber auch als Broiler wenig, da dafür andere Rassen genutzt werden, nämlich natürlich solche, die schnell wachsen und Fleisch ansetzen. Deshalb wurden diese männlichen Küken in der Legehennenproduktion gleich nach dem Schlüpfen wieder getötet und in der Regel als Tierfutter genutzt. Katzen und Fischotter freuen sich über diese leckeren Snacks.

So war das bisher. Aber dann hat sich unsere Regierung gesagt: Küken sind doch total süß, und deshalb ist Kükentöten irgendwie total doof. Also müssen wir dringend etwas unternehmen, um unsere globale moralische Führerschaft unter Beweis zu stellen. Wir machen Schluss mit dem Kükentöten!

Der Kükenmord erfolgt folgendermaßen: Die Küken schlüpfen (in Massen) aus ihren Eiern, sie landen auf Fließbändern und werden nach Geschlecht (bei Hühnern gibt es nur zwei) getrennt. Die Mädchen dürfen ihre Karriere als Legehennen antreten, den Jungs bleibt indes die Karriere als Broiler verwehrt; sie werden, kaum haben sie das Licht der Welt erblickt, in Kohlendioxid getaucht. Bei realistischer Einschätzung der kognitiven Fähigkeiten (einschließlich ihrer emotionalen Intelligenz) frisch geschlüpfter Hähnchen könnte man sagen: Ihr Licht wird ausgeknipst, bevor sie überhaupt mitgekriegt haben, dass es angeknipst wurde.

Vor der gesetzlich verordneten Technikoffensive konnte die Würde dieser Hühner nur dadurch gerettet werden, dass man sie als sogenannte „Bruderhähne“ ein paar Monate mästete, bevor sie getötet wurden, um bei zahlungsbereiten, moralisch ambitionierten Nochnichtvegetariern im Backofen zu landen, quersubventioniert durch Aufpreis auf die Eier ihrer „Schwestern“. Aber mangels Nachfrage war dieses superiore Schicksal nur einer kleinen Anzahl von Hähnchen vorbehalten.

Für die hat sich allerdings der Einzelhandel eine Menge netter Namen ausgedacht: Bruderhahn Initiative Deutschland (Demeter und Bioland), haehnlein (denn's Biomärkte, Alnatura, Real, Globus, Edeka, Citti), Bruderküken-Initiative (Alnatura), Initiative Bruder-Ei (SuperBioMärkte), Spitz & Bube (Rewe), Herzbube (Penny), Henne & Hahn! (Aldi Nord und Aldi Süd).

Nun denn. Mittlerweile hat der Gesetzgeber „Respeggt“ verordnet. Und vielleicht ist ja die maschinelle Geschlechtssortierung vor dem Schlüpfen am Ende sogar der Sortierung durch Menschenhand nach dem Schlüpfen ökonomisch überlegen. Und ja, man kann sich schönere Jobs vorstellen. Und außerdem muss man ja auch an die Werbefuzzis denken. Die brauchen auch immer mal was Neues, was sie auf die Lebensmittelpackungen drucken können.

Dieser Beitrag erschien zuerst bei Novo-Argumente.

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Leserpost

netiquette:

Erich Kriegler / 22.10.2022

Wer zwischen Mensch und Tier nicht mehr unterschieden kann, der ist moralisch verwahrlost. Wer Tiere vermenschlicht, ist emotional retardiert. Wer nicht einsieht, dass die Jagd und Zucht von Tieren und deren Verwertung Grundlage unserer Existenz ist, ist ein Realitätsverweigerer. Wer beim Thema Abtreibung einerseits den Embryo als rechtlosen Zellklumpen und andererseits die Abtreibung ohne zeitliche Einschränkung als Menschenrecht der Mutter wahrnimmt, sich aber um das Schmerzempfinden von ungeborenen Küken sorgt, ist hoffnungslos pervers.

Arne Ausländer / 22.10.2022

Im Streit zwischen dina weiß und Frau Schönfelder möchte ich darauf verweisen, daß - wenn es wirklich um Tierschutz ginge - es naheliegen würde, sinnvolle Verwendungen für die männlichen Küken zu suchen. Da gäbe es doch sicher Möglichkeiten. WENN man wollte. Aber m.E. ist die extreme Technisierung das, worum es den Akteuren geht. Alles andere, ob Tier oder Mensch, ist denen egal.

Gerd Kirschnick / 22.10.2022

Wie sieht es mit menschlichen Embryos aus? Die kann man töten! Bei uns steht der Tierschutz höher als der Menschenschutz!

Ludwig Luhmann / 22.10.2022

Beide bei Youtube: —- Debatte im Bundestag zum Beschluss der JUSOS: “Abtreibung bis zum 9. Monat—- 13.12.18 DER KLASSIKER! —- Abtreibung bis zum 9. Monat - Jusos drehen völlig ab—- (etwa 4 Minuten) Hier solllte man auch darauf achten, wer wieviel Applaus bekommt.

Walter Hofmann / 22.10.2022

Wir rühren in allerlei Genomen rum, zB bei Viren und Nutzpflanzen. Warum kam noch keiner auf die Idee, die Legehennen genetisch so zu „programmieren“, dass sie nur weibliche Eier legen. Zur Erhaltung der Art muß man wohl eine unbehandelte Linie zur Bereitstellung von Hähnen erhalen!

George van Diemen / 22.10.2022

Invasive Untersuchung—> stehende Ovationen und Tränen der Dankbarkeit in der Salmonellencommunity. Ich fordere doppelt geboosterte mRNA-Tofueier! Oder hat unser margarineschmieriger Oberlobbyist etwa dieses Geschäftsfeld noch nicht entdeckt?

Hans-Peter Dollhopf / 22.10.2022

  Komisches Gesetz, denn Gallus gallus ist die lateinische Bezeichnung des Bankivahuhns, der wildlebenden Stammform des Haushuhns, das laut Wikipedia aber in Süd- und Südostasien beheimatet ist: “Die Verbreitung reicht über große Teile Indiens nach Südchina und bis über den Malaiischen Archipel. In verschiedenen anderen Regionen der Welt wurde die Art eingeführt. So beispielsweise auf den Philippinen und vielen Pazifikinseln.” Soll das bedeuten, dass ein Gesetz aus dem Bundestag halb Asien den Umgang mit seinen Hühnern gleich mit vorschreibt, da der Gesetzgeber in Berlin sich erst gar nicht die Mühe machte, es explizit auf den Umgang mit dem lokalen Haushuhn, Gallus gallus domesticus, zu beschränken? Verstöße bei der Produktion der asiatischen Hühnersuppe also ein Fall für feministische Intervention durch das deutsche Außenhuhn?

H. Braun / 22.10.2022

@dina weis / 22.10.2022 Top!

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