Der Film „Taste the Waste“ des deutschen Regisseurs Valentin Thurn hat das massenhafte Wegwerfen und Vernichten von Lebensmitteln zum Thema: „Jeder zweiter Kopfsalat, jede zweite Kartoffel und jedes fünfte Brot landen im Müll - meist noch bevor sie überhaupt unsere Esstische erreichen“. Elf Millionen Tonnen Lebensmittel werden in Deutschland schätzungsweise weggeworfen, in der Schweiz sollen es 800.000 Tonnen sein. Für viele Menschen ist das nicht in Ordnung und das ist richtig so. Das gute alte Erziehungsprinzip, Essen nach Möglichkeit nicht wegzuwerfen, ist ja schon aus ganz sachlichen Gründen nicht das Schlechteste. Es werden schlichtweg wertvolle Ressourcen verschwendet. Insofern weisen Aktionen berechtigterweise auf eine Fehlentwicklung hin.
Von der Deutschen Agrarministerin Ilse Aigner bis zu Schweizer „Mülltauchern“ engagieren sich viele in dieser Sache. Nicht besonders zielführend ist das allerdings, wenn das Problem mit Hilfe von moralischer Schuldzuweisung und Ideologie gelöst werden soll. Und das ist häufig der Fall. „Man stelle sich 275 000 Lastwagen vor, voll beladen, Stoßstange an Stoßstange würden sie eine Länge von 4500 Kilometern erreichen, das ist fast so weit wie von Berlin nach Novosibirsk, besonders mit Blick auf die mehr als 900 Millionen Menschen, die weltweit hungern, ist das unverantwortlich,“ stellt die deutsche Ministerin Aigner einen Zusammenhang zwischen unserem Konsumverhalten und dem Hunger in Entwicklungsländern her. Der Berner „Mülltaucher“ Rolf, der sich laut Blick aus Abfallcontainern von Supermärkten ernährt, tut dies nach eigenem Bekunden ebenfalls aus Sorge um die Menschen in armen Ländern. „Unsere Kritik richtet sich gegen die Konsum- und Wegwerfgesellschaft“, sagt er laut „Blick“, währenddessen wächst die industrielle Produktion, die Bauern von multinationalen Konzernen abhängig macht, die Natur zerstören und Tiere zur Ware degradieren“. Womit die Aufzählung der üblichen Verdächtigen abgeschlossen ist. Auf welch dünnem Eis sich diese Anklagen bewegen, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf am übelsten von Hungersnöten heimgesuchte Länder. Beispielsweise Bürgerkriegsregionen wie Kongo oder Sudan, wo Bauern ihre Felder nicht mehr bestellen können oder vom Welthandel weit gehend abgeschotteten Despotien wie Nord-Korea oder Simbabwe.
Statt dort hinzuschauen bricht sich das übliche Öko-Gesäusel und Antikapitalismus-Gefasel Bahn, das mittlerweile im ethischen Diskurs zum Standard geworden ist. Ethik und Profit, das steht von vorne herein fest, sind Gegensätze, weshalb Wirtschaftsvertreter in entsprechenden Talkshows auch regelmäßig von mehreren Ethik-Professoren umstellt werden. Landwirtschafts-Fachleute oder Ökonomen würden in diesen Veranstaltungen nur stören. Sie könnten ja das fest gefügte Weltbild durcheinander bringen. Beispielsweise durch Argumente wie diese: Hunger, Mangelernährung und Not in armen Ländern wird in der Regel nicht durch die Anwesenheit von internationalen Investoren und den Zugangsmöglichkeiten zum Weltmarkt verursacht, sondern viel eher durch ihre Abwesenheit. Diktaturen und totalitären Systemen kommt die Forderung westlicher Kapitalismuskritiker nach einer „Suffizienz-Revolution“ hingegen durchaus entgegen. Gemeint ist der Verzicht auf Güter und Konsum. Die führen ins Paradies der Bedürfnis- und Besitzlosigkeit. Dort lebt der Mensch auf einem klimageschützten Planeten ohne Autos und Flugzeuge, PVC und Pharmazeutika, Ananas-Importe und argentinische Steaks - umweltverträglich, glücklich und kurz (siehe Nordkorea).
Der indische Ökonomie-Nobelpreisträger Amartya Sen hat sich ausführlich mit den Ursachen für Hunger und Hungersnöte beschäftigt und warnt vor einfachen Schlüssen: „Das Verständnis der Ursachen des Hungers setzt eine Analyse des gesamten ökonomischen Räderwerkes voraus, eine Aufstellung der produzierten Nahrungsmenge und der Versorgungslage reicht dafür nicht aus.“ Hunger hat nach Sens Einschätzung entscheidend mit den Funktionsweisen der politischen und sozialen Strukturen zu tun. Sie beeinflussen auf vielfältige Weise die Möglichkeiten der Menschen, sich Nahrung zu beschaffen und für ihre Gesundheit und ihre Ernährung zu sorgen. In einem Bericht der Weltbank wird diese Sichtweise geteilt: „Auch angesichts einer stetig wachsenden Weltbevölkerung wird der vorherrschenden Meinung unter Agrarökonomen zufolge das Welternährungsproblem durch die unzureichende Kaufkraft auf Seiten der Armen verursacht, und nicht durch Grenzen, an die die weltweite Nahrungsmittelproduktion insgesamt stößt.“ Menschen hungern nicht, weil es zu wenig Vorräte gäbe oder die Bewohner der Industrieländer etwas wegessen oder wegwerfen.
Martina Brockmeier von der deutschen Bundesforschungsanstalt für Landwirtschaft (FAL) sagt: „ Es fehlt an Zugang zu Land und Kapitalbesitz, Arbeitsplätzen, Ausbildung, Technologie, Infrastruktur und Märkten. Eine große Rolle spielen auch politische Instabilität sowie fehlende Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Gerechtigkeit in der Verteilung von Eigentum und Einkommen.“ Laut Amartya Sen können demokratische Institutionen für die Bewältigung des Hungerproblems überhaupt nicht hoch genug eingeschätzt werden: „Fest steht, dass es in einer funktionierenden Mehrparteiendemokratie noch nie eine Hungersnot gegeben hat.“ In der Praxis fällt dieses gesellschaftliche Anforderungs-Profil allerdings meist mit viel gescholtenen Industrie- und Konsumgesellschaften westlicher Prägung zusammen. Es ist also keine besonders gute Idee diese in die Tonne zu treten. Was nichts daran ändert, dass wir weniger Lebensmittel in den Müll werfen sollten.
Erschienen in der Basler Zeitung vom 1.6.2012