Möchte man das Geschehen der letzten Wochen rekapitulieren, scheint das wie ein billiges Drehbuch für eine absurde Dystopie ohne jeglichen Bezug zur Realität. Dennoch ist es passiert: In schneller Verabredung der Bundeskanzlerin mit den Landes-Ministerpräsidenten wurden uns unter Anwendung des Infektionsschutzgesetzes ein großer Teil der verfassungsmäßigen Rechte auf dem Verordnungswege umstandslos entzogen. Die Bürger konnten vielfach gar nicht fassen, wie rasch sie ihre Bürgerrechte verloren, wie einfach es ging, ihnen eine „Kontaktsperre“ zu verordnen. Die Obrigkeit bestimmt nun seit Wochen detailliert über den Freigang der Menschen und ihren Umgang mit anderen. Das proklamierte Konzept setzt auf Kappung möglichst aller direkten sozialen Kontakte, die nicht überlebensnotwendig sind.
Und so dürfen die Bürger ohne Bürgerrechte daheim mit Schrecken zuschauen, wie gerade eine einst starke Volkswirtschaft nach und nach abgewrackt wird. Protest dagegen ist kaum in adäquater Weise möglich, denn man darf sich nahezu nirgends überhaupt versammeln. Aber das ist an dieser Stelle ja alles schon oft beschrieben worden.
Kaum angemessen beschreiben lässt sich der hintergründige Schrecken darüber, mit welcher Leichtigkeit die für jede Demokratie essentiellen Grundrechte unbefristet bis auf Weiteres entsorgt werden konnten. Galt doch die freiheitlich-demokratische Ordnung den meisten Bundesbürgern trotz aller Mängel, Unvollkommenheiten und mancher Fehlentwicklung als relativ stabil. Geschlossene innerdeutsche Grenzen, die Ausweisung deutscher Bürger aus deutschen Orten, weil sie ihren Hauptwohnsitz im falschen Bundesland haben, Strafen für das Empfangen von Besuch in der eigenen Wohnung, die Aussetzung von Versammlungsfreiheit, Freizügigkeit, Religionsfreiheit und und und… – das konnte es doch nicht geben. Plötzlich starb die Freiheit nicht zentimeterweise, wie es in einem viel genutzten Zitat heißt, sondern in Riesenschritten auf dem Verordnungsweg. Nicht einmal eine ordentliche Ausrufung des Notstands oder überhaupt ein Bundestagsbeschluss waren dazu nötig.
Keine Frage nach den Nebenwirkungen?
Unter den Bürgern herrschte genug Angst. Weniger Angst vor einem Staat, der sich gerade das Instrumentarium zum autoritären Durchregieren zurecht legt, sondern vor Covid-19. Und das ist verständlich. Unschön daran zu erkranken und enden kann es tödlich. Jeder kann sich anstecken. Wenn eine solche Todesgefahr lange Zeit medial omnipräsent ist, dann verunsichert sie nahezu jeden – völlig unabhängig von der Krankheit. Und Angst fördert bekanntlich die Sehnsucht nach starken Beschützern. All das ist nicht neu. Genauso wenig, wie im Notfall auch in einer freiheitlichen Demokratie Zwangsmaßnahmen zuweilen nötig sind und durchgesetzt werden müssen. Von einem Regierungschef erwartet man in solchen Situationen angemessene Erklärungen. Für die Bundeskanzlerin war das in der vorigen Woche einigermaßen schnell abgetan.
„Diese Pandemie ist eine Zumutung für die Demokratie“, sagte sie dazu nur und: “Kaum eine Entscheidung ist mir in meiner Amtszeit als Bundeskanzlerin so schwer gefallen, wie die Einschränkung der Freiheit”. Aber nicht die Pandemie ist die Zumutung für die Demokratie. Die Zumutung sind die Maßnahmen, die mit ihrer Bekämpfung begründet werden. Dafür ist die Pandemie selbst nicht verantwortlich, sie ist nur Anlass und Begründung für Grundrechtsverlust und Kontaktsperren. Die Entscheidung dazu war nicht zwingend, nicht „alternativlos“, auch wenn sie anfangs noch zu verstehen war.
Natürlich gehört es zu den Aufgaben politischer Verantwortungsträger, sich um die bestmögliche Bekämpfung einer neuen Epidemie zu kümmern. Doch weder medizinisch noch gesellschaftlich ist eine Therapie verantwortbar, deren Nebenwirkungen schädlicher sind, als die Krankheit selbst. Sich dieser Frage nicht permanent zu stellen, sondern sie stattdessen weitgehend zu ignorieren, ist sträflich verantwortungslos.
Der ganze ruinöse Ausnahmezustand kann falsch oder richtig sein, auch verfassungswidrig oder einigermaßen rechtskonform – die Verantwortung müssen die politischen Entscheidungsträger übernehmen, die ihn beschlossen haben. Das war nicht das Virus, nicht die Pandemie – es sind die Regierungschefs und ihre Unterstützer, die verantwortlich für einen Ausnahmezustand sind, der nicht zwingend war und damit auch für die Bilanz, die am Ende zu ziehen ist. Die Pandemie ist unschuldig.
Die Reaktionen der Verantwortungsverschieber
Doch Verantwortung wird in Deutschland auch in der – nach Meinung der Kanzlerin – größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg gern verschoben. Wenn es schief geht, bekommt ein anderer die Prügel. In diese Kategorie fällt sicher die immer stärkere Betonung handelnder Politiker, dass man in erster Linie dem Rat von Wissenschaftlern folge.
Anders ist es, wenn die Kanzlerin, wie oben schon zitiert, sagt: “Kaum eine Entscheidung ist mir in meiner Amtszeit als Bundeskanzlerin so schwer gefallen, wie die Einschränkung der Freiheit”. Sie bekennt sich zu ihrer Entscheidung. Sie will damit niemandem sonst die Verantwortung aufbürden, verschleiert sie aber dennoch. Weil sie an dieser Stelle theoretisch ja gar nichts zu entscheiden hatte. Entschieden haben nur die Landesregierungen, denn die sind für Verordnungen nach Infektionsschutzgesetz zuständig. Dabei hätten sie zu keinem Zeitpunkt dem Wort der Bundeskanzlerin folgen müssen, auch jetzt nicht. Jedes Bundesland könnte den Lockdown sofort beenden. Zwar nur innerhalb der Landesgrenzen, aber einen Dominoeffekt gäbe es da wohl schnell.
Und ohne den konzertierten Notstand via Infektionsschutzverordnung hätte jeder Landes-Ministerpräsident die Bundesregierung auch zuvor dazu zwingen können, einen bundesweiten Ausnahmezustand selbst zu verhängen und sich mit den Plänen für grundrechtsrelevante Zwangsmaßnahmen dem Bundestag zu stellen. Die entsprechenden Mehrheiten wären sicher kein Problem gewesen, aber man wäre um eine öffentliche Debatte nicht herum gekommen. Die hätte zumindest gezeigt, dass keine Politik alternativlos ist.
Gut, der Kanzlerin ist samt Landesfürsten die Verhängung des Ausnahmezustands mittels Infektionsschutzgesetz nachhaltig gelungen. Das oben erwähnte billige Drehbuch ist zwar nie geschrieben worden, aber wir haben einen Teil bereits durchlebt. Warum also soll man sich an den beiden Kanzlerinnen-Sätzen noch abarbeiten? Ganz einfach: Sie sind eine gute Erinnerung für später. Wenn das alles mal vorbei sein wird, sind wir damit beschäftigt, die von den Zwangsmaßnahmen verursachte Krise zu überleben. Dann geht es aber auch darum, die Verantwortlichen für all die Verheerungen zu benennen. Sobald Angela Merkel irgendwann einmal abgetreten sein wird, werden alle anderen heutigen Verantwortungsträger umstandslos bekennen, dass es allein die Kanzlerin war, die in der Corona-Krise entschieden hätte. Das ist nicht schwer vorhersehbar. Schade wäre es nur, wenn die Verantwortungsverschieber – wie leider so oft – damit auch diesmal durchkämen.