Was haben die Flüchtlingskrise, die Energiewende – die ja eigentlich eine Energiekrise ist – und die Finanzkrise miteinander zu tun? Dass sie die größten „Herausforderungen“ des 21. Jahrhunderts sind. Es sind für meinen Geschmack ein paar zu viele „historische Herausforderungen“, insbesondere wegen ihrer Gleichzeitigkeit. Und ich werde das Gefühl nicht los, dass „Krisen“ in „Herausforderungen“ umbenannt wurden. Klingt ja gleich viel optimistischer.
Der Finanzminister Schäuble sah schon 2011 in der Rettung Europas aus der Schuldenkrise „eine historische Herausforderung“. Heute kostet die Schuldenkrise den Steuerzahler mehr als die Energiewende.
Kanzleramtsminister Altmaier schrieb 2013: „Hinter der Energiewende verbirgt sich nichts weniger als die größte wirtschaftspolitische Herausforderung seit dem Wiederaufbau und die größte umweltpolitische Herausforderung überhaupt“. Die Energiewende kostet jährlich mehr, als der gesamte Staatshaushalt Verkehr und Infrastruktur.
Und die Kanzlerin sagte im November 2015: „Die Flüchtlingskrise ist die größte Herausforderung nach der deutschen Einheit." Heute kostet die Herausforderung Migration mehr als die Bundeswehr.
Alle drei „historischen Herausforderungen“ sind auch heute noch unbewältigt. Manchmal bitte ich den lieben Gott darum, uns doch die Probleme, die wir in den neunziger Jahren hatten, zurückzugeben und gegen die neuen „Herausforderungen“ einzutauschen. Da war wenigstens ein Ende abzusehen.
Bei der Bewältigung der Herausforderungen passieren dann hin und wieder ein paar „Pannen“. Eine Panne ist ein peinlicher, durch Ungeschicktheit verursachter Vorfall beim Ablauf von etwas. Das Wichtige an einer Panne – sie ist nicht strafbar.
Im Zählcomputer landeten die Stimmen anderswo
Es fing mit Pannen bei der Wahl in Bremen an. Bei einigen Stimmzetteln war der Fall klar: Sie trugen Kreuze für die AfD, doch bei der Eingabe in den Zählcomputer landeten die Stimmen anderswo. Da seien die Wahlhelfer wohl versehentlich in die falsche Spalte geraten, vermutete ein den Fall untersuchender Gerichtsvorsitzender wohlwollend.
Dann kamen die Pannen bei der Wahl in NRW zu Ungunsten der AfD. "Der Wahlvorstand hat sich vergaloppiert", sagte ein Sprecher der Stadt Mönchengladbach. "Sowas darf nicht passieren." Ist es aber, na ja – Schwamm drüber.
Und jetzt bei der Hessenwahl kam es zu erheblichen Pannen. Von einer „Computerpanne“ ist die Rede. Hat sich hier der Computer vergaloppiert? In „einigen Wahlbezirken“ wurden gravierende Mängel bei der Auszählung von Stimmen festgestellt. So seien Ergebnisse vertauscht, Zahlen verdreht und ganze Stapel mit Stimmzetteln vergessen worden, berichtete die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ unter Berufung auf eine Sitzung des Kreiswahlausschusses. Zudem seien die Ergebnisse in einigen Bezirken nur geschätzt worden, was zu Differenzen von jeweils mehreren hundert Stimmen gegenüber dem tatsächlichen Wahlausgang geführt haben soll. Wegen auffälligen Ergebnissen mit unter anderem sehr niedrigem Werten für die CDU und AfD muss nun in mehreren Wahlbezirken neu ausgezählt werden.
So etwas hätte ich eigentlich eher von einem Entwicklungsland erwartet, aber nicht von der Bundesrepublik Deutschland, die Wahlbeobachter in alle möglichen Bananenrepubliken entsendet. Das erinnert mich daran, dass es in der DDR keine Wahlpannen gab. Es war doch nicht alles schlecht in der DDR. Dort erreichte die Einheitsliste der Nationalen Front, besehend aus SED, Liberalen, Christdemokraten, Demokratischen Bauern, Nationaldemokraten und den Massenorganisationen der Gewerkschaften, Jugend, Frauen, Kultur und Antifaschisten stets mehr als 99 Prozent und damit eine überwältigende Zustimmung der Bevölkerung. Sogar im Mai 1989, fünf Monate vor der Wende waren es noch 98,77 Prozent. Aber das Ergebnis war wohl eher Wahlpannen bei der Auszählung der Stimmen zuzuschreiben. Gegen DDR-Funktionäre wurden danach wegen Wahlfälschung mehr als 20 Gerichtsverfahren eingeleitet, die mit Bewährungsstrafen endeten oder eingestellt wurden.
Da brauchen sich die heutigen Wahlpannenpechvögel wohl keine Sorgen zu machen. Jedenfalls nicht, solange sie sich in die richtige Richtung irren. Jedenfalls ist nach meinem Wissen bisher keine der Wahlpannen gerichtlich verfolgt worden. Es heißt ja auch im Strafgesetz nicht „Wahlpanne“, sondern Wahlfälschung, §107a:
(1) Wer unbefugt wählt oder sonst ein unrichtiges Ergebnis einer Wahl herbeiführt oder das Ergebnis verfälscht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer das Ergebnis einer Wahl unrichtig verkündet oder verkünden lässt.
(3) Der Versuch ist strafbar.
Und da sind wir schon direkt bei der „Deutungshoheit“. Der Kampf um die politische Deutungshoheit ist voll entbrannt. Das heißt, es wird um den heißen Brei herumgeschwurbelt, dass es nur so raucht – von den verbalen Nebelbomben. Da nennt man es „Fiktion einer Nichteinreise“, wenn Flüchtlinge zwar körperlich in Deutschland sind, aber juristisch woanders. Oder ein „Transitzentrum“ kann wahlweise „Expresszentrum“, Internierungslager“ oder eine „Transitzone“ sein, ganz abhängig von der politischen Ausrichtung des Deutungshoheitskriegers.
Die Sturmgeschütze im Kampf um die Deutungshoheit werden in Stellung gebracht: das Netzwerk-Durchsetzungsgesetz (NetzDG), das den sozialen Medien einen Maulkorb verpasst, und die Datenschutz-Grundverordnung DSGVO, die Mailinglisten und Privatfotos unter Kontrolle bringt. Auch der UN-Migrationspakt enthält eine Forderung, nach der über Migration grundsätzlich positiv zu berichten ist.
Wer die Deutungshoheit besitzt, kann Krisen dauerhaft in Herausforderungen umbenennen. Wer sie nicht hat, sollte besser nicht mal mehr „liken“.
In der DDR hatte die SED die absolute Deutungshoheit, dank Mielkes Aasgeiern der Staatssicherheit sowohl über den Stammtischen, als auch in den Medien. Deswegen waren die Wahlergebnisse die ganzen 40 Jahre auch stets besser als 99 Prozent. In der Bundesrepublik wird die Deutungshoheit noch hart umkämpft. Soll nun der Bundestag über die Unterzeichnung des UN-Migrationspaktes abstimmen oder nicht? Eine Frage der Deutungshoheit, statt einer Frage ans Parlament. Wer Lufthoheit am Deutungshimmel erreicht hat, braucht sich um Wahlergebnisse nicht mehr zu sorgen. Denn dann wird aus einer Krise eine Herausforderung und aus einer Wahlfälschung automatisch eine Wahlpanne. Herausforderungen nimmt man sportlich, und Wahlpannen sind nicht strafbar.