Boris Palmer, Gastautor / 16.10.2019 / 06:00 / Foto: Andy Ridder / 155 / Seite ausdrucken

Die Geschichte vom Rüpel-Radler

Von Boris Palmer.

Im Juli 2018 fasste der Tübinger Gemeinderat mit den Stimmen von knapp der Hälfte seiner Mitglieder auf Antrag der Fraktionen von SPD und Linken einen landesweit vermutlich einmaligen Beschluss:

„Oberbürgermeister Boris Palmer spricht in keiner Weise für die Stadt Tübingen, wenn er Menschen anderer Hautfarbe unter Generalverdacht stellt oder wenn er aus äußerlichen Merkmalen, dem Sozialverhalten oder dem Kleidungsstil Rückschlüsse auf Herkunft und Status von Menschen zieht.

(…) Der Tübinger Gemeinderat erwartet vom Oberbürgermeister, dass er sein Handeln, Reden und Schreiben darauf ausrichtet, dass sich alle Menschen in unserer Stadt, gleich welcher Herkunft oder Hautfarbe sie sein mögen, wohl und willkommen fühlen können und er Fremdenfeindlichkeit entschieden entgegentritt, statt sie zu befördern und hoffähig zu machen. Der Tübinger Gemeinderat fordert den Oberbürgermeister auf, seine Äußerungen zurückzunehmen und sich dafür zu entschuldigen.“

Was war passiert? Drei Monate zuvor, im April 2018, war ich als Gast zu einer Abendveranstaltung der „Südwestpresse“ in Ulm eingeladen. Auf dem Weg vom Bahnhof zum Ulmer Münster fuhr mich in der Fußgängerzone ein Rüpelradler beinahe über den Haufen. Der Radler war jung, männlich, schwarzer Hautfarbe, mit goldenen Kettchen behängt und trug seine nackte Brust mit einem bis zur Hose geöffneten Hemd zur Schau. Meine laut und mit gestikulierenden Armen vorgetragene Aufforderung, die Slalomfahrt zu stoppen, ignorierte der Radler. Es blieb unklar, ob wegen der Kopfhörer im Ohr oder aus Prinzip. Ich sagte spontan zu dem mich begleitenden Journalisten: „Wenn ich das nachher erzähle, bin ich wieder der Rassist.“

Kritische Aspekte im Zusammenleben mit Geflüchteten

Ich habe es trotzdem getan. Weil mich die Szene bewegt und empört hat. Weil sie für mich exemplarisch steht für viele gleichartige Erlebnisse im öffentlichen Raum. Weil ich der Überzeugung bin, dass die Mehrheit der Menschen sich darüber genauso ärgert wie ich, wenn junge Männer derart über die Stränge schlagen.

Und weil ich sicher bin, dass der Frust, darüber nicht reden zu können, ohne als Rassist gebrandmarkt zu werden, die Leute zur AfD treibt. An keiner anderen Stelle meines fast zweistündigen Auftritts in Ulm erhielt ich mehr sichtbare Zustimmung vom 350 Köpfe zählenden Publikum als bei der Schilderung dieser Szene und meiner Schlussfolgerung: Wer das Asylrecht erhalten will, der muss zulassen, dass Menschen sich über derartige Szenen ärgern, sich dazu auch äußern und denjenigen, die Respekt und Normakzeptanz so offensiv vermissen lassen, ganz entschieden auf die Füße treten.

Das „Schwäbische Tagblatt“ druckte einige Tage später wegen dieser Begebenheit einen Leitartikel, der meine Äußerungen falsch, aber plakativ fünfmal mit dem Satz „Das ist rassistisch“ bewertete. Die nachfolgende Diskussion über den Rüpelradler füllte über ein Vierteljahr ganze Zeitungsseiten und Leserbriefspalten nicht nur im „Schwäbischen Tagblatt“, sondern auch in der „Frankfurter Allgemeinen“ oder der „Zeit“ und führte schließlich zum eingangs zitierten Mehrheitsbeschluss des Gemeinderates mit erneutem Medienecho.

Die „Stuttgarter Zeitung“ behauptete anschließend in einem Kommentar, der Gemeinderat habe mich aufgefordert, „fremdenfeindliche Hetze“ einzustellen, was erkennbar durch den Beschlusstext nicht gedeckt ist, und bedauerte, dass es keine Druckmittel gebe, um mir künftig Einhalt zu gebieten. Denn ich hatte mich gerade nicht entschuldigt, die Vorwürfe zurückgewiesen und angekündigt, dass ich kritische Aspekte im Zusammenleben mit Geflüchteten auch künftig unverblümt ansprechen werde.

Selbstläuterung statt Lösung

Sandra Kostners Theorie erklärt diese an sich kaum nachvollziehbare Empörungswelle überzeugend: Als weißer Mann in einer machtvollen Position stehe ich exemplarisch für die Unterdrücker, die Asylbewerber hingegen für die Unterdrückten. Die moralisierende Bewertung, die sich im Beschluss des Gemeinderates gut ablesen lässt, dient der Selbstläuterung, nicht der Lösung von Problemen. Deshalb kommt ein Gespräch nicht zustande und die Polarisierung zwischen der Fraktion der Identitätslinken auf der einen Seite und den rechten Identitären auf der anderen Seite nimmt immer weiter zu.

Kostners These erklärt mir auch, warum ich mit meiner pragmatisch-nüchternen, auf reale Probleme und deren Lösung fokussierten Asylpolitik einschließlich direkter Ansprache der Missstände in meiner eigenen Partei in eine Außenseiterrolle geraten bin, während ich auf der Straße, in Buchhandlungen und Sälen der Republik nie so viel Zustimmung erfahren habe: Die Grünen sind noch vor der Linken diejenige Partei, in der die Identitätslinken die größte Mehrheit haben, während das in der Mehrheit der Gesellschaft und der anderen Parteien nicht der Fall ist.

Nach meiner Wahrnehmung bringen die Identitätslinken eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung gegen sich auf – mit ihrer Mischung aus moralisierender Selbstgerechtigkeit, völliger Unduldsamkeit gegenüber anderen Haltungen und Perspektiven sowie der Verweigerung von Sanktionen für Fehlverhalten, kombiniert mit der Unterstützung oder Entschuldigung eines überzogenen Anspruchsdenkens von Asylbewerbern.

Auszug aus: Boris Palmer: „Erst die Fakten, dann die Moral. Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muss“, Siedler, 240 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag, € 20,00 [D] / € 20,60 [A] / CHF 28,90* (*empf. VK-Preis). ISBN 978-3-8275-0124-0
Hier bestellbar.

 

Boris Palmer, geboren 1972, wuchs in Geradstetten bei Stuttgart auf. Er studierte Geschichte und Mathematik in Tübingen und Sydney. 2001 wurde er Landtagsabgeordneter von Bündnis 90/Die Grünen in Baden-Württemberg, wo er sich als Umwelt- und Verkehrsexperte einen Namen machte. Mit 34 Jahren wurde er 2007 zum Oberbürgermeister von Tübingen gewählt – und 2014 mit 61,7 Prozent der Stimmen für weitere acht Jahre im Amt bestätigt. 2017 erschien sein Buch „Wir können nicht allen helfen“, das zum Bestseller wurde.

Foto: Andy Ridder

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Anneliese Bendit / 16.10.2019

Sehr geehrter Herr Palmer, als Tochter eines deutschen Flüchtlings finde ich eine Trennung von Einwanderungs- und von Asylpolitik für zwingend notwendig. Zunächst zum Thema Migration: ein Pfeiler des EU-Binnenmarktes ist die Freizügigkeit ihrer Bürger europaweit arbeiten zu dürfen. Langzeitarbeitslose EU-Bürger dürfen ihren Anspruch auf Freizügigkeit weiter geltend machen, für Auszahlungen von Sozialleistungen sollen sie sich allerdings an ihre jeweiligen Konsulate und Botschaften wenden. Die einzigen Nicht-EU-Ausländer, die wir brauchen sind hochqualifizierte Arbeitnehmer, die mit einem Arbeitsvertrag in der Tasche nach Deutschland kommen, deren Deutschkurse von den Unternehmen bezahlt werden und die durch ihre Einkommenssteuern, die Kosten die sie und ihre ausländische Familie verursachen, beispielsweise Krankenversicherung, Kindergarten, Schule und Verwaltung auch abdecken. Zu der Flüchtlingskrise möchte ich festhalten, dass das Problem, welches in die Flüchtlingskrise von 2015 mündete, auf einer von der Bundesrepublik aus Schuldgefühlen praktizierte Laisser-faire Asylpolitik basiert, wodurch illegale Einwanderer jahrelang aus aller Welt nach Deutschland gekommen sind. Schuldgefühle wegen der Schoah können nicht mit einer weltweiten Einladung an das abgehängte Prekariat gesühnt werden. Da die USA unter der Obama Administration eine Flüchtlingsquote von 100.000 Menschen pro Jahr und wie Secretary of State Clinton in einer Wahlsendung erklärte, erst nach einem gründlichen Sicherheitscheck von in der Regel 18 Monaten, hatte, halte ich für Deutschland, das viermal so klein wie die USA ist, eine jährliche Flüchtlingsquote von 25.000 Menschen, die sich unseren Sitten und unserer Kultur verwandt fühlen, für gut vorstellbar.

Karla Kuhn / 16.10.2019

Justyna Rattay, genau so ist es. Ich will es nicht ganz so sehen wie Herr Stricker, immerhin muß es Herrn Palmer bewußt sein, daß er durch sein “unerhörtes Verhalten” seinen bequemen Oberbürgermeistersessel verlieren könnte. Denn NICHTS scheint für die GRÜNE Kaste schlimmer zu sein, als an der Fassade ZU KRATZEN. Daß er auch, wie viele andere, übrigens auch einige Autoren und Leser auf der Achse, es nicht lassen kann die AfD ins Spiel zu bringen, wundert mich nicht. Das scheint der Politkaste derart eingeimpft zu sein, daß sie es wahrscheinlich tief verinnerlicht haben und selber den Humbug glauben. Herr Palmer wäre aber mit einem Schlag von diesen Verdächtigungen befreit, wenn er die GRÜNE Partei VERLASSEN würde. Mit seinen Äußerungen trifft er VOLL ins Schwarze, nur diese Äußerung hätte er sich wirklich sparen müssen, die macht seine Kritik nicht besonders glaubwürdig.  “....dass die Mehrheit der Menschen sich darüber genauso ärgert wie ich, wenn junge Männer derart über die Stränge schlagen.”  Die meisten jungen Menschen schlagen über die Stränge, das ist der Jugend geschuldet. WAS aber seit 2015 in DEUTSCHLAND passiert, hat damit nicht das GERINGSTE zu tun. VERGEWALTIGUNGEN, MORDE, fast täglich Messerstechereien, Diebstähle, Identitätsbetrug mit abkassieren von Sozialleistungen etc. DAS Herr Palmer,  sollten SIE als ein Vertreter unseres Volkes endlich mal völlig UNGESCHMINKT öffentlich anprangern !!  DAS ist WEDER Rassismus, POPULISMUS oder “NAZI”, DAS ist die PURE REALITÄT und eigentlich wären Sie, wie ALLE Politiker, verpflichtet, ENDLICH die Katze aus dem Sack zu lassen.  Wenn Sie und Ihre POLIT-Kollegen es nicht machen, dann wundern Sie sich nicht, daß  sehr viele Menschen JEGLICHES Vertrauen in die Politik aber auch in die Medien verlieren oder bereits verloren haben !!  Oder sind Sie einverstanden mit der Merkelpolitik ? Dann bleiben Sie dabei aber schreiben nicht solche Artikel !

Jürgen Struckmeier / 16.10.2019

Lieber Herr Palmer, es ist unlogisch, Ihre Kritik an der moralischen Hybris der Grünen ausgerechnet an einem schwarzen “Rüpel-Radler” aufzuhängen—solche gibt es in allen Schattierungen. Ich selbst wurde vor ein paar Jahren von der radfahrenden Jutta Dittfurth höchst persönlich im Fußgängerbereich nahe der Frankfurter Hauptwache um ein Haar über den Haufen gefahren. So machen Sie es Ihren Gegnern leicht, Sie zu diffamieren. Zur einer fundierten Kritik an der gegenwärtigen Politik—nicht nur der Grünen—würde es genügen aufzuzeigen, dass diese alles andere als nachhaltig ist und mit mathematischer Sicherheit in den Ruin führen wird—mit unabsehbaren Folgen.

Regina Becker / 16.10.2019

Wie kommt man eigentlich von einem Zusammenstoß mit einem “Rüpel-Radler” auf das Asylrecht? Nur weil der Radler einen dunklen Teint hatte, muss er kein Asylbewerber gewesen sein. Die Schlussfolgerung des Herrn Palmer ist tatsächlich zweifelhaft und völlig unbewiesen, populistisch eben. Die täglichen gefühlten oder realen Ungerechtigkeiten treten in ganz anderen Bereichen auf. Schauen Sie mal auf die Versorgung mit Zahnersatz bei einem durchschnittlich verdienenden Kassenpatienten, bei einem Kassenpatienten, der Hartz IV bezieht und bei einem anerkannten Asylanten - schauen Sie auf die Zuzahlung und auf das verwendete Material….  Dunkelhäutige Rüpel-Radler sind da nur Peanuts.

Christina Weiser / 16.10.2019

Achja, ein Schwarzer mit Goldkettchen und blanker Brust fährt rücksichtslos Radl-Slalom. Regt mich genausowenig auf, wie die nicht erledigte Kehrwoche in der Nachbarschaft. Hätte Herr Palmer die alltäglichen sexuellen Belästigungen, Vergewaltigungen, Raubüberfälle und Messerstechereien durch Schwarze und arabische “Gäste” öffentlich angesprochen, hätte er meinen Respekt. Aber dafür reicht auch bei ihm nicht die Traute.

Jürg Rückert / 16.10.2019

Die Bundesregierung stellte nach dem Attentat in Halle sämtliche Deutsche unter „Generalschuld“. Als Türke mit deutschem Pass wäre ich natürlich ausgenommen. Die bleierne Öffentlichkeit nickt dazu wie der alte „Nickneger“, der in meiner Heimat an Weihnachten immer noch nickt, sogar unter der Obhut eines Pfarrers aus Kenia. Wie kommt das?

Wolfgang Häusler / 16.10.2019

Man muss im Zusammenhang mit Radrowdies nicht unbedingt über fremde dunkelhäutige Männer reden. Man besuche Freiburg i. Br., um festzustellen, dass das die grüne Jungklientel auf ihren Sperrmülldrahteseln genauso gut kann. Ist das in Tübingen anders?

Andrea Nöth / 16.10.2019

Es lässt mir keine Ruhe - Herr Palmer schreibt: “wenn junge Männer derart über die Stränge schlagen”. Über die Stränge schlägt ein Pferd im Gespann, welches ansonsten brav seine Arbeit verrichtet - und mit dem Ausschlagen lediglich - eine Unmutsäußerung gegen zu großen Zwang zeigt. Auch ein Jugendlicher, der brav zur Schule geht, brav aufisst und sein Zimmer immer schön aufräumt - schlägt ‘über die Stränge’, wenn er mal zu spät nach Hause kommt. Die (jungen) Männer auf der Straße, die uns bespucken, angrapschen, umfahren und ins Gesicht schlagen, diese Männer SCHLAGEN NICHT ÜBER DIE STRÄNGE. Die Verharmlosung des kulturbedingten Verhaltens durch Formulierungen scheint bereits in die Zellen der Grünen übergegangen zu sein. Herr Palmer zeigt wessen Geistes Kind er ist.

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