Von Ernst Eichengrün, Ulrich Schödlbauer und Gunter Weißgerber.
Chemnitz wird uns in allen seinen Dimensionen noch lange beschäftigen. Ob die Vorkommnisse nun wirklich die Bezeichnungen, die ihnen zugedacht worden sind, verdienen, ob also die Ausschreitungen so groß waren wie berichtet, spielt dabei keine Rolle. Zwar gab es schlimmere Krawalle, die mit weniger Medienaufmerksamkeit bedacht wurden, doch man sollte Chemnitz nicht kleinreden oder relativieren. Oft genügen ja selbst kleinere Anlässe, um Schrecken zu verbreiten und wie eine Lawine loszutreten.
Für eine politische Bewertung ist das skandalöse Benehmen der Rechtsextremen nicht das Wichtigste, sondern vor allem das überraschend hohe Mobilisierungs-Potenzial. Die hohe Zahl der Mitläufer, deren Auftreten oft nicht klar erkennen ließ, in welchem Ausmaß sie mit den in der rechten Szene virulenten Gesinnungen sympathisierten oder ob sie nur den Anlass nutzten, um ihren Unmut zu zeigen.
Für die echten Rechtsextremisten reichen die Instrumente eines konsequent wehrhaften demokratischen Staates. Aber entscheidend ist es doch, den wachsenden Anteil der stark verunsicherten Bevölkerung wieder ins Boot zu holen, jene Menschen, die einfach nicht mehr ungefragt mit sich machen lassen wollen, was ihnen die aktuelle Bundespolitik verordnet. Seit dem Herbst 2015 geht kontinuierlich Grundvertrauen verloren – Grundvertrauen vor allem in die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD, darüber hinaus aber auch in die öffentlich-rechtlichen Medien. Viele Bürger dieser Republik haben den Adressaten ihrer politischen Vorstellungen verloren. Von vielen Medien sehen sie sich regelrecht falsch informiert. Die Folgen der ungesteuerten Massenzuwanderung waren nur für eine Partei Hauptgegenstand von Wahlkämpfen. Wer bei der letzten Bundestagswahl ein Votum gegen eine „Willkommenskultur“, die neben den Verfolgten auch noch deren Verfolgern die Türen weit öffnet, stimmen wollte, dem bot sich nur Rechtsaußen an und keine der klassischen demokratischen Parteien. Jeder Kritiker von Merkels-Migrationspolitik, für den die AfD unwählbar ist, konnte dies im letzten Herbst nicht, wie es in Demokratien üblich sein sollte, mit seiner Stimmabgabe ausdrücken.
Das Überspielen der Auslöser des Bürgerzorns
Die Bundesrepublik Deutschland ist der Staat ihrer Staatsbürger. Wird dieser Zusammenhang willentlich nicht beachtet, gehen die Staatsbürger auf die Straße. Wie sich in Chemnitz gezeigt hat, wächst die Gefahr gefährlicher Allianzen, wenn in der Bürgerschaft die Hoffnung darauf schwindet, dass die große Politik den Dialog ernst meint und nicht nur zu Beruhigungszwecken inszeniert. Wer den Glauben an die Lernfähigkeit der Regierenden verliert, und auch von großen Teilen der parlamentarischen Opposition immer wieder enttäuscht wird, zeigt sich bei der Wahl neuer Partner irgendwann nicht mehr zimperlich.
In Chemnitz wurde deutlich, dass die Rechtsextremen in ihrem Bemühen, die Herrschaft auf der Straße zu erobern, Fortschritte gemacht haben. Der Staat soll blamiert und die Republik ins Chaos gestürzt werden. Dabei gilt: Weder ist die Republik in Gefahr, noch gibt es nennenswerte Parallelen zu den letzten Jahren der Weimarer Republik. Wie immer man das Verhalten der AfD bewerten mag: Die Rolle, die jene Politiker spielen, die beispielsweise die Gewalttaten, an denen sich der Bürgerzorn entzündet, gern überspielen wollen, sich aber an den Folgeereignissen dafür umso gründlicher abarbeiten, ist fatal.
Die Einsicht, dass die Mitläufer nicht mit Rechtsextremen oder AfD in einen Topf geworfen und diese fatale Zuordnung schon gar nicht auf ganz Sachsen oder gar den gesamten Osten ausgedehnt werden sollte, kam wieder einmal sehr spät. Vielleicht schon zu spät; der Schaden ist da. Wenn normale Bürger sich dazu entschließen, einem Aufruf der AfD zu einer Trauer-Kundgebung zu folgen, dann sind sie deshalb noch keine Anhänger dieser Partei. Aber wer bot denn den Verunsicherten zuerst eine Gelegenheit, ihrer Trauer Ausdruck zu geben und zugleich auch ihrem wachsenden Unmut angesichts einer verfehlten Migrationspolitik, von der sich eine Linie zu der Mordtat zieht?
Diesen Bürgern geht es darum, die Politik und ihre unzulänglichen Manöver in der Flüchtlingsfrage zu kritisieren. Der Mord von Chemnitz war Anlass, nicht Ursache des Protests. Wenn immer noch behauptet wird, weder habe es eine illegale Masseneinwanderung gegeben noch bestehe eine unverhältnismäßige Kriminalität, und der Bevölkerung seien ganz andere Probleme wichtig, dann kann das die Unruhe nur verstärken.
Viele Gewählte halten sich für die Therapeuten ihrer Wähler
Dass die jährliche Zuwanderungszahl seit dem Rekordhoch der Jahre 2015 und 2016 abgenommen hat, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die anderthalb Millionen Ankömmlinge dieser Zeit und die damit entstandenen Probleme fast alle immer noch da sind. Die „Obergrenze“ von 200.000 Asylbewerbern bedeutet immer noch, falls sie ausgeschöpft wird, dass in fünf Jahren eine Million hinzukommt. Nach wie vor gilt, dass, wer Kritik wagt, rasch als hinterwäldlerisch, rassistisch oder gar nazistisch verunglimpft wird. Vor allem letzteres weckt Besorgnis: Der Vorwurf verflacht dadurch, er büßt seine Wirkung ein und greift nicht mehr, wenn er tatsächlich angebracht ist.
Die Bürger wollen gehört werden. Das ist ihr gutes Recht. Die Politiker beteuern das immer wieder. Doch reicht das? Bleibt es damit nicht nur bei folgenlosen Leerformeln? Die Wähler wollen von den Gewählten nicht nur mit Therapiegesprächen bedacht werden, sondern sie erwarten Entscheidungen und politisches Handeln, idealerweise in Erfüllung ihrer Wahlversprechen.
Sicher ist in den letzten Jahren einiges geschehen. Doch die Wähler wissen auch, dass die Zahl der Migranten nur nachgelassen hat, weil die Balkanroute geschlossen wurde und Erdogan für seine „Wacht an der Ägäis“ entlohnt wurde. Was im Lande selbst getan wurde, überzeugt viele Bürger nicht. Und der kleinliche Streit um Detailfragen stärkt die ohnehin steigende Angst vor einem Staatsversagen weiter.
Ein Signal der Hoffnung wäre dringend nötig, zumal das Berliner Dauer-Theater in den letzten acht Monaten viel Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Politik verspielt hat. Ohnehin wissen die Bürger, dass der Politik der Massenzuwanderung nach wie vor das demokratische Mandat fehlt und dass sie im Bundestag nie zur Abstimmung stand.
Zunehmende Gefährdung früherer Integrationsleistungen
Seit den Wahlen 2017 steht das Menetekel an der Wand. Jeder konnte seither wissen, dass das Potenzial der AfD weitaus größer ist als die damals von ihr erzielten 13 Prozent. Politik in der Demokratie lebt vom Vertrauen; ist es einmal verspielt, traut man den Regierenden nicht mehr zu, mit den Problemen der Zukunft fertig zu werden. Der Faktor Zukunftsangst steigt somit. Wer Xenophobie und Fremdenhass, wo sie bereits grassieren, als Ausfluss von Zukunftsangst erklärt, sollte auch erklären, woher diese kommen und wie die Politik sie verstärkt.
Eine der übelsten Folgen der aktuellen Zuwanderungspolitik ist es, dass sie zunehmend die bereits erreichte Integration der „alten“ Migranten gefährdet. Auf allen Seiten wächst das Misstrauen und beraubt die verstärkten Bemühungen um Integration ihrer dringend benötigten Glaubwürdigkeit. Das wird unabsehbare Folgen haben.
Soll die Gesellschaft nicht weiter auseinander treiben, ist deutliches und massives Handeln mit Signalwirkung gefragt.
Es genügt nicht, wenn Politiker bei Problemen mit Abschiebungen und Kriminalitäts-Bekämpfung darauf verweisen, die Gesetze seien nun einmal so. Jeder weiß: Gesetze, auch europäische, kann man ändern, im Ernstfall sogar internationale Abmachungen, die in anderen Zeiten für andere Probleme getroffen wurden.
Die AfD ist nicht die Ursache der Probleme, sie ist, siehe Chemnitz, nur noch ein Bote unter anderen.
Ein letztes Wort zu Chemnitz
Klar ist: hier wurde der Rechtsstaat herausgefordert. Ebenso klar ist, dass das bisher – man denke z.B. an G20 in Hamburg und an dauerhaft rechtsfreie Räume in Berlin – auch und gerade von linksradikalen/chaotischen Gruppierungen so praktiziert wurde, oft verbunden mit Verharmlosung oder kaum verhohlener Sympathie für die Randalierer auf Seiten von Grünen und Linkspartei. Regelmäßig wird dann der Polizei der Schwarze Peter zugespielt: Sie deeskaliere nicht, oft sei schon ihre bloße Anwesenheit eine Provokation, sie handle unverhältnismäßig. Verstörend auch, dass mit den Migranten ein starker Antisemitismus importiert wurde. Wenn Zigtausende am Al-Quds-Tag gegen Israel und die Juden hetzen, wird das zwar bedauert, aber niemand ist da, es zu verhindern.
All das soll jetzt keine Rolle mehr spielen. Gefordert wird ein großes Bündnis gegen Rechtsaußen und Rassismus. Dass auch die linken Radikalen dabei sind, stört die Bundesjustizministerin nicht. Kommunisten und Anarchisten (die ohne den „Schwarzen Block“ nicht zu haben sind) sind willkommen, wenn es um den weit interpretierten „Faschismus“ geht, zu dem dann gerne auch die Mitläufer gerechnet werden. Die ohnehin bestehende Spaltung der Gesellschaft wird so noch weiter gefördert. Die Mitläufer wird das nicht zur Einkehr bewegen. Und auch die zu mobilisierende Mitte wird durch eine solche Polarisierung verschreckt; weiß sie doch, dass auf Demonstrationen mit Radikalen Krawalle nicht ausbleiben.
Die Mitte der Gesellschaft samt den maßvollen, mit Argumenten erreichbaren Kritikern der Migrationspolitik wird es nicht goutieren, wenn sich auf Seiten der Befürworter auch solche finden, die eine unbegrenzte Zuwanderung fordern, insbesondere wenn diese sich davon versprechen, dass so das Land und seine Menschen von Grund auf verändert werden. Von jenen ganz zu schweigen, die darauf setzen, dass massenhafte Zuwanderung ein neues Proletariat schafft, von dem endlich die lang ersehnte Revolution ausgeht.
Es wird behauptet, die politische und mediale Konzentration auf das Migrations-Problem schaffe dieses Problem erst. Und: Wer Probleme anspreche, nütze nur der AfD. Schon wird gefordert, die negativen Berichte einzudämmen. Wird künftig jegliche Kritik an der Migrationspolitik, ja selbst ein Hinweis auf Skandale, dann auch amtlich als Rassismus verunglimpft?
Die Tendenz zur weiteren Polarisierung ist deutlich: hier die einen, die „Alle Ausländer raus!“, da die anderen, die „Alle Ausländer rein!“ rufen. Zwischenpositionen werden gnadenlos mit einer an Teufelsaustreibung erinnernden Inbrunst ausgegrenzt. Die vernünftige, abwägende Mitte soll so zerrieben werden.
Last but not least die Frage der Moral
So wichtig die Hilfsverpflichtung des Staates, so begrüßenswert die Hilfsbereitschaft Vieler ist, so sehr viele Einzelschicksale auch dort nach Verständnis und Hilfe schreien, wo Skeptiker sich hin- und hergerissen fühlen, so kann das allein doch nicht Richtschnur allen Handelns sein. Hier sei an Max Webers Unterscheidung zwischen der Gesinnungsethik, die sich allein auf die reine Moral stützt und der Verantwortungsethik, die die Folgen ihres Handelns mit bedenkt, erinnert. Die Folgen einer gesinnungsethisch gerechtfertigten Politik sind für jeden absehbar: verstärkte Zuwanderung, gepaart mit amtlicher Rücksicht auf rückständige Werte und Regeln, und der fortdauernden Überforderung unserer Institutionen und Ressourcen ruft einen wachsenden Unmut in der Bevölkerung hervor.
Die gewollte Polarisierung zwischen absoluten Gegnern und Befürwortern einer unlimitierten Zuwanderung führt automatisch dazu, dass sich auf jeder Seite diejenigen durchsetzen, die am lautesten und am entschiedensten auftreten – vor allem dann, wenn die Kampagnen ideologisch aufgeladen werden. Beim „Kampf gegen Rechts“ werden Antifa & Konsorten so bald die verbale Hegemonie über das gesamte Lager gewinnen. Wer will schon zurückstehen, wenn es gegen die Faschisten geht?
Fazit: Wer gewinnt, wenn Realisten als unmoralisch und verwerflich abgestempelt werden? Mit Sicherheit nicht das Gemeinwesen. Die Weltgesellschaft, in deren Interesse hierzulande gern geredet und gehandelt wird, ist eine tausendköpfige Hydra: urteilslos und wenig nachsichtig mit Gesellschaften, die sich selbst nicht zu bewahren wissen.