Deutschland, wir müssen reden

In den kommenden Monaten bis zur Bundestagswahl wird sich zeigen, ob die – dann hoffentlich post-pandemische – Gesellschaft nicht nur ihre alten Freiheiten zurückholen kann, sondern auch neue erobert. Die wichtigste wäre die Wiedergewinnung einer kontroversen, aber sachbezogenen Debatte über die Zukunft der liberalen Gesellschaft und ein striktes Tempolimit beim Posten, Twittern und Liken feuriger Glaubensbekenntnisse.

Beispiele für die praktische Bewährung einer neuen Debattenkultur gäbe es genug. So hat das notorisch liberale Dänemark angekündigt, eine Höchstmarke für Anwohner „nicht-westlicher“ Herkunft einzuführen. Das Gesetz sieht vor, dass binnen zehn Jahren in Stadtvierteln eine Grenze von 30 Prozent gelten soll, um das Risiko der Entstehung von religiösen und kulturellen Parallelgesellschaften zu senken. Eine fast schon verwegen praktische Idee. Jeder, der in Deutschland einen solchen Vorschlag äußern würde, stünde umgehend als „Rassist“ und „Ethnozentrist“ am Pranger der Öffentlichkeit.

Was bei uns kein führender Christdemokrat wagen würde – Mette Frederiksen, die 44-jährige sozialdemokratische Ministerpräsidentin unseres nördlichen Nachbarlandes, hat es einfach gemacht. Zur Begründung formulierte sie einen Satz, der auch auf andere Staaten Europas zutrifft: „Wir haben viel zu viele Jahre die Augen vor der Entwicklung verschlossen, die auf dem Weg war, und erst dann gehandelt, als die Integrationsprobleme zu groß geworden sind.“

Auch die aktuelle Masseneinwanderung an der amerikanischen Südgrenze nach der Lockerung des Grenzregimes durch den neuen Präsidenten Joe Biden könnte zum vertieften Nachdenken über das schwierige Verhältnis von Migration und Integration führen, dem mit moralischen Appellen nicht beizukommen ist.

Moralische Grundlagen der EU werden lächerlich gemacht

Das, was Willy Brandt vor einem halben Jahrhundert den Nord-Süd-Dialog genannt hat, müsste wiederbelebt und auf eine völlig neue Grundlage gestellt werden. Nicht nur Unterdrückung, Armut, Bürgerkriege und islamistische Gewalt in vielen Ländern des globalen Südens, sondern auch die demografische Entwicklung in weiten Teilen Afrikas, über die hierzulande der Mantel des Schweigens ausgebreitet wird, sorgen dafür, dass es beim Dialog wahrlich nicht bleiben kann. Neue Flüchtlingsströme sind absehbar, die Europa vor bislang unbekannte Herausforderungen stellen werden.

Apropos Europa: Die Corona-Krise ist nur das neueste Beispiel dafür, wie weit die Vision eines starken, vereint handelnden Europa von der Wirklichkeit entfernt ist. Ob Euro-, Finanz-, Migrations- oder Klimakrise – die Fliehkräfte nehmen zu, die teils gravierenden kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Unterschiede werden immer deutlicher. Zuweilen schießen, wie in Italien und Griechenland, gar alte Feindseligkeiten wieder hoch, die aus den Abgründen des 20. Jahrhunderts stammen. Dann erscheinen die Deutschen plötzlich wieder als neoliberale Spar-Nazis, die wie Richard Wagners Alberich auf ihrem Goldschatz sitzen und nichts weiter im Sinn haben, als die „faulen“ Südeuropäer zu unterjochen und in die Zinsknechtschaft zu treiben.

Absurde Vorgänge wie die, dass in den EU-Ländern Griechenland und Italien bereits registrierte oder anerkannte Asylbewerber, die illegal nach Deutschland weitergereist sind, nicht zurückgebracht werden dürfen, weil in den beiden Mittelmeerstaaten keine menschenwürdige Unterbringung gewährleistet sei, unterminieren die politischen und moralischen Grundlagen der Europäischen Union, ja, machen sie geradezu lächerlich.

Eine moderne Nation ist, was sie sein will

So gerät die rettende Idee vieler Deutscher, vor der ewig heiklen Frage nach Heimat und Nation in den Schoß Europas zu fliehen, immer wieder in Konflikt mit der Realität. „Die Unfähigkeit Deutschlands, im Jahre 31 nach der Wiedervereinigung und ein Dreivierteljahrhundert nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein Selbstverständnis als Nation zu entwickeln, ist beunruhigend“, stellen die Publizisten Jörg Hackeschmidt und Caroline König zu recht fest und stimmen darin Hamed Abdel-Samad, Ahmad Mansour, Necla Kelek und vielen anderen überein, denen dieser Befund umso einleuchtender erscheint, als sie gar nicht in Deutschland geboren sind.

Gerade die Nicht- oder Noch-nicht-Deutschen wären aber dringend darauf angewiesen, zu wissen, was das Land im Kern zusammenhält, das zu ihrer neuen Heimat geworden ist: „Dabei könnte ein weltoffener Patriotismus umfassend integrative Kraft entfalten, wenn es darum geht, sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu stellen. Das Konzept des Nationalstaats ist im Übrigen aus guten Gründen die Norm – in Europa wie in der Welt. Deutschland hat jetzt die Chance, zu einer 'Willensnation' zu werden, wie es die Schweiz oder Kanada schon immer sind. Letztlich ist es ganz einfach: Eine moderne Nation ist, was sie sein will.“

Ja, es könnte so einfach sein. Wenn man nur wollte. Wenn man die eingeübten Reflexe, links wie rechts, endlich ablegen könnte. Wenn der allgegenwärtige strukturelle Moralismus nicht mehr als Ersatzreligion, als Lückenbüßer für Selbstbewusstsein und Staatsräson gebraucht würde, obwohl er mit nationalistischem Größenwahn mehr gemeinsam hat, als einem lieb sein kann.

Dies ist ein Auszug aus „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt“ von Reinhard Mohr, 2021, München: Europa Verlag. Hier bestellbar.

Foto: © ARD Degeto/X-Filme/Beta Film/Sky Deutschland/Frédéric Batier/

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B.Kröger / 13.06.2021

Lieber Herr Mohr, wenn man in Deutschland nur endlich lernen wollte, mit Widersprüchen und gegenteiligen Meinungen zu leben. Der Wille zur Einheitlichkeit ist in unserem Land nach wie vor über groß. Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Abweichende Meinungen werden nicht diskutiert, sondern verboten.  Was uns fehlt ist nach wie vor die alte Forderung: Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire. Geben wir uns als Volk endlich Gedanken- und Diskussionsfreiheit !

Klaus-Dieter Zeidler / 13.06.2021

Bei 30% Migration hätte Berlin noch knapp 2 Millionen Einwohner. Danach müßte man über die Schwaben reden. Kevin Kühnert könnte die Spielhallen enteignen und zu Rentnertreffs umrüsten. Leere Dönerläden würden als Mahnmale an die Vertreibung der Muslime erinnern und einen Stellenwert wie Stolpersteine bekommen. Grüninnen und Grüne würden sicher aus Solidarität mitgehen oder auf dem Kreuzberg Gemüse anbauen. Die AfD wäre Geschichte, Islamunterricht vermutlich auch. Gefängnisse könnten Erlebnistouristen beherbergen und die Polizei die Grünanlagen pflegen. Aber in Berlin wird es in 10 Jahren nur noch 30% westlich geprägte Einwohner geben und einen muslimischen Bürgermeister.

Frank Drebiehn / 13.06.2021

Dem Deutschen ist das Nationalbewusstsein und der Nationalstolz erfolgreich abtrainiert worden. Als Zuschauer einer kleineren Sportveranstaltung vor etwa 4 Jahren wohnte ich der Siegerehrung bei. Es wurde die deutsche Nationalhymne abgespielt. Ich sang die 3. Strophe mit. Zusammen mit einer älteren Dame um die 70. Der Rest der etwa 100 Anwesenden schwieg betreten und sah uns an wie kranke Freaks.

Rolf Lindner / 13.06.2021

Ich bin strickt für gleiche Rechte, aber auch für gleiche Pflichten von Menschen und Nationen. Das Recht eines Mensch oder einer Nation Ansprüche gegen andere Menschen oder andere Nationen zu erheben, geboren aus dem Unvermögen, die eigenen Pflichten wahrzunehmen, gibt es nicht. Bis zu einem gewissen Grad mag die Ausübung von Barmherzigkeit vernünftig sein, wenn Menschen und Nationen unverschuldet in missliche Situationen geraten, jedoch nicht, wenn permanent gegen den Grundsatz der gleichen Pflichten verstoßen und dann die Hand aufgehalten wird. Ich sehe es absolut nicht ein, wen auch immer, der nicht Willens ist, Frieden zu halten, seine zu vielen Kinder zu ernähren, Kriminalität und Korruption zu unterdrücken, mit meinem Geld und mit der Verunsicherung meiner Lebensverhältnisse zu belohnen.

Wilfried Cremer / 13.06.2021

Hallo Herr Mohr, wer seine deutsche Nationalität ablegt, entsorgt auch scheinbar seine nationale Schande. Die linke Nationalverleugnung ist in Wirklichkeit ein feiges Sich-Verpissen.

Sabine Lotus / 13.06.2021

Was mir in den aktuellen Texten immer noch einen Zentimeter zu kurz springt, ist die Durchsicht der ‘Zeitgeistpolitik’. Jetzt klatschen wir für Dänemark (gut besetztes Onkel Klaus Kabinett) und seine ‘Flüchtlingsräson’. Gestern ein heiliges Tränchen, beim von Macron angeleierten Staatsbegräbnis des Lehrers. Zwei Tage davor schielten wir verliebt nach Felix Austria und wünschten uns einen Kurz(witz). Was dabei immer wieder untergeht: All diese Aktionen sind Schlafsand. Ein heiapopeia für den Zeitgeist und der ist in jeder Nation ein wenig anders. Und während alles gebannt auf die grosse Geste glotzt, trifft sich der Rest in Davos und verteilt die Reste. Die Klaus Club Polities erzählen dem jeweiligen Volk immer, was es (überwiegend) hören will. Und was es nicht hören will, wird nicht kommuniziert, sondern einfach gemacht und dann totgeschwurbelt und diskussionverhindert. Immer.

Paul Siemons / 13.06.2021

Zwei Anmerkungen: 30 Prozent südländische Erscheinungen sind weiterhin viel zu viel. Und: Baerbock will Zuwanderung weiter beschleunigen. Sowohl Dänemark, als auch Deutschland werden dem Untergang so nicht entkommen.

Rainer Niersberger / 13.06.2021

Richtig, aber die “rechten Reflexe” sind hier das deutlich geringere Problem. Sie werden offenbar reflex haft! genannt, um das psychologisch aufschlussreiche Selbstgebot zu bedienen. Ich bezweifle ernsthaft, dass in den anderen (genannten und ungenannten) Nationen aehnliche Reflexe nach rechts herrschen. Solange auch ” kritische” Geister nicht bon nationalen Interessen sprechen koennen, ohne unmittelbar zu betonen, dass sie aber   “nicht rechts stuenden” oder gar mit der AfD sympathisierten, wird das nichts. Aber diese, etwas tieferen, Zusammenhänge, die einen entscheidenden Unterschied zu allen uebrigen “normalen” Nationen darstellen, erschließen sich nicht sofort.  Bereits bei Sportuebertragungen und dem Auftreten von Landsleuten kann man diese Unterschiede zwischen “normal” und psychisch “blockiert” erahnen. In jeder “normalen” Demokratie umfasst das Spektrum neben den Kommunisten (die haben und wollen wir offenbar auch) durchaus auch bis nach rechts, wobei der ” Unterschied” zwischen Kommunismus und linksextrem schon interessant waere. Bekanntlich reicht bei uns bereits nationalkonservativ, um rechts zu stehen.  In normalen Laendern betreten selbst “linke” Parteien ganz selbstverständlich nationale Interessen.  Sehr bezeichnend ist, dass man hierzulande schon darueber erstaunt ist. Es nuetzt nichts, das Problem mit dem “Nationalen” immer wieder festzustellen, um dann in concerto pflichtschuldigst davor zurueckzuschrecken, wenn es zum Schwur kommt, wegen der zuverlässig kommenden Stigmatas von links.  Warum funktioniert das zuverlässig nur hierzulande?  Fangen wir doch damit an, die AfD als “normale” Partei zu behandeln, zumindest solange, wie die CDU braucht, zu ihren Wurzeln zurueck zukommen. Uebrigens treten bei der EM Nationalmannschaften und eine “Mannschaft” an. Und nun? Allerdings sollte man sich im allerersten Schritt vom aktuellen Regime verabschieden. Sonst wird das ohnehin nichts.

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