Am 20. Juli, unmittelbar vor ihrem Sommerurlaub, hielt Angela Merkel ihre schon gewohnte Sommerpressekonferenz ab. Sie sah müde aus und beantwortete alle Fragen so bedächtig wie glanzlos, aber ohne einen einzigen kommunikativen Fehler. Der Informationswert ihrer Aussagen streifte die Grenze null, der Skandalwert aber auch.
Weder zu Donald Trump noch zu Horst Seehofer ließ sie sich ein Wort der persönlichen Kritik entlocken. Die konkreteste Aussage war, dass sie nie an Rücktritt gedacht habe. Wer sie agieren sah, der wusste: Nur ein konstruktives Misstrauensvotum im Deutschen Bundestag kann Angela Merkel vor der regulären Wahl 2021 aus dem Kanzleramt vertreiben.
Ihr Urlaubsziel ließ sich die Kanzlerin nicht entlocken. Sie sagte nur, dass sie sich darauf freue, mal einige Tage auszuschlafen. Mir persönlich wäre es eigentlich lieber, und im Sinne Deutschlands wäre es auch besser, wenn die Kanzlerin ihr Leben so ausrichten würde, dass sie ihren Dienst am Vaterland jeden Morgen ausgeschlafen beginnt. Schließlich ist wissenschaftlich ausreichend erforscht, dass Mangel an Schlaf nicht nur die Reizbarkeit erhöht, sondern auch die kognitive Leistungsfähigkeit beeinträchtigt und Fehlentscheidungen zur Folge habe kann. Die Politiker, denen ich persönlich vertraue, können ruhig ein bisschen faul sein. Aber ausgeruht und ausgeschlafen sollten sie immer dann sein, wenn es wichtig wird.
Schlaf gut, Angela!
Wenn die Kanzlerin im Urlaub auf Deutschlands Oberfläche schaut, kann sie eigentlich ruhig schlafen: Seit Ostern herrschen im ganzen Land Wärme und Sonnenschein wie sonst nur im Sommer an der italienischen Adria. Die Wirtschaft wächst seit Jahren stetig, der Export brummt, die Staatskasse quillt über, und die sowieso schon niedrige Arbeitslosigkeit sinkt ständig weiter.
Überall im Land drehen sich die Windräder, die Solarpaneele glühen. Der Nuklearausstieg rückt näher, und der Kohleausstieg ist auf gutem Weg. Die Renten steigen, die Arbeitnehmereinkommen auch. Der Pflegenotstand wird energisch bekämpft.
Der ganzen Welt zeigt das ehemals so kriegerische Deutschland seine Friedfertigkeit, indem nur ein U-Boot, 20 Jagdflugzeuge und 50 Kampfpanzer einsatzfähig sind. In diesem Zustand hätte die preußische Armee 1864 noch nicht einmal Dänemark besiegt, und die Gründung des Deutschen Reiches wäre 1871 ausgefallen. Sorgfältig hütet Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen das Geheimnis, wie man jährlich 35 Mrd. Euro ausgeben und so wenig Kampfkraft bekommen kann.
Dass Deutschland schon in der Vorrunde der Fußballweltmeisterschaft ausschied, war nur oberflächlich enttäuschend, eigentlich aber ein versteckter Segen: Das vielfältig gebeutelte und in seinem Stolz gekränkte Frankreich brauchte den Weltmeisterschaftstitel zur Hebung seines Selbstbewusstseins viel dringender, und der zweite Platz für Kroatien zeigt, dass auch kleine Länder eine Chance haben.
Die AfD holt auf
Mehr und mehr Menschen in Deutschland wollen sich allerdings mit dem Blick auf die schöne Oberfläche nicht mehr begnügen. Der wachsende Missmut zeigt sich im stetigen Erstarken der AfD. Im Bund liegt sie mittlerweile in manchen Umfragen gleichauf mit der SPD, in einigen Bundesländern ist sie die zweitstärkste Partei.
Die Schwäche der SPD lässt auch CDU und CSU nicht unberührt: Im Deutschlandtrend der ARD vom 2. August haben die Union mit 29 Prozent und die SPD mit 18 Prozent zusammen keine Mehrheit mehr. Dabei erhält die SPD von der Union jeden nur denkbaren Raum zur Umsetzung ihrer Programmwünsche:
In der Rentenversicherung werden die Leistungen für Mütter und Frührentner verbessert. Die Lösung der demografischen Probleme wird der Zukunft überlassen. Am Arbeitsmarkt wird die Zeitarbeit weiter beschränkt, der Mindestlohn erhöht und der sogenannte zweite Arbeitsmarkt mit Lohnsubventionen ausgebaut. Trotz der Hochkonjunktur und der vollen staatlichen Kassen wird auf die Rückgabe heimlicher Steuererhöhungen und die Begrenzung der Sozialbeiträge weitgehend verzichtet.
In der Verteidigungspolitik verhallt Trumps ultimativer Ruf nach höheren Militärausgaben weitgehend ungehört. Deutschland wird noch viele Jahre brauchen, bis es das der NATO zugesagte Ausgabenziel von 2 Prozent des BIP erreicht.
Im ersten Halbjahr 2018 gab es in Deutschland 93.000 Anträge auf Asyl, im ganzen Jahr werden es 200.000 sein. Hinzu kommt der Familiennachzug. für den es gegenwärtig keine belastbaren Zahlen gibt. Auch 2018 wandern also nach Deutschland zwei ausgewachsene Großstädte zu, zumeist schlecht ausgebildete Menschen muslimischen Glaubens.
Keine vernünftige Debatte möglich
Dieses Thema bewegt die Menschen weiter, und das ganze Land leidet darunter, dass eine vernünftige Debatte dessen, was man möchte, und dessen, was man verhindern will, offenbar unmöglich ist: Dazu zwei Beispiele:
Mesut Özil, in Deutschland in der dritten Generation türkischer Einwanderer geboren, hat als Spieler in der deutschen Fußballnationalmannschaft noch nie die Nationalhymne mitgesungen. Er betrachtet Erdogan als seinem Präsidenten und bezeichnet jene, die seinen öffentlichen Auftritt als deutscher Nationalspieler mit ihm kritisieren, als Rassisten. Er steht symbolisch dafür, dass die Integration der vor einem halben Jahrhundert nach Deutschland eingewanderten Türken und Araber offenbar weitaus schwieriger ist als bei Polen, Russen oder Vietnamesen.
Sami A., ein ehemaliger Leibwächter von Osama bin Laden, gilt als islamistischer Gefährder und lebt seit vielen Jahren mit Frau und Kindern von Sozialhilfe in Bochum. Als jetzt endlich seine Abschiebung in sein Herkunftsland Algerien gelang, entstand daraus ein Justizskandal, weil sich das Verwaltungsgericht in Gelsenkirchen gegen seine Abschiebung gewandt und seine Rückkehr nach Deutschland angeordnet hatte. Davor schützen uns einstweilen die Behörden in Tunesien, die gegen Sami A. ermitteln und solange seine erneute Ausreise verhindern. Einmal mehr blamiert ist Bundesinnenminister Seehofer, der sich für die Abschiebung stark gemacht hatte.
So wird die Vertrauensgrundlage des deutschen Staates weiter zerrüttet, und noch so üppige Sozialgeschenke aus der Staatskasse können dies nicht kompensieren. Ob die Kanzlerin über die Gründe dafür in ihrem Sommerurlaub nachgedacht hat?
Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche