Annette Heinisch / 08.03.2017 / 11:35 / Foto: Tomaschoff / 11 / Seite ausdrucken

Der Staat ist ein volkseigener Betrieb

Von Annette Heinisch.

In letzter Zeit habe ich zunehmend den Eindruck, dass viele nicht nur nicht wissen, was sie tun, sondern auch nicht wissen, worüber sie reden. Nehmen wir den viel strapazierten Ausdruck „Demokratie“, der zum Synonym für das Gute schlechthin mutiert ist. Gerade sagte unser Noch-Bundespräsident Gauck, unsere Demokratie sei stark genug, Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland zu ertragen. Da frage ich mich doch: Was hat unsere Demokratie damit zu tun?

Abgesehen davon, dass die liberale Weimarer Republik unter anderem aufgrund des Irrglaubens an die unbesiegbare Stärke des schrankenlosen Liberalismus unterging und wir seitdem eigentlich meinten, die Lektion der „wehrhaften Demokratie“ gelernt zu haben, ist das eine Fehlinterpretation des Begriffs „Demokratie“.

Ein Staat ist eine Organisation wie andere Organisationen auch, zum Beispiel ein Betrieb. In solchen Fällen stellt sich ganz banal die Frage nach der Organisationsstruktur: Wie soll dieser Betrieb geführt werden? In einer Demokratie geht die Macht vom Volk aus, diese wird in Wahlen ausgeübt (Art. 20 Abs. 2 GG ). Der Staat ist damit sozusagen als volkseigener Betrieb organisiert. Dieser Betrieb ist konkret bei uns aufgesplittet in 16 „Unter-VEBs“, die für Teile des Produkts „Staatsdienstleistung“ zuständig sind, genannt Bundesländer (Art. 20 Abs. 1 GG). Dass in einem volkseigenen Betrieb nicht irgendwer, sondern das Staatsvolk bestimmt, drängt sich eigentlich jedem auf. Also – nun ja, fast jedem.

Gute Demokratie versus böse Diktatur

Demgegenüber wird der Staat in einer Diktatur von einem Alleinherrscher oder einer kleinen Gruppe (Oligarchie) geführt. Diese kommen entweder durch Wahlen an die Macht oder durch Erbschaft, z. B. bei Monarchien. Letztere sind sozusagen Familienbetriebe. Bei Wahlen zum (mehr oder minder) Alleinherrscher sind wir mit unserem Latein am Ende, wir wissen nicht mehr, wie wir das einordnen sollen: Gute Demokratie oder böse Diktatur?

Häufig wird als weiteres Abgrenzungskriterium Demokratie/Diktatur das Vorhandensein einer nennenswerten Opposition angesehen, die ernsthaft korrektive Wirkung entfaltet. Damit kommen wir aber auch ins Schleudern, denn konkret bei uns wird die Macht durch Parteien ausgeübt, also einer sehr kleinen Gruppe von Menschen. Diese haben die Macht nicht nur unter sich aufgeteilt, sondern alle Schaltstellen der Macht besetzt, den Staat „unterwandert“. Der nahezu fliegende Wechsel von Koalitionen (großen und kleinen) und das weitgehend einheitliche Meinungsbild der Parteien lässt die Grenzen zwischen Regierung und Opposition verschwimmen. Wenn aber kleine Gruppen, wie bei uns die Parteien, weitgehend allein die Macht ausüben, dann handelt es sich eigentlich um eine Oligarchie.

Ganz grundsätzlich ist die Demokratie jedenfalls nur eine Organisationsstruktur, mehr nicht. Man sollte sie weder überhöhen noch überfrachten. Nach der Wiedervereinigung wurde die Demokratie zum Heiligtum erklärt, sie schien die Verheißung des Westens schlechthin zu sein. Unterdrückung und Armut in kommunistischen/sozialistischen Systemen, dagegen Freiheit und Wohlstand in Demokratien, so die Vorstellung. Die aber ist eine unzulässige Simplifizierung. Es gibt Armut auch in Demokratien und umgekehrt Wohlstand in „Familienbetrieben“ wie Dubai oder Abu Dhabi.

Grenzen müssen sein

Staaten gleich welcher Organisationsform sind für ihren „Laden“ zuständig, inhaltlich und räumlich. So wie ich als Privatperson selber entscheiden kann, wer auf mein (eingezäuntes!) Grundstück darf und wer nicht, kann das ein Staat auch. Allerdings muss jeder auch die Pflichten übernehmen, es darf keine Belästigung für andere vom meinem Grundstück ausgehen, man muss Grundsteuer zahlen et cetera. So wie Staaten nicht einfach fremdes Territorium besetzen dürfen, darf ich nicht einfach das Grundstück meines Nachbarn für mich beanspruchen; was bei den Bürgern verbotene Eigenmacht darstellt, müssen Staaten genauso unterlassen. Daher sind Grenzen durchaus wichtig, sie sind sogar unerlässlich, um die jeweiligen Rechte und Pflichten feststellen zu können. Das alles ist im Kleinen nicht anders als im Großen, nur im Kleinen leichter durchschaubar.

Grundsätzlich ist Demokratie auch kein Synonym für Menschenrechte, diese sind völlig unabhängig davon „erfunden“ worden. Sie dienen dem Schutz des Einzelnen, denn dieser ist der Macht des Staates immer schutzlos ausgeliefert. Jeder Staat, egal wie er organisiert ist, hat die Staatsgewalt und damit die Mittel, den einzelnen Bürger zu inhaftieren, zu foltern oder zu töten. Der Einzelne kann dagegen gar nichts machen. Das gilt auch in Demokratien: So unfreundlich es klingt, in einer Demokratie unterdrückt die Mehrheit die Minderheit. Das ist schön für die Mehrheit. Dass es für die Minderheit unangenehm ist, ist die Kehrseite der Medaille.

Um die Unterdrückung durch jede Form der Staatsgewalt zu begrenzen, dienen die Menschenrechte als Korrektiv. Sie sind das „Stopp“-Schild, sagen dem Staat, dass es Grenzen gibt, die er nicht überschreiten darf und sollen somit einen Kernbereich des Individuums vor staatlichen Eingriffen schützen. Es ist die rechtsstaatliche Bindung aller staatlichen Gewalt gem. Art. 20 Abs. 3 GG, die den Staat verpflichtet, diese Mindeststandards einzuhalten, nicht die Demokratie.

Unter Rechtsstaat scheinen aber viele nur das Vorhandensein von Gerichten zu verstehen. Das aber hat mit einem Rechtsstaat nichts zu tun, in jeder noch so furchtbaren Diktatur gibt es Gerichte, die sich mit Verkehrsunfällen, Mietstreitigkeiten, Diebstählen oder ähnlichem befassen.

Drei Arten von Grundrechten

Das Rechtsstaatsprinzip bedeutet etwas anderes, nämlich dass der Staat dieselben Regeln beachten muss wie Otto Normalbürger, der Staat also auf Augenhöhe zusammenschrumpft und auch inhaltliche Schranken der Machtausübung setzt. Der Einzelne geht in einer Demokratie unter, sein Schutz sind letztlich nur seine Grundrechte und das Rechtsstaatsprinzip.

Dabei gibt es drei Arten von Grundrechten: Die allgemeinen Menschenrechte, die allen zustehen; Grundrechte, auf die sich nur Deutsche berufen können, und es gibt ein Grundrecht, auf das sich praktisch kein Deutscher berufen kann, nämlich das Asylgrundrecht gem. Art. 16a GG.

Oberster Maßstab in Deutschland ist die unantastbare Würde eines jeden Menschen, wie sie in Art. 1 Abs. 1 GG festgelegt ist. Im nächsten Absatz desselben Artikels bekennt sich das deutsche Volk zu den Menschenrechten, die dann nachfolgend geregelt werden: Die Grundfreiheiten, wie die generelle freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Religions- und Meinungsfreiheit (Art. 2, 4, 5 GG) sowie der Gleichheitsgrundsatz sind allgemeine Menschenrechte, die allen zustehen. Demgegenüber gibt es Grundrechte, die nur Deutschen zustehen, z. B. Art. 8 (Versammlungsfreiheit), 9 Abs. 1 (Koalitionsfreiheit), 11 (Freizügigkeit), 12 Abs. 1 (Berufsfreiheit), 16 (Ausbürgerung), 20 Abs. 4 (Widerstandsrecht und 33 Abs. 1 bis 3 (öff. Ämter) GG.

Um es einmal ganz deutlich zu sagen: Das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gilt nach unserem Grundgesetz nicht für Türken. Hier sieht man übrigens die Problematik, welche die doppelte Staatsbürgerschaft nach sich ziehen kann. Diese Probleme gibt es nicht, wenn alle nach denselben Regeln spielen, so kam bisher kein europäischer Nachbar auf den Gedanken, bei uns Wahlkampf zu machen. Wenn aber zum Beispiel die deutsche Staatsbürgerschaft ausgenutzt wird, um türkische Versammlungen zu türkischer Politik mit türkischen Politikern durchzuführen, so wird mit Hilfe der deutschen Staatsbürgerschaft das Grundgesetz im Interesse eines ausländischen Staates unterlaufen.

Zum Guten wie zum Schlechten

Der eigentliche Punkt aber ist: Jeder Staat hat die Staatsgewalt und damit Macht über die Bürger, wie immer er organisiert ist. Die Ausübung der Staatsgewalt ist das Kernelement alles Staatlichen schlechthin! Das kann zum Guten wie zum Schlechten gleichermaßen sein.

Demgegenüber werden die Rechte des Einzelnen, auch die Meinungsfreiheit, nicht durch die Demokratie als solche gewährleistet, sondern durch die Rechtsstaatlichkeit, wenn und soweit diese auch eingehalten wird. Deshalb sind die Rechtsbrüche durch die Regierenden so verheerend, sie untergraben ganz grundlegend dieses den Bürger schützende Prinzip, das elementar für den Einzelnen ist.

Wann kann man sagen, dass es keinen Rechtsstaat mehr gibt? Erst wenn er per Gesetz oder Dekret abgeschafft wurde? Wohl kaum, wer wäre so dumm, das zu tun? Reicht dann schon ein Verstoß oder wie viele müssen es ein? Ist das wie mit Ehebruch, einmal ist einmal zu viel? Gute Frage, die zu stellen eigentlich schon heißt, dass da irgend etwas ziemlich schief gelaufen ist.

Jedenfalls handelt sich bei Demokratie und Rechtsstaatlichkeit um einen ausgeklügelten Versuch, das System wechselseitig so auszubalancieren, dass die Macht begrenzt wird, wobei weniger die Demokratie als vielmehr der Rechtsstaat als Schutzwall des Einzelnen dient.

Diese Verzahnung der einzelnen Elemente der „checks and balances“ mit Kontrolle der Regierung durch die Opposition, zeitliche Begrenzung der Macht und das Wesen des Rechtsstaates wird offenbar nur noch von wenigen verstanden, leider auch von Regierenden nicht. Daher kommen dann oftmals konfuse und nebulöse Diskussionen über „Demokratie“ zustande.

Direkte Demokratie ist auch keine Lösung

Nun hat sich herausgestellt, dass die gewünschte Balance durch die derzeitigen Strukturen nicht gewährleistet wird. Die Macht wird zwischen den Parteien durchgereicht, da ist nichts mit ernsthafter Kontrolle. Die Grundrechte sind so „weich“ ausgestaltet und ihre Kontrolle durch die (politisch bestimmten) Verfassungsrichter so schwach, dass das System als solches nicht gut funktioniert.

Daher werden immer öfter Rufe nach direkter Demokratie laut, was meiner Meinung nach unklug ist. Wer meint, dass mit mehr direkter Demokratie mehr Selbstbestimmung verbunden ist, täuscht sich. Man sieht zum Beispiel an der Entwicklung in der Türkei, dass viele Menschen durchaus Herrscher wünschen, die sehr viel Machtfülle haben. Sie geben gerne selbstbestimmt ihre Selbstbestimmung auf, um in einer überschaubaren Ordnung und mit möglichst viel Wohlstand zu leben. Ob sich alle über die Konsequenzen einer solchen demokratischen (!) Entscheidung ernsthaft im Klaren sind, wage ich zu bezweifeln. Gerade in diesem Fall ist die deutsche Vergangenheit, die so oft zu Unrecht bemüht wird, durchaus lehrreich.

Wir haben aus der Geschichte nicht die Lehre gezogen, dass auch demokratische Entscheidungen verheerende Folgen haben können, sondern dass Führung generell böse sei. Die Deutschen waren ja nicht böse, sie wurden lediglich verführt – wie praktisch! So mutierten wir zu einer Konsensgesellschaft, in der wir uns zwangsweise immer alle lieb haben müssen und keiner etwas entscheiden mag oder gar Verantwortung übernehmen will.

Zudem haben wir ein politisches System installiert, dass eine Führung erschwert, weil es starr auf Stabilität ausgelegt ist. Echte Führungspersönlichkeiten meiden daher die Politik, denn konstruktiv arbeiten kann man so nicht. Damit aber kommen wir in Zeiten, die eine schnelle Anpassung an sich rasant ändernde Umfeldbedingungen erforderlich machen oder eine zunehmenden Entfremdung vieler Bürger von diesem System festzustellen ist, in gefährliches Fahrwasser.

Darauf hat Roman Herzog bereits 1997 in seiner berühmter Ruck-Rede hingewiesen. Essentiell gebessert hat sich nichts, im Gegenteil. Alles verharrt in der Lähmung bestehender Strukturen, nur dass selbst diese nicht einmal mehr verstanden werden. 

Die Autorin ist Rechtsanwältin in Uelzen

Foto: Tomaschoff

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Wilfried Cremer / 08.03.2017

In puncto (Direkte) Demokratie verbietet sich der Vergleich Deutschland (oder andere westliche Länder) - Türkei (oder andere islamische Länder). Wo den Menschen von klein auf eingetrichtert wird, Feinde seien zu verfolgen (bzw. zu hassen), kann sich keine Streitkultur und damit auch keine echte Demokratie entwickeln. Wer die Beispiele dazu nicht mit Händen greifen kann, dem ist nicht zu helfen. Ausnahmen bestätigen die Regel, auch wenn sie das größte Verbrechen aller Zeiten oder die zweitgrößte Katastrophe nach der Sintflut sind.

Jürgen Döring / 08.03.2017

Ich darf an Voltaire erinnern: ” Toleranz ist die letzte Tugend untergehender Gesellschaften”. Dem ist nichts hinzuzufügen.

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