Ein 65. Geburtstag ist immer etwas Besonderes. Früher wurden wohlverdiente Pensionäre in großer Runde in den Ruhestand verabschiedet, wobei der stets aufopferungsvolle Einsatz für das Gemeinwesen, die Firma und die Familie von den Festrednern hervorgehoben wurde, nebst zahlreicher heldenhafter Anekdoten. Teilnehmer der Veranstaltung durften sich auf einen langen Abend gefasst machen. Elogen, Büttenreden, Gedichte und Diashows reihten sich aneinander, im Unterhaltungswert einer Kappensitzung des Mainzer-Karnevals nicht unähnlich und in der zeitlichen Ausdehnung einer Rede Fidel Castros zur Ehre gereichend.
In Corona-Zeiten fallen diese humanen Formen der Entsorgung aus dem Kreise der Dabeiseienden leider flach. Aktuell handelt sich bei einem 65. Geburtstag um die offizielle Aufnahme in jenen Statistikbereich, der sich Risikogruppe nennt. Das gilt zumindest für die männlichen Betroffenen sowohl in medizinischer als auch in gesellschaftlicher Hinsicht, denn ab sofort bleibt nur noch eine Karriere als alter weißer Mann, der zu allem fähig ist, wenn ihn nicht rechtzeitig das Virus unschädlich macht. Der Wunsch, alte weiße Männer mögen endlich abtreten, und die gleichzeitige Forderung, vulnerable Gruppen zu schützen, scheinen mir nicht ganz durchdacht.
Hier soll allerdings nicht von einem alten weißen Mann, sondern von einem schwarzen Mann die Rede sein. Wobei ich nicht ganz sicher bin, ob es sich um einen Mann, eine Frau oder irgendwas dazwischen handelt. Ich weiß nur, dass das Geburtstagskind überwiegend schwarz ist. Und in diesem Jahr seinen 65. Geburtstag feiert. Ich kenne es schon lange aus meiner Zeit als junger weißer Mann, da habe ich mich ziemlich spontan verliebt, und diese Zuneigung besteht bis zum heutigen Tage. Hiermit zünde ich zur Feier des Tages acht Kerzen an. Was es mit dieser Zahl auf sich hat, wird Ihnen bald dämmern. Der Jubilar ist von guter Gesundheit, hat keine Vorerkrankungen, rastet und rostet nicht. Sein Lungenvolumen entspricht dem einer Herde tansanischer Elefanten und reicht für eine Besteigung des Kilimandscharo. Wenn er einmal durchatmet, wickelt sich dem Doktor das Stethoskop um den Hals.
„You wanna ask around, then you can ask my jeweler“
Kennengelernt haben wir uns 1979. Schuld hatte die Ampel. Sie stand an einer Kreuzung im schweizerischen Aarburg und zeigte beharrlich auf rot. Es war ein verregneter Apriltag. Durch die feucht beschlagene Seitenscheibe fiel mein Blick auf eine Fläche mit angejahrten Gebrauchtwagen, die auf risikofreudige Käufer warteten. Da entdeckte ich ihn. Groß und schwarz und ein wenig bedrohlich stand er in der letzten Reihe. Mit Chromschmuck schwer behängt, wie ein amerikanischer Rapper, getreu dem ewig schönen Motto: „They say they hate the kid, the kid was gettin' mula / You wanna ask around, then you can ask my jeweler”. Der Cadillac Fleetwood, Baujahr 1956, stand auf halbplatten Reifen da, als habe ihn eine Bande durchreisender Mafiosi auf der Flucht zurückgelassen und gegen etwas Unauffälligeres eingetauscht.
Der Geschäftsführer des Gebrauchtwagen-Etablissements hielt das Ding ganz offensichtlich für einen versoffenen Pflegefall, den er möglichst schnell loswerden wollte. Und mich für einen Irren, was für eine gewisse Menschenkenntnis sprach. Jedenfalls wechselte sehr viel eigenwillig geformtes Blech zum aktuellen Preis eines gehobenen Fahrrads den Besitzer. Für eine komplette Kollektion Freudscher Symbole fand ich das ausgesprochen fair.
Womit wir bei der Geschlechterfrage sind. Die raketenartigen Hörner in der vorderen Stoßstange können gleichermaßen als männliches und weibliches Fruchtbarkeitssymbol durchgehen. Die Amerikaner haben sie seinerzeit „Dagmars“ getauft, nach einer gleichnamigen Fernsehblondine in den 50er Jahren. Stellen Sie sich einfach die Venus von Willendorf vor, allerdings so groß wie ein Schulbus, dann sehen sie das Design im Wesentlichen vor Augen.
Ein bisschen „Christine“ aus dem gleichnamigen Horrorfilm nach dem Buch von Steven King (1983) steckt auch noch drin. Das Buch handelt von der diabolischen Liebe eines verrosteten Plymouth alias Christine zu einem jungen Mann, was zu einer gewissen Radikalisierung des Plymouth führt. Christine bettet die dem Angebeteten feindlich gesinnte Menschenbrut reihenweise unter den Asphalt und flambiert nebenbei noch eine Tankstelle. Außerdem hat Christine die tückische Eigenschaft wiederaufzuerstehen, selbst nach dem Besuch eines Schredders bügelt sich ihr Kleid wieder glatt und sie schreitet zu neuen Missetaten. Meine Christine ist erheblich friedlicher als die im Film, gute Manieren und die mir angeborene Ethik der Gewaltlosigkeit färben bedauerlicherweise aufs Blech ab und nicht umgekehrt.
Wir planen jetzt den Besuch auf einer Gender-Toilette
Um Gender-Diskussionen aus dem Weg zu gehen, habe ich inzwischen beschlossen, das Geburtstagskind einfach „Es“ zu nennen. Zur Feier des Tages planen wir jetzt den gemeinsamen Besuch auf einer Gender-Toilette, suchen aber noch nach einer entsprechend dimensionierten Location. Dabei können wir noch ein paar andere geschlechtlich Unentschlossene mitnehmen. Sowohl auf der vorderen als auch auf der hinteren Sitzbank lässt sich der vorgeschriebene Sicherheitsabstand von 1.50 Meter mühelos einhalten, es sei denn, man sitzt jeweils zu dritt, was die ursprüngliche Idee war. Man könnte daraus auch einen mobilen Swingerclub ersatzweise ein Schnellimpfzentrum machen.
Trotz seiner 65 Jahre ist der Cadillac somit komplett auf der Höhe der Zeit. Bei aufkommendem Corona-Lagerkoller empfehle ich einen kleinen Ausflug in die Garage, die Weite des Dachhimmels entspricht der über der Prärie in Wyoming, selbst wenn man nur am Steuer dreht und Brummbrumm macht. Dies ist ohnehin die Zukunft des motorisierten Individualverkehrs. Und wohl auch die des alten weißen Mannes. Man kann mit dem Cadillac übrigens auch reden, für den Fall dass unser Kontaktverbot auf Null oder minus ein Mensch verschärft wird. Dies getreu einer Anekdote, die von dem Publizisten Johannes Groß überliefert ist. Auf einen Bewirtungsbeleg schrieb er als Anlass: "Selbstgespräch".
Ich bin mir angesichts der aktuellen politischen Ereignisse auch nicht sicher, ob man sich mit einem Fahrzeug gleichsam republikanischer Bauart auf offener Straße sehen lassen sollte. Ich vermute eine gewisse Kontaktschuld, weil sich in dem Modell auch der eine oder andere politische Finsterling chauffieren ließ. Den Mitmenschen steht immer der Verdacht ins Gesicht geschrieben, man habe General Robert Lee im Kofferrraum versteckt.
Andererseits hat der Cadillac auch seine grünen Seiten, ersparte er der Menscheit und vor allem mir selbst im Laufe seines langen Lebens doch die Anwesenheit von etwa zehn langweiligen Wegwerfautos. Das nennt man Nachhaltigkeit und ein Musterbeispiel für Ressourcenschonung. Mit Platz für sechs Personen, entsprechend 12 Heiko Maas, taugt er im übrigen auch als öffentliches Verkehrsmittel, zumal man im Gepäckabteil weitere Kabinettsmitglieder betten kann.
Sein Lebendgewicht beträgt laut Fahrzeugschein 2.250 Kilo und liegt damit ziemlich genau auf dem Niveau eines zukunftsweisenden Tesla-S Elektroflitzers und deutlich unter dem eines elektrischen Mercedes EQC. Ob die in 65 Jahren auch noch ihre Kreise drehen? Ich fürchte, die sind bis dahin so fahrtüchtig wie eine Floppy Disk aus meinem ersten Computer. So aussehen tun sie ja schon heute.
Happy Birthday, liebes Es, deine acht Zündkerzen mögen uns viele weitere Jahre heimleuchten! Als alter weißer Mann und altes schwarzes Es sind wir unschlagbar.
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