Thilo Sarrazin / 21.09.2018 / 06:05 / Foto: Achgut.com / 54 / Seite ausdrucken

Der Sommer unseres Missvergnügens

Der zweitheißeste Sommer in Deutschland seit Beginn der Wetteraufzeichnungen neigt sich seinem Ende zu. Dürre Felder und abgemagerte Kühe beherrschten die Fernsehbildschirme. Das Sommerloch wurde mit Spekulationen darüber gefüllt, wie die deutschen Bauern für ihre Ernteausfälle entschädigt werden könnten. Die Bundesregierung zeigte sich großzügig, 50 Prozent der dürrebedingten Ausfälle wurden den Bauern ersetzt. 

Aber auch um Mütter und Rentner kümmerte sich die fürsorgliche Bundesregierung unmittelbar nach der Sommerpause: Müttern mit Kindern, die vor 1992 geboren wurden, werden mehr Erziehungszeiten angerechnet. Die Abschläge bei Frührentnern werden verringert, und alle Rentner erhalten bis 2025 die Garantie, dass das Rentenniveau nicht sinkt. Was dazu in der Kasse der Rentenversicherung fehlt, wird aus dem Staatssäckel zugeschossen.

Werbewirksam forderte die SPD, die Rentengarantie gleich bis 2040 zu verlängern. Sie konnte so ihr Profil als Partei der sozialen Gerechtigkeit schärfen. Dagegen konnte die Union zeigen, wie sorgsam sie an künftige Steuerzahler denkt, indem sie eine Garantie über das Jahr 2025 hinaus ablehnte. 

Lauter gute Nachrichten

In diese Debatten platzten weitere gute Nachrichten: Der deutsche Leistungsbilanzüberschuss ist höher ist denn je, die öffentlichen Haushalte erzielen gegenwärtig Rekordüberschüsse, und die saisonbereinigte Arbeitslosigkeit ging in den Sommermonaten weiter zurück.

Nur von Steuersenkungen sprach niemand. Der Solidarzuschlag – 1993 eingeführt zur Finanzierung der deutschen Einheit – wird wohl ewig bleiben. Bei all dem Geldsegen fallen auch die finanziellen Lasten für die Flüchtlinge und Armutsmigranten kaum auf. Nur Pfennigfuchser interessieren sich dafür, ob die jährliche Summe dieser Lasten gegenwärtig bei 40 oder 60 Mrd. Euro liegt und wie sie in Zukunft weiter steigen wird. Und niemanden scheinen die großen demografischen Verschiebungen aufgrund der Geburtenarmut der letzten Jahrzehnte zu interessieren, die ab 2025 die Rentenkassen mehr und mehr belasten.

Scheinbar mit Erfolg hatte man eine spätsommerliche Agenda mit lauter finanziellen Wohltaten fern von den leidigen Flüchtlings- und Migrationsfragen gesetzt. Das schien ein guter Einstieg in die heiße Phase der Landtagswahlkämpfe in Bayern und Hessen zu sein. 

Aber die Messerattacke auf dem Stadtfest in Chemnitz am 26. August änderte alles. Ein Mann starb, zwei wurden schwer verletzt, und die Herkunft der beiden Tatverdächtigen – ein Syrer und ein Iraker – führte zu einer Ereigniskette, in der nach kurzer Zeit nicht mehr von den Fehlern der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik, sondern nur noch von Rechtsradikalen und Neonazis in Sachsen die Rede war.

Merkels Sprecher setzt den Ton

Regierungssprecher Seibert goss Öl ins Feuer, indem er regierungsamtlich von "Hetzjagden auf Menschen anderen Aussehens, anderer Herkunft" sprach. Diese Diktion wurde von Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Steinmeier aufgenommen, sie beherrschte tagelang die Medien. Das ungeliebte Thema der Folgen einer nicht durchdachten Willkommenskultur und falschen Einwanderungspolitik wurde in der allgemeinen Empörung um ein paar grölende rechtsradikale Demonstranten in der Provinz erneut glücklich umschifft. Als Folge fühlen sich viele Chemnitzer und Sachsen unverstanden, gekränkt und entfremdet. Bundesweit gewann die AfD in allen Umfragen nochmals einen Prozentpunkt dazu. 

Dann kam der Gegenschlag: Bundesinnenminister Horst Seehofer verschob den Focus der Debatte erneut in Richtung Einwanderung, indem er in einer CSU-Klausur die Migration "die Mutter alle politischen Probleme" nannte. Der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer widersprach in seiner Regierungserklärung zu Chemnitz der Kanzlerin und sagte: "Klar ist: Es gab keinen Mob, keine Hetzjagd und keine Pogrome."

Dieser Einschätzung trat auch der Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen bei. Er äußerte in einem Interview die Vermutung, "dass es sich um eine gezielte Falschinformation handelt, um möglicherweise die Öffentlichkeit von dem Mord in Chemnitz abzulenken." Damit war die politische Jagd auf ihn eröffnet.

Zwischen den Fronten

Schon seit längerer Zeit hatte sich Maaßen bei Bundeskanzlerin Merkel und allen Freunden der Willkommenskultur unbeliebt gemacht, indem er die Folgen der Flüchtlingspolitik für die innere Sicherheit recht offen ansprach. Maaßens Amt untersteht dem Bundesinnenministerium. Durch seine Äußerung wurde er jetzt zu einer Schachfigur im weiteren Machtkampf zwischen Merkel und Seehofer.

Mit den Chemnitzer Ereignissen und der Folgedebatte ist jedenfalls der Versuch von CDU, CSU und SPD gescheitert, das Einwanderungsthema aus den Landtagswahlkämpfen in Bayern und Hessen herauszuhalten. Es dominiert stärker denn je. Wo Gefahren drohen, gibt es bekanntlich unterschiedliche Wege, damit umzugehen: 

Man kann sie korrekt beschreiben, ihre Ursachen ergründen, Gegenmaßnahmen umfassend prüfen und sie beherzt mit langem Atem in die Wege leiten. So verfahren nicht nur kluge Privatleute und weitsichtige Unternehmen, so verfährt auch erfolgreiche Politik.

Man kann Gefahren aber auch bis zur Leugnung verniedlichen und ihre offene Debatte möglichst verhindern. Bei Unternehmen führt das schnell in die Insolvenz. Anders in der Politik: Dort ist die Leugnung von Gefahren und die Verschiebung von Debatten auf ein anderes Gleis häufig ein erfolgreiches Geschäftsmodell für Klientelpolitik und Sicherung des Machterhalts. 

Das ist leider seit 2005 zum überwiegenden Weg deutscher Politik geworden. Erleichtert wird dies durch den anhaltenden Wirtschaftsboom und die vollen öffentlichen Kassen. Man darf neugierig sein, wie lange der Wähler dies noch honoriert.

Zuerst erschienen in der Zürcher Weltwoche

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Sepp Kneip / 21.09.2018

Ja, Herr Sarrazin, der Bürger ist in eine Art Wohlfühlblase gesteckt worden. Was außerhalb dieser Blase passiert, interessiert ihn nicht. Leider, denn was da passiert, wird die Blase irgend wann platzen lassen. Sie selbst waren bei der Bundesbank, die ja Teil der EZB ist. Die Wohlfühlblase konnte nur deshalb so lange aufrecht erhalten werden, weil Draghi sie mit frisch gedrucktem Geld aufpumpte.  “Man darf neugierig sein, wie lange der Wähler dies noch honoriert.” Er wird die Gefahren so lange ignorieren, bis sie ihn unmittelbar anspringen. Gegen diesen Wohlfühl-Mainstream können Rufer in der Wüste, wie auch Sie, wenig ausrichten. Sie werden ausgegrenzt und stigmatisiert. Und warum? Weil die meisten Leute einfach nicht mehr denken, sondern sich nur noch mit dem Mainstream treiben lassen und sich unter dem weiten Mantel von Mutti geborgen fühlen.

Frank Box / 21.09.2018

“Erleichtert wird dies durch den anhaltenden Wirtschaftsboom und die vollen öffentlichen Kassen. Man darf neugierig sein, wie lange der Wähler dies noch honoriert” - Die Antwort ist einfach. Sie kommt aus den USA und lautet: “It´s the economy, stupid!” - Solange sich der (doofe :-) deutsche Michel seine Mindeststandards (noch) leisten kann, sieht er keinen Grund sein (Wahl-) Verhalten zu ändern. Man ist ja anpassungsfähig: Unsichere Gegenden werden nach Einbruch der Dunkelheit gemieden. Heutzutage gefährliche Freizeitaktivitäten, wie z.B. Schwimmbadbesuche, werden zunehmend ins Private verlagert. (Ich kenne da z.B. einen Schwimbadbauer, der sagt, er kann sich vor Aufträgen kaum retten) Feiern organisiert man entweder im eigenen Garten, oder man mietet einen Saal in der Gastronomie (”Überall wo Merkel-Poller stehen, gehe ich nicht mehr hin - viel zu gefährlich!”) Es ist aber immer nur eine Frage der Zeit, bis die Wirtschaft - mal wieder - abstürzt. Die Flüchtlinge müssen aber auch weiterhin versorgt werden. Also wird bei den Einheimischen die Steuer-Daumenschraube angezogen. Das treibt dann weitere Leistungsträger ins Ausland. In der Folge steigen dann noch die Arbeitslosenzahlen rapide. Die Unzufriedenheit wächst. In den Merkelmedien liest und hört man nichts davon: nur Erfolgsmeldungen! (wie zu DDR-Zeiten) Dann kippt landesweit die Stimmung - ganz plötzlich! (wie zu DDR-Zeiten)...

Frank Holdergrün / 21.09.2018

“Man kann Gefahren aber auch bis zur Leugnung verniedlichen und ihre offene Debatte möglichst verhindern.” Das neue Buch von Thilo Sarrazin (Feindliche Übernahme) fördert eine Diskussion über das zentrale Thema unserer Zeit, das die herrschenden Parteien totschweigen wollen. Dies wird nicht gelingen. Ich wünsche jedem, dass er die Chance hat, dieses außergewöhnlich gute, verständliche Buch zu lesen, kritisch nachzudenken und aufzuwachen. “Eine durch Religionen geteilte Stadt liegt entweder schon in Trümmern oder ist kurz davor.” (Giambattista Vico, italienischer Philosoph und Aufklärer)

Josef Straten / 21.09.2018

Schade, daß es keine Sarrazin-Partei gibt. Ich schätze - aufgrund meiner näheren und weiteren Bekanntschaft - 20-25 % wären drin.

Gottfried Meier / 21.09.2018

Warum ist das seit 2005 zum überwiegenden Weg deutscher Politik geworden? Weil die CDU komplett versagt und Frau Merkel nicht gestoppt hat. Die CDU hat mit der CDU vor 2005 nicht mehr viel zu tun!

Walter Neumann / 21.09.2018

Der Titel Ihres größten Bucherfolges, Herr Sarrazin, ist aktueller denn je: D schafft sich ab. In einem Punkt teile ich Ihre Hoffnung aber nicht: “Man darf neugierig sein, wie lange der Wähler dies noch honoriert.” Glauben Sie mir, er honoriert es bis zum bitteren Ende. Die Blockparteien haben immer noch gut drei Viertel der Stimmen. Hierin hat sich der Deutsche nicht geändert: Führer/in befiehl, wir folgen Dir. Wir marschieren bis Moskau, koste es was es wolle. Das heißt, die nächsten Wahlen werden nichts Entscheidendes ändern, dafür sorgen schon die Staatsmedien mit ihrer täglichen Gehirnwäsche.

Arnold Krämer / 21.09.2018

Sehr geehrter Herr Sarrazin! Sie schreiben: “Die Bundesregierung zeigte sich großzügig, 50 Prozent der dürrebedingten Ausfälle wurden den Bauern ersetzt”. Das waren bisher aber nur Absichtserklärungen. An den Richtlinien zur Vergabe wird z. Zt. gearbeitet. Schon jetzt ist abzusehen, dass das versprochene Geld bei weitem nicht ausgezahlt werden muss, weil a) der wirtschaftliche Schaden der Dürre durch aktuelle Preiserhöhungen bei vielen Agrarerzeugnissen deutlich reduziert wird, b) die Vermögens- und Einkommenslage vieler Landwirte so schlecht nicht ist, dass sie die Staatshilfen nötig hätten. Politiker versuchen, sich beliebt zu machen durch das Verteilen von Steuergeldern. Damit sollte Schluss gemacht werden. Die meisten Bauern lehnen es auch mittlerweile ab, vom Steuerzahler alimentiert zu werden. Sie wollen ihr Einkommen nicht vom Steuerzahler sondern vom Kunden, dem Verbraucher. Aktuell beziehen die Landwirte jedoch durchschnittlich rund 50 % ihres Einkommens aus den Transferzahlungen der EU, was natürlich von den Molkereien, Mühlen und Schlachtereien eingepreist wird. Da jede Regierung jedoch Interesse an billigen Lebensmitteln hat, fehlt der Mut zu einer Systemänderung.

Martin Landner / 21.09.2018

Das Erschreckende ist doch, dass es erst Randale geben muss, damit über die Morde berichtet wird. So ähnlich wie Raketen der Hamas, die erst dann interessant werden, wenn Israel sich zur Wehr setzt. Es ist absolut bösartig & die Verantwortlichen bei ARD, ZDF, Grünen & Linken machen einfach immer weiter & versuchen sogar, einen Kretschmer & Maaßen abzusägen.

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