Von Marko Martin
Die Empörung ist in der Tat gerechtfertigt, die Alarmanlagen sind nicht grundlos angeschaltet. Doch unser basses Erstaunen über die dunkle Seite des Internets, über Hass-Tweeds, Terror-Websites, Nazi- und Islamistenpropaganda via Facebook ist naiv und lächerlich. Hatte man tatsächlich geglaubt, in der Welt der sogenannten “sozialen” Netzwerke herrsche per definitionem eitel Sonnenschein und bereits das Wörtchen “sozial” garantiere ein Einander-Zugewandtsein?
Wobei Letzteres sehr wohl stattfindet, nur eben etwas anders buchstabiert: Nazis verabredeten sich per “FB” und Whatsapp zu gemeinsamen Demos gegen Ausländer, Flüchtlingsheime und legitime Bürgermeister, Islamisten streifen durch die Chaträume, um gelangweilte junge Leute für ihren massenmörderischen Dschihad zu gewinnen. Sie alle sind – wenn auch auf destruktive Weise – dabei durchaus Teil jener “Schwarm-Intelligenz”, von der uns die Nerds des Internetzeitalters permanent vorschwärmen.
Mehr noch aber sind sie die jüngste Inkarnation jener bereits 1960 von Elias Canetti in seinem Klassiker “Masse und Macht” beschriebenen “Hetzmeute”. Doch selbst in politisch respektablerem Rahmen sieht es ungut aus: So hat sich in Italien die “basisdemokratisch” internetaffine Bewegung “Fünf Sterne” längst als autoritäre Führerpartei entpuppt. In der geht nichts ohne Wort und Wille des Komikers Beppe Grillo, Alleinbesitzer des für alle “Grillini” maßgeblichen Blogs.
Während in Deutschland die Piraten, von politischen Flachdenkern bereits als Erbe der Grünen gehypt, mit ihrem geradezu pfäffischen Gehabe (Laptops und permanenter Online-Status als neuer Katechismus und selig machende Lehre) längst in der selbst verschuldeten Irrelevanz untergegangen sind.
Es stellt sich deshalb die Frage, wie marod und schläfrig ein allgemeines Bewusstsein beschaffen ist, das sich vom Eintreffen dieses schlicht Erwartbaren nun derart verdutzt zeigt. Sind es die Sirenenklänge eines erneuerten “Come together”, mit denen inzwischen selbst Nichtraucher nur Gutes und Wahres assoziieren?
Dabei ist es wohl viel banaler: Jede Generation konstruiert und folgt einem Fetisch. Die gegenwärtige Vergottung digitaler Schnelligkeit, von konservativen Kulturkritikern wieder einmal viel zu voreilig zum skandalösen Novum erklärt, ist lediglich Nachhall und neueste Spielart raumgreifender Utopien, die es schon immer gab.
Bereits die alten Mythen erzählen eher Aufbruchs- als Rückkehrgeschichten, und die kollektiven Kreuzzügler des Mittelalters waren von der Idee des Mobilen nicht weniger angefixt als die Gebildeten des 18. und 19. Jahrhunderts mit ihrer Präferenz für eine Grand Tour. Zünftige Gesellen gingen auf “Walz” genannte (Berufs-)Wanderschaft, die amerikanischen Beat-Poeten on the road.
Die feine Balance zwischen praktischer, lebensweltlicher Neugier und ideologischer Überhöhung aber ist fragil, und gerade die Ideologien des 20. Jahrhunderts zeigten die hässliche Fratze: Sowohl Kommunismus wie Nationalsozialismus und Faschismus verstanden und inszenierten sich als alles Herkömmliche verachtende Bewegungen, denen freilich die Welterfahrung des Einzelnen herzlich wenig galt.
“Vorwärts immer, rückwärts nimmer”, kreischte noch im Herbst 89 der greise Genosse Honecker. Gewiss: Der vermeintlich hyper-individuelle “User” von heute ist nicht der graue “Genosse” von damals. Auch wenn beide die Vorliebe für distanzlos übergriffiges Sofort-Duzen teilen.
Was aber, wenn beide die Illusion eint, an etwas zuvor nie da gewesenem Innovativem und Emanzipatorischem teilzuhaben, wobei sie in Wirklichkeit doch nur uraltem Hordentrieb folgen – Stamm, revolutionäres Kollektiv, Volksgemeinschaft, Flashmob, nicht zu vergessen “Zettelfalten” bei unfreien Wahlen und “Mouseklicks” bei irgendwelchen Internetabstimmungen.
In der Tat sind es altbekannte Muster: Bereits die antizionistisch “umherschweifenden Haschrebellen” genossen die Binnenwelt ihrer redselig benebelten Westberliner WG´s, Chaträume avant la lettre. Schon damals warnte der sozialliberale 68er-Kritiker Manès Sperber vor dem “Meinungssuff” der damaligen Youngster, und ein soziologischer Bestseller der Endsiebzigerjahre trug den Titel “Das Zeitalter des Narzissmus”.
Darin diagnostizierte sein Verfasser, der Amerikaner Christopher Lasch, bei seinen Zeitgenossen folgende Phänomene: “Fragwürdige Formen von Bekenntnis und Selbstenthüllung, Verdrängung des religiösen durch therapeutisches Denken, Radikalismus als Straßentheater, Kult der Authentizität, bürokratische Abhängigkeit und Narzissmus.”
Wenig Neues also unter der Sonne: Macht- und Manipulationsverhältnisse, die damals als “Interdependenz” kaschiert wurden, verstecken sich heute hinter den Vokabeln “horizontale Partizipation”, “flache Hierarchien” oder ähnlichem Wortgeklingel.
Die Hybris freilich ist die gleiche. So schrieb einer der gegenwärtigen Gurus, der amerikanische “Libertäre” John Perry Barlow, in seiner hymnisch aufgenommenen “Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace”: “Unsere Welt ist anders – überall und nirgends, und sie ist nicht dort, wo Körper leben.”
Der Abstrahierungswahn selbst ernannter Info-Eliten – autoritäre Gröfaze im endlosen Netzraum – kostet freilich ganz konkret Menschenleben. Wie viel bislang anonyme Übersetzer, Köche und Fahrer der US-Armee im Irak und Afghanistan mögen Julian Assanges selbstherrliche Wikileaks-Enthüllungen wohl bereits mit dem Leben bezahlt haben?
Und was soll ein italienischer Bürger denken, wenn er die abgeklärten Netz-Nerds um Beppe Grillo plötzlich zu furchtsamen Jasagern schrumpfen sieht, die nichts so sehr fürchten, wie von ihrem Boss “entfreundet” zu werden, zurückgestoßen in den Orkus der Nichtvernetzten?
Man muss gewiss nicht so weit gehen wie der Soziologe Alessandro Dal Lago, der angesichts all dieser beunruhigenden Phänomene bereits vor einem “elektronischen Faschismus” warnte. Man sollte nur endlich jene angestrengt hippe Technikgläubigkeit hinterfragen, die ohnehin nur das Zerrbild jener ebenso hysterischen Moderne-Phobie der vorangegangenen Ökopax-Generation ist.
Deprimierend, lächerlich, aber doch nun einmal simple Tatsache und als solche ernst zu nehmen: Noch jede Alterskohorte seit Beginn der Welt pflegt ihre je eigene Erlösungsideologie, glaubt sich ewig jung und negiert Ambivalenzen.
Darauf hinzuweisen hat nichts mit ranzigem Kulturpessimismus zu tun, eher schon mit subversiver Skepsis. Der Status des Eingeloggtseins garantiert jedenfalls keineswegs den Eintritt ins herrschaftsfrei parlierende Menschheitsparadies. Mitunter grölt und hetzt da auch nur der Nazi und Islamist von nebenan.