Wolfgang Schäuble schaut aus seinem Reichstagsbüro direkt aufs Kanzleramt. “Ich hab alles im Blick”, sagt der Bundestagspräsident gerne. An der Wand hängt ein Gemälde von Jörg Immendorff mit dem demonstrativ rosarot draufgemalten Titel: Verwegenheit stiften. Beides passt zu ihm. Das Kanzleramt im Auge und Mut im Herzen haben. Vor allem in dieser Woche.
Die CDU wählt nach 18 Jahren Angela Merkel einen neuen Vorsitzenden oder eine neue Vorsitzende, und dass der Neuanfang überhaupt möglich ist, liegt auch an Schäuble. Er hatte Anfang Oktober, noch vor den Landtagswahlen, als erster Spitzenpolitiker in der CDU Merkels Ende öffentlich thematisiert. Sie sei “nicht mehr so unbestritten”, sie habe “außergewöhnlich lange regiert”, es stünden “größere Veränderungen” bevor.
Viele in der Union haben das als Startschuss für die Entmachtung Merkels verstanden. Friedrich Merz und Angela Merkel auch. Ohne Schäubles Intervention hinter den Kulissen hätte Merkel kaum zurückgezogen und wäre Merz nicht angetreten, heißt es heute aus dem Kanzleramt. Schäuble ist schon lange der mächtigste Kontrolleur der Kanzlerin – nun gestaltet er im Hintergrund ihre Nachfolge.
Sein Wort hat in der CDU enormes Gewicht. Und alle wissen, dass Schäuble am Freitag Friedrich Merz favorisiert. Beide verbindet eine lange, vertrauensvolle Bindung. Beide haben auf dem Höhepunkt der Migrationskrise bereits über die Nachfolge Merkels beratschlagt. Über die Rückendeckung für Merz ärgert sich insbesondere Jens Spahn, ein Zögling Schäubles. Dem Gesundheitsminister bescheinigt Schäuble zwar ein großes politisches Talent, er hält ihn aber noch nicht reif genug für ganz große Ämter. Merz hat in den Augen Schäubles dagegen das Format und Potenzial, die Partei und (irgendwann auch) die Republik zu führen.
Eine persönliche, allerletzte Option
Schäuble war als Minister der Kanzlerin über alle Jahre hin loyal geblieben, obwohl er in wichtigen Fragen – von der Energiewende über die Griechenlandrettung bis zur Migrationskrise – andere Positionen hatte; nämlich die, die Merz auch hat. Beide verkörpern die Traditions-CDU und die Sehnsucht vieler Christdemokraten nach klarer Haltung und einem spürbar bürgerlichen Profil.
Wenn Schäuble sich hinter den Kulissen für Merz engagiert (und erste Stimmen ihn bereits, vielleicht zu voreilig, als “Königsmacher” titulieren), dann tut er das als Übervater seiner Partei einerseits, weil er den dramatischen Niedergang der Volksparteien stoppen will. Er öffnet sich anderseits aber auch eine persönliche, allerletzte Option, doch noch einmal ins Kanzleramt einzuziehen. Denn in den Berliner Regierungsfraktionen rechnen viele damit, dass die Bundesregierung nach der Europawahl Ende Mai auseinanderbricht.
Bei dieser Wahl droht der SPD ein nächstes Debakel, diesmal sogar bundesweit. Womöglich wird die SPD von der AfD, die mit dem Migrationspakt neue Wahlkampfmunition erhält, deklassiert. Es wäre ein historisches Fanal. “Dann werden die Sozialdemokraten, um das schiere Überleben zu sichern, die Große Koalition verlassen müssen”, hört man aus beiden Regierungsfraktionen gleichermaßen.
Was aber würde in diesem Fall passieren? Sofortige Neuwahlen sind grundgesetzlich nicht einfach zu erreichen und vom Bundespräsidenten nicht gewollt. Eine Neuauflage der Jamaika-Koalition ginge nach Aussage der FDP nur ohne Merkel. Eine Minderheitsregierung auch. In beiden Fällen würde Schäuble als der natürliche Übergangskrisenkanzler ins Spiel kommen. Er ist als angesehener Bundestagspräsident überparteilich und international respektiert. Er ist so alt, dass Jüngere in ihm keine Langfristkonkurrenz sähen – vor allem Merz nicht, der ein perfekter Finanzminister einer Übergangsregierung sein und spätestens 2021 dann als CDU-Kanzlerkandidat antreten könnte.
Der schlaue Stratege Schäuble, der den Dezemberentscheid der CDU schon Monate zuvor erdacht hat, könnte ab sofort den Juni-Entscheid der Regierung ins Auge fassen. Verwegenheit wäre jedenfalls genug gestiftet.
Dieser Beitrag erschien zuerst auf The European