Franz Beckenbauer ist tot. Der erste Superstar des deutschen Fußballs, Weltmeister als Spieler und als Trainer, zuweilen als „Lichtgestalt“ verklärt. Dank seiner heiteren Gelassenheit konnte ihm weltliche Unbill nichts anhaben. Sein Name weckt Wehmut nach einer anderen, freieren Zeit.
Ja, er war der Libero, auf dem Fußballplatz und jenseits des Stadions. Der Mann einer Zeit, in der es noch möglich war, in fast allen Lebenslagen ein Libero zu sein. Franz Beckenbauer weckt bei allen, die diese Zeit miterlebt haben und sich noch daran erinnern können, nostalgische Sehnsüchte nach dem Damals, als Freiheit noch selbstverständlich schien.
Der liebe Gott freut sich über jedes Kind. Dieser zutiefst christliche und zutiefst freiheitliche Satz soll zunächst einmal für „Franzls“ Libero-Aktivitäten jenseits des Spielfeldes stehen. Denn gut sah er aus, ohne zum Friseur nach Paris zu jetten, wie es unter heutigen Fußball-Schönlingen schon mal vorkommt – mit Ergebnissen, über die der charmante Franz nur sein leger getragenes Haupthaar schütteln würde. Wer zählt die Frauen, nennt die Namen, die gastlich mit ihm zusammenkamen. Und denen er bescherte, was heutige Fans lieber aus sicherer Entfernung per hochgehaltenem Pappschild fordern: „Ich will ein Kind von dir!“ Es war die Zeit, als sich Männer und Frauen noch näherkamen, ohne vorher eine notariell beglaubigte gegenseitige Einverständnis-Erklärung auszutauschen. Handschlag beziehungsweise Handkuss genügte.
Und dann die politische Freiheit, dummes Zeug reden zu dürfen, ohne gleich einen Shitstorm auszulösen und gecancelt zu werden. Unvergessen Beckenbauers Klassiker, mit dem er seine Unterstützung für eine WM in Katar untermalte: „Ich habe in ganz Katar keinen einzigen Sklaven gesehen.“ Ach, wer hätte heutzutage einen solchen spitzbübischen Satz politisch und persönlich überlebt. Unbefleckt von Farbbeuteln und ohne mediale Verbannung zur Unperson. Stattdessen kam er mit einem ironischen Lächeln auf den Lippen davon, mit dem er wohl auch die eine oder andere finanzielle Kurve genommen hat, um Deutschland eine Fußball-WM zu sichern.
Die Verkörperung einer verlorenen Zeit
Vor allem aber: Der Libero auf dem Feld. Der Meister, der 90 Minuten lang nicht ins Schwitzen kam. Er hob den Kopf, sah und flankte dorthin, wo er seine Mitspieler platziert haben wollte. Den schnellen Hoeneß, den kleinen Müller, der mit allen Körperteilen Beckenbauers Lieferungen ins Tor bugsierte. Und den Katsche Schwarzenbeck, seinen Adlatus, der ihm die Bahn von unbotmäßigen Gegnern freikämpfte. Damit der Meister den Raum und die Zeit hatte, verletzungsfrei seine Ballkunst in Bewegung zu setzen.
Es war die Zeit, als die Spieler noch ohne Leibchen auf den Platz gelassen wurden. Ohne Kilometerzähler zur anschließenden Leistungsbemessung. Als es noch erlaubt war, zu den Spielern zu sagen „Geht's raus, habt's Spaß und spielt's Fußball“, anstatt sie mit computergesteuerten Analysen auf ihre Plätze zu verweisen. Als es noch möglich war, als Spieler ohne Leibchen und als Trainer ohne Computer Weltmeister zu werden.
Kurz, als es noch möglich war, ein Libero zu sein. Ein Mensch, der nicht schwitzen musste, sondern Genie sein durfte. Ein Mensch, um den die Analysten, die Effizientiker, die Synergetiker, die Moralapostel, die Politik-Inquisiteure, die Cancelkulturbeauftragten und all die anderen Kontrolleure und Kontrolleurinnen noch keine Mauern gebaut haben.
So einer war der Libero Franz Beckenbauer, die Verkörperung einer verlorenen Zeit.
Rainer Bonhorst arbeitete als Korrespondent der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (WAZ) in London und Washington. Von 1994 bis 2009 war er Chefredakteur der Augsburger Allgemeinen-Zeitung.