Von Uwe Jochum.
In Deutschland leben rund 22,6 Millionen Katholiken und 20,7 Millionen Protestanten. Nicht ganz zehn Prozent der Katholiken besuchen die Sonntagsgottesdienste, von den Protestanten tun das nur etwa drei Prozent. Seit der Verhängung des zweiten Lockdowns finden diese Gottesdienste in vielen Diözesen (katholisch) und Landeskirchen (evangelisch) nur noch „mit Maske“ statt: Die Zelebranten ziehen mit Maske ein, und danach darf, wer Dienst am Altar leistet, vorliest oder vorsingt, während dieses Dienstes die Maske abnehmen, muss sie nach erledigtem Dienst aber sofort wieder aufsetzen; die Gemeinde hingegen betritt die Kirchen nur noch mit Maske und bleibt auch mit Maske auf den Plätzen sitzen, säuberlich auf einem Meter und fünfzig Abstand zum nächstsitzenden Mitchristen. Gesungen wird zumeist nicht mehr, jedenfalls nicht mehr von der Gemeinde. Nur noch das Vaterunser wird gemeinsam gesprochen. Mit Maske natürlich.
Die Kirchen folgen damit den Pandemiestufenplänen der Landesregierungen. Die Folgsamkeit ist dabei so groß, dass sie, wie etwa das Bistum Hildesheim, auf ihrer Website zunächst auf die Verordnungen der betreffenden Bundesländer verweisen, bevor sie das Hygienekonzept für die Gottesdienste vorstellen und nicht zuletzt auch die Regelungen zum Beheizen und Belüften der Kirchen in Coronazeiten. Natürlich haben auch im Süden unseres Landes die beiden Konfessionen die Coronalage fest im Blick und bitten in einer gemeinsamen Erklärung die Gläubigen „nachdrücklich, die neuen einschneidenden Regelungen sehr ernst zu nehmen.“
Dass das nicht heißt, angesichts der Lage eigene kreative Ideen zu entwickeln oder gar Protest und Klage gegen staatliche Maßnahmen anzumelden, die die Gottesdienste beeinträchtigen, machte kürzlich Bischof Gebhard seinen Rottenburg-Stuttgarter Schäfchen klar: Auf Bitten des katholischen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs gehe es auch der Kirche darum, „das gesamtgesellschaftliche Ziel mit ihren eigenen Entscheidungen und Verordnungen zu unterstützen“.
Dankbar für die „Freiräume, die uns geschenkt werden“
Was wie Verantwortungsethik klingt, ist bei genauerem Hinsehen allerdings nichts anderes als der Versuch einer seit einem halben Jahr auch von den Kirchen betriebenen bürokratischen Krisenbewältigung. Dabei übernehmen die Kirchen die staatlichen Vorgaben samt ihrem administrativen Kleinklein und tauschen nur das Adjektiv „staatlich“ gegen das Adjektiv „kirchlich“ aus. So etwa im Bistum Trier, wo die Website mit den Informationen zum Umgang mit dem „Corona-Virus“ (die Anführungszeichen setzt das Bistum) mit einem Eintrag aufmacht, der den schönen Titel trägt: „Informationen und Dienstanweisungen für das Bistum Trier.“
Hat man den Gläubigen aber erst einmal kirchenbürokratisch am Wickel, kann man ihm, nicht anders als der Staat, auch vorschreiben, was er nach dem Gottesdienst zu tun und zu lassen hat. Bischof Wolfgang im Bistum Görlitz hat jedenfalls kein Problem damit, seinen Schäfchen mitzuteilen, sie mögen nach dem Gottesdienst weder auf dem Kirchplatz noch vor dem Gemeindehaus verweilen. Dafür sollen sie aber dankbar sein für die „Freiräume, die uns geschenkt werden“. Gemeint ist wohl der Freiraum, dass überhaupt noch Gottesdienste stattfinden dürfen.
Nun, ich gehöre zu den Undankbaren. Ich begreife das Wesen von Kirche nicht als religiösen Bürokratismus, der dem Staat nacheifert, ihn unterstützt und dankbar für das ist, was der Staat ihm als brosamischen Freiraum lässt. Natürlich muss sich Kirche organisieren, und sie hat es von Anfang an auch getan, wie man der Apostelgeschichte im Detail entnehmen kann. Aber es ist eine Sache, das organisatorisch Notwendige zu tun, und eine ganz andere Sache, dabei das Ziel von Kirche nicht aus dem Auge zu verlieren. Dieses Ziel liegt nicht in der Horizontale der Welt, sondern in der vertikalen Richtung „nach oben“ in jene luftigen Höhen, die der aufgeklärte Zeitgenosse etwas genant „Transzendenz“ nennt, der Gläubige aber kurzerhand „Gott“.
Von den Geboten zur Würde des Menschen
Von dort her hat die Kirche ihre leitenden Prinzipien empfangen, und im Zentrum dieser Prinzipien findet sich kein Hygienekonzept und keine Dienstanweisung für Pfarrer und Gemeinde, sondern ein auf Gott orientierendes dreifältiges Gebot. Es lautet in der Fassung des Evangelisten Markus: dass es nur einen Gott gibt, den man mit ganzem Herzen, ganzer Seele, ganzem Denken und ganzer Kraft lieben soll (erstes Gebot); dass man den Nächsten lieben soll (zweites Gebot), und zwar wie sich selbst (drittes Gebot).
Diese drei Gebote sind gleichgeordnet und formieren daher ein Gebot, von dem gilt: „Größer als dieses ist kein anderes Gebot.“ (Markusevangelium, Kap. 12, Vers 29–31) Mein Verhältnis zu Gott, so folgt es aus diesem dreifältigen Gebot, ist identisch mit meinem Verhältnis zu meinem Nächsten, und dieses Verhältnis wiederum ist identisch mit meinem Verhältnis zu mir selbst. Wenn ich meinen Nächsten sehe, dann sehe ich Gott – und umgekehrt; wenn ich mich sehe, dann sehe ich Gott – und umgekehrt.
Von hier zeigt sich, dass die Frage des Maskentragens während der Gottesdienste und darüber hinaus im Alltag eine religiöse Dimension hat, die nicht als randständig abgetan werden kann, sondern ins Zentrum des Christentums führt. Und damit auch in das Zentrum dessen, was das Abendland unter wahrem Menschsein versteht: dass wir darauf angelegt sind, uns selbst und den Nächsten zu erkennen, in seinem Gesicht zu lesen und seine Individualität zu entdecken. In unseren besten Momenten zeigt sich dann das Geheimnis, dass jeder Mensch ist – ein Geheimnis, dessen Grund ein Christ als Gott benennt und ein Atheist wenigstens staunend zur Kenntnis nehmen sollte. Jedenfalls führt von diesen Grund aus eine gerade Linie zu unserem Grundgesetz, dessen erster Artikel die Würde des Menschen ins Zentrum staatlichen Handelns stellt.
Ausfall des diesjährigen Osterfestes brachte Gläubige um wichtigen Impuls
Die Vermummung der Gemeinde im Gottesdienst und der Menschen im Alltag löscht dieses Geheimnis aus. Aus den Individuen, die sich selbst im Anderen und im ganz Anderen erkennen, wird dann ebenjene uniforme Masse von ungesichtigen Maskenträgern, über die auf dem Verordnungsweg verfügt wird, innerhalb wie außerhalb der Kirche. Aus den Kindern Gottes, die keine Knechte sein sollen, sondern Erben der Freiheit und eines damit verbundenen neuen Lebens (so hat es der Apostel Paulus in seinem Brief an die Galater ausgeführt), wurden automatenhafte Zombies, die sich selbst in der Hölle ihrer medial befeuerten Ängste eingeschlossen haben. Dort in der Hölle versuchen die um sich selbst gebrachten Maskenträger erst gar nicht mehr, die Gute Nachricht (das Eu-Angelion) zu begreifen, sondern studieren unablässig die Lageberichte des Robert-Koch-Instituts.
Bis zu diesem Jahr durften die Gläubigen glauben, die Kirchen seien Orte der Hoffnung und der Auferstehung. Dafür sorgte nicht zuletzt das Kirchenjahr mit seinem Zentralereignis Ostern, an dem an Karfreitag der Tod Gottes erinnert und in der Osternacht der Sieg über den Tod gefeiert wird. Es gehört zu den religiös und kulturell noch nicht begriffenen Momenten, dass der Ausfall des diesjährigen Osterfestes das gesamte christliche Abendland (oder das, was davon noch übrig war) um seinen inneren Impuls gebracht hat.
Dieser Impuls hieß für die Nichtmehrchristen seit der Aufklärung, dass es Schlimmeres gibt als den Tod; und für die Christen hieß er, dass der Tod nicht endgültig ist. Bis zu Ostern konnten wir daher alle zusammen glauben, dass es Ziele gibt, die über uns hinausliegen und die es wert sind, sie zu verfolgen, notfalls unter Lebensgefahr. Seit Ostern aber wissen wir alle, dass diese Hoffnung kulturell entwertet und nichts wichtiger ist, als den Kampf gegen das Virus zu gewinnen und das eigene Leben zu bewahren. Ein Ziel jenseits dieses Zieles gibt es nicht mehr.
Wenn aber die Auferstehung als Ziel jenseits der puren Lebensbewahrung kulturell gelöscht wird, finden wir uns im Zustand eines permanenten Karfreitags wieder: Gott ist tot, die Kruzifixe wurden mit schwarzem Tuch verhüllt und ebenso die Altarbilder. Seither kommt kein öffentlicher Gesang mehr auf, und an die Stelle der Freude und Lebensfreude und unerwartet-hoffnungsfrohen Lebenswenden ist eine angstbesetzte Neurose getreten, die jede Faser unseres neuen Alltags durchzieht. Diese Angst- und Neurosenfaser verdichtet sich vor unserem Gesicht zu einer Maske. Hinter der Maske verborgen sind wir als Menschen gestorben, würdelos.