Orit Arfa, Gastautorin / 28.11.2023 / 06:00 / Foto: Achgut.com / 119 / Seite ausdrucken

Der „Geisel-Deal“ ist eine Niederlage für Israel

Der sogenannte „Geisel-Deal“ ist eine Kapitulation vor der Hamas, die sich Israel von außen hat aufzwingen lassen. Seitdem Netanjahu der Erpressung nachgegeben hat, statt die Hamas zu vernichten, bin ich deprimiert.

Als Bundeskanzler Scholz twitterte, dass „Israel das Richtige getan hat“, war ich davon überzeugt, dass Israel einen ungeheuren Fehler begangen hat, als es einem vorübergehenden Waffenstillstand im Austausch für entführte Israelis zustimmte. Jedes Mal, wenn ein deutscher Bundeskanzler Israel und dem jüdischen Volk mit der Moral kommt, sind wir definitiv auf dem Holzweg.

Ich mag den Begriff „Geisel-Deal“ nicht, um diese Kapitulation vor der Hamas zu kategorisieren. Es handelt sich nicht um „Geiseln“, womit normalerweise Menschen bezeichnet werden, die von Kriminellen als Druckmittel eingesetzt werden. Es handelt sich um Kinder, Männer und Frauen, die am helllichten Tag aus ihren Häusern gerissen wurden, um einen Völkermord am jüdischen Volk zu begehen. Ein „Deal“ impliziert eine Art von legitimem, gleichmäßigem Austausch in gutem Glauben.

Im Gegenzug für die Freilassung von etwa 50 entführten Israelis innerhalb von vier Tagen hat sich Israel bereit erklärt, seine Bodenoperationen einzustellen und etwa 150 minderjährige und weibliche verurteilte Terroristen freizulassen. Im Gegenzug für die Entführung unserer Kinder wird die Hamas also mit weiteren Mördern belohnt, die den nächsten 7. Oktober verüben wollen. Dieser „Austausch“ hat bereits am Freitag, dem 24. November, begonnen und wird fortgesetzt, wobei Gespräche über eine Ausweitung geführt werden. Während die Bilder von wiedervereinigten Familien uns Tränen in die Augen treiben, erleben wir eine kurze Gnade angesichts anhaltender Qualen.

Wird eine „jüdische“ Regierung ihr eigenes Volk nicht verraten?

Scholz, der nicht gerade ein Ausbund an moralischer Klarheit ist, ist zusammen mit den Amerikanern und anderen führenden Politikern der Welt froh, dass Israel der Erpressung durch die Hamas und damit auch durch den Iran nachgegeben hat. Dies bewahrt Scholz davor, Deutschlands finanziellen und diplomatischen Einfluss auf den Iran und Katar zu nutzen, um die bedingungslose Freilassung aller Geiseln sicherzustellen, was der deutschen „Staatsräson“, Israel zu schützen, besser entsprochen hätte. Indem es Israel zur Kapitulation ermutigt, kann Deutschland seine eigenen Geschäfte mit dem Iran und Katar fortsetzen.

Aber wie ich schon früher geschrieben habe, erwarte ich nicht, dass Deutschland das jüdische Volk und den Staat Israel rettet. Ich werde mich also nicht über Scholz beschweren. Israel hat eine riesige „Hasbara“-Industrie (grob übersetzt mit „PR“), die sich der Verteidigung der moralischen Position Israels gegenüber „der Welt“ widmet. Sie fragt: Warum verurteilt UN Women nicht die gewaltsame Vergewaltigung unserer Frauen, wenn ihre Beckenknochen brechen oder wenn ihnen in den Kopf geschossen wird? Warum fordert UNICEF nicht die bedingungslose Freilassung von Babys und Kleinkindern, die in einem Kerker eingesperrt sind und von denen einige gerade zu Waisen geworden sind?

Wir sind so besessen davon, dass die Antisemiten „der Welt“ aktiv werden, dass Israelis und Juden in der Diaspora der israelischen Regierung weitgehend Immunität gewährt haben. Wir vertrauen unseren israelischen Führern, weil wir denken, eine „jüdische“ Regierung würde ihr eigenes Volk nicht verraten. Ich für meinen Teil flehe „die Welt“ nicht an, sich darum zu kümmern. Im nationalen Leben und in unserem individuellen Leben können wir nur unser eigenes Verhalten wirklich kontrollieren, nicht das Verhalten anderer.

Mit blutrünstigen, völkermordenden Terroristen wird nicht verhandelt

Seitdem Israel der Erpressung nachgegeben hat, bin ich deprimiert. Davor war ich zuversichtlich, dass unsere Männer in Uniform die Hamas mit der einzigen Sprache, die arabisch-muslimische Extremisten verstehen, vollständig vernichten würden: mit brutaler Gewalt. Ich war mir sicher, dass wir auf dem Weg waren, die Sünde des „Rückzugs“ aus Gush Katif, Gaza, im Jahr 2005 zu korrigieren, der den Terroristen buchstäblich Tür und Tor öffnete, um Männer, Frauen und Kinder im Gaza-Streifen zu ermorden, zu vergewaltigen und zu plündern.

Aber Israel fährt mit seinem biblischen Muster fort, andere Götter anzubeten, die Ratschläge und Meinungen anderer Nationen zu verehren, Ehre und materielle Güter zu verehren, anstatt das, was wirklich richtig, moralisch und wahr ist. Kein Land, insbesondere Israel, kann jemals einen Krieg gewinnen, der von einem internationalen „Komitee“ von „Beratern“ geführt wird. Es muss nach moralischen Grundsätzen und Eigeninteressen handeln, und in diesem Fall gebieten moralische Grundsätze und Eigeninteressen, dass wir nicht mit blutrünstigen, völkermordenden Terroristen verhandeln.

Eigenständigkeit und die damit einhergehende Inspiration sind der einzige todsichere Weg, diesen Krieg auf wundersame Weise zu gewinnen. Hätte Israel sich dem Druck verweigert, den „Geisel-Deal“ zu besiegeln, und weitergekämpft, oder hätte es andere Länder unter Druck gesetzt, um den Iran und Katar zur Freilassung der Geiseln zu bewegen, wer weiß, welche Channukah-Wunder wir dann erlebt hätten? 

Aber es gibt einen viel persönlicheren Grund, warum ich über diesen Sieg der Hamas traurig bin. Die israelische Regierung hat ein Kopfgeld für mein jüdisches Kind ausgesetzt. Das Kopfgeld beläuft sich auf etwa drei palästinensische Terroristen. Noch nie habe ich mehr Angst um das Leben meiner Tochter gehabt. Der „Geisel-Deal“ hat einen Anreiz für die Entführung jüdischer Kinder geschaffen.

Ein Präzedenzfall, der nur zu weiteren Gemetzeln und Entführungen ermutigt

Familien von Geiseln berufen sich oft auf ein Gebot in der Thora, Gefangene freizulassen, um die großen Opfer zu rechtfertigen, die die Regierung für ihre Rückkehr bringt. In einem aufschlussreichen und kontroversen Interview mit Jonathan Pollard, dem israelisch-amerikanischen Spion, der wegen Spionage für Israel Staaten in einem amerikanischen Gefängnis saß, erfuhr ich mehr über das jüdische Recht in dieser Angelegenheit.

Er ist der Ansicht, dass das jüdische Recht es uns verbietet, einen zu hohen Preis für Gefangene zu zahlen, da dies einen Präzedenzfall schafft, der nur zu weiteren Gemetzeln und Entführungen ermutigt. Dies gilt insbesondere für den Krieg, in dem Entführer Menschen nicht nur für Lösegeld, sondern auch für die physische und psychologische Kriegsführung verschleppen.

Pollard erzählt die Geschichte von König David, der die von den Amakelitern aus der Stadt Ziklag geraubten Gefangenen, darunter auch seine beiden Ehefrauen, verfolgt. Nachdem er sich mit dem Allmächtigen beraten hatte, wusste er, dass der einzige moralische und gerechte Weg, um ihre Freilassung zu erreichen, das Schwert war. Er griff das Lager der Amalekiter an und alle Geiseln wurden schnell befreit.

„Nie wieder“ als Lippenbekenntnis

Viele meiner Freunde wollen die israelische Führung in Kriegszeiten nicht kritisieren, zumindest nicht öffentlich, schon gar nicht gegenüber Deutschland. Widerrede mag die israelische Moral schwächen, aber ich beginne zu glauben, dass dieser unangebrachte Patriotismus unsere Führer ungestraft schlechte Entscheidungen treffen lässt. Wir haben bereits gesehen, wie die Hamas gegen die Bedingungen des Abkommens verstoßen hat, indem sie Raketen auf Israel abfeuerte und die Freilassung der verschleppten Menschen verzögerte, um mehr von Israel zu verlangen. Es ist noch nicht zu spät für Israel, seinen Kurs zu ändern, aber ich bin mir nicht sicher, ob es das tun wird. Ich bin schon zu oft enttäuscht worden.

Netanjahu hofiert die Rechten, um Wahlen zu gewinnen, aber er hofiert die Linken und die Amerikaner, sobald er im Amt ist. Vor allem seit den von ihm initiierten Corona-Lockdowns glaube ich nicht, dass er unsere individuellen Freiheiten schätzt. Seine Regierung hat die Menschen ausspioniert, um sicherzustellen, dass wir uns an die Lockdown-Regeln halten, und hat dann unsere Teilnahme am israelischen Leben davon abhängig gemacht, ob wir die Pfizer-Impfung bekommen. Ich kann also nicht darauf vertrauen, dass er sich um die individuellen Schicksale von Soldaten kümmert, die alles hinter sich gelassen haben, um zu kämpfen, und nun mit angehaltenem Atem warten, bis die Hamas gedenkt, unsere geraubten Kinder zurückzugeben.

Während wir einst den physischen Sumpf Israels trockenlegten, um ein wunderschönes Land zu schaffen, müssen wir nun den Sumpf der Führung trockenlegen, die den Erfolg Israels für ihren eigenen politischen und wirtschaftlichen Gewinn und Ruhm ausgenutzt hat. Juden halten Deutschland immer gerne die Parole „Nie wieder“ vor, aber ich möchte in erster Linie Israel mit dieser Parole konfrontieren. Beide Länder geben oft nur Lippenbekenntnisse dazu ab, aber Juden sind oft naiv genug, um zu glauben, dass unser eigenes Land es wirklich ernst meint.

 

Orit Arfa, geb. in Los Angeles, lebte über 12 Jahre in Israel und schreibt regelmäßig für die Jerusalem Post, das Jewish Journal of Los Angeles und den Jewish News Service. Ihr erstes Buch, „Die Siedlerin“, behandelt die Folgen des Abzugs aus dem Gazastreifen; „Underskin“ ist eine deutsch-jüdischen Liebesgeschichte.

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Fritz Irmgardson / 28.11.2023

Liebe Frau Arfa, ich stimme Ihnen in allen Punkten zu. Auch ich finde den Geiselaustausch nicht richtig. Aber die Konsequenz wäre der Tod der meisten israelischen Geiseln. Israels Bevölkerung ist dazu aus verständlichen Gründen nicht bereit. Die Haltung “mit Terroristen verhandeln wir nicht”, muss eine Regierung erstmal durchstehen. Dafür werden ihr dann Herzlosigkeit und Rachegelüste vorgeworfen. Meines Erachtens hat sich ein Wandel in der Bevölkerung Israels vollzogen. Die Sehnsucht nach Frieden mit den Nachbarn verstellt den klaren Blick auf die Gefahren. Viele Araber gönnen den Juden weder Land noch Frieden. Bibi versucht schon, sein Land und sein Volk zu beschützen. Zumindest denke ich das, nachdem ich eine Dokumentation über sein Leben gesehen habe. Er braucht aber auch die Unterstützung seiner Landsleute gegenüber einer feindlich gesinnten Welt, die wohl zu 90 Prozent gegen Israel steht.

Dieter Kief / 28.11.2023

Orit Arfa träumt von der Zerstörung des Gegners. Das ist typisch für militärische Laien. Ich erinnere daran, dass es den USA nicht gelungen ist, das technisch weit unterlegen Nordvietnam auch nur zu besiegen.

Reinhart Max / 28.11.2023

Wären Sie ehrlich, müssten Sie ihrer Regierung bzw. Regierungen mindestens eine Teilschuld an den Toten Israelis geben. Sie wusste um das Propagandaprogramm im Gaza und hat es und lässt es weiter laufen. Die nächsten Toten sind vorprogrammiert. So hält sich Israel seinen ständigen Todfeind aufrecht, die ständige Bedrohung von außen. Oder warum wird nicht spätestens jetzt das Schulsystem im Gaza von den Israelis übernommen. Die Moscheen überprüft und radikale Prediger entfernt ? Das wäre Sinnvoller als der Sturm des Gaza, der viele neue Terroristen schafft.

Stefan Neudorfer / 28.11.2023

Schwierig, sehr schwierig! Ja, Frau Arfa hat Recht, aber andererseits ist es gut dass die Geiseln frei kommen. Ja, mich freut jede Freilassung. Aber was bedeutet das? Terroristen schlachten Menschen ab, nehmen sich ein paar Geiseln, verstecken sich feige hinter den Geiseln und der Zivilbevölkerung im Gaza! Und genau das ist das Ergebnis davon. Die Bibelstelle ist nicht falsch, sie sagt mir großer Weisheit was der logische Weg ist. Denn es ist nie gut sich von Terroristen erpressen zu lassen. Es geht nie gut aus. Viele der Terroristen die wie Bestien am 07.10 über Israel hergefallen sind, wurden durch Geiselnahmen freigepresst. Genau das passiert wieder. Ja, sehr traurig. Was tun?

George Samsonis / 28.11.2023

Sehr verehrte Frau Arfa, ich teile Ihre Meinung und verstehe es auch nicht, warum Israel den “Palästinensischen” Terroristen eine Waffenruhe gewährt hat. Wer das Buch “Vom Kriege” von Clausewitz gelesen hat weiß, dass der Feind mit allen verfügbaren Mitteln bekämpft werden muss, bis er komplett niedergeschlagen und vernichtet wurde. Die “Palästinensischen” Terroristen haben keine Skrupel, sich an Clausewitz zu halten. Mehr ist dazu nicht zu sagen

Hans-Peter Dollhopf / 28.11.2023

Da, Frau Arfa, mein Herz!

Freddy Quest / 28.11.2023

Volle Zustimmung. Mit Terroristen verhandelt man nicht und macht auch keine Deals! Diese “Palästinenser” verstehen die Sprache der Zivilisation nicht. Ihnen ist nicht zu vertrauen. Gewalt ist deren Sprache.

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